Selbert

Selbert

Elisabeth Selbert (* 22. September 1896 in Kassel; † 9. Juni 1986 ebenda) war eine deutsche Politikerin und Juristin. Sie war eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“ – die Aufnahme der Gleichberechtigung in den Grundrechteteil der bundesdeutschen Verfassung war zum Großteil ihr Verdienst.

Elisabeth Selbert auf einer bundesdeutschen Briefmarke der Dauerserie Frauen der deutschen Geschichte (1987)

Inhaltsverzeichnis

Leben

Jugend bis zur Novemberrevolution

Selbert wuchs als zweite der vier Töchter in einer christlichen Familie auf. Die für die damalige Zeit typische Erziehung, die auch Selbert genoss, ließ nicht erwarten, dass Selbert eine der herausragendsten Streiterinnen für die Gleichberechtigung werden würde. Selbert lernte sticken, stricken und nähen und hatte wenig Zeit zum Lesen. Das Mädchengymnasium war für die Familie nicht bezahlbar, und so besuchte sie ab 1912 die Kasseler Gewerbe- und Handelsschule des Frauenbildungsvereins. Ihr Ziel damals war Lehrerin zu werden. Auch dies scheiterte an finanziellen Mitteln. Selbert wurde zunächst Auslandskorrespondentin einer Import-Exportfirma.

1914, nachdem sie ihre Stelle verloren hatte, arbeitete sie als Postbeamtenanwärterin im Telegraphendienst der Reichspost. Diese Anstellung hatte sie durch den kriegsbedingten Mangel an männlichen Arbeitskräften bekommen. Hier lernte sie 1918 auch, mitten in der Novemberrevolution, ihren späteren Mann, den gelernten Buchdrucker und damaligen Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates in Niederzwehren bei Kassel, Adam Selbert, kennen. Adam Selbert förderte Elisabeth und nahm sie auf politische Veranstaltungen mit. Ende 1918 trat Selbert schließlich in die SPD ein.

Weimarer Republik

Durch Philipp Scheidemann, den späteren Reichskanzler, der damals Oberbürgermeister in Kassel war, wurde Selbert ermutigt, selbst aktiv Politik zu machen. Nach Gründung der Weimarer Republik erhielten auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht, und Elisabeth Selbert schrieb viele Artikel und sprach auf zahlreichen Veranstaltungen über die Pflicht der Frauen, sich politisch zu informieren und zu engagieren. 1919 hatte Selbert bereits erfolgreich für einen Sitz im Gemeindeparlament in Niederzwehren kandidiert und arbeitete dort im Finanzausschuss. Ihr Thema blieb jedoch die Gleichberechtigung. Im Oktober 1920 ging sie als Delegierte zur ersten Reichsfrauenkonferenz nach Kassel und kritisierte

„dass wir zwar heute die Gleichberechtigung für unsere Frauen haben, dass aber diese Gleichberechtigung immer noch eine rein papierne ist“.

Zwar war ein Jahr zuvor in der Weimarer Verfassung festgeschrieben worden, dass Männer und Frauen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte haben. Die Lebenswirklichkeit der meisten Frauen sah aber anders aus, und auch der Staat änderte hieran nicht viel.

1920 heiratete Elisabeth Adam Selbert, ein Jahr später wurde das erste Kind geboren, kurz darauf folgte ein zweites. Trotz der Doppelbelastung, Selbert arbeitete weiter im Telegrafenamt und sorgte für die Kindererziehung, fand sie weiterhin Zeit für politische Tätigkeit. Sie stellte aber fest, dass ihr die theoretischen Grundlagen fehlten und hoffte, dass

„juristische Ausbildung helfen würde, politisch effizienter wirken zu können“.

Im Selbststudium bereitete sich Selbert auf das Abitur vor, das sie 1925 an der Luisenschule in Kassel als Externe nachholte. Danach studierte sie zunächst an der Universität Marburg als einzige Frau Rechts- und Staatswissenschaften. Kurz darauf wechselte Selbert an die Universität Göttingen. Hier war sie unter den ca. 300 Studenten eine von immerhin fünf Frauen. Selbert selbst störte der Männerüberhang angeblich wenig, aber ihre Professoren schienen manchmal überfordert. Elisabeth Selbert und ihre Kommilitoninnen wurden gebeten, den Hörsaal zu verlassen, wenn der Professor über Sexualdelikte sprach. Nach nur sechs Semestern schloss sie ihr Studium mit Auszeichnungen ab. Elisabeth Selbert promovierte 1930 mit dem Thema Zerrüttung als Ehescheidungsgrund. Bereits damals kritisierte sie das Schuldprinzip, das Frauen bei der Scheidung häufig rechtlos stellte. Sie trat ein für eine „Entgiftung“ des Scheidungsprozesses und forderte ein Zerrüttungsprinzip. Sie war damit ihrer Zeit weit voraus. Ihre Vorschläge wurden erst in der Bundesrepublik Deutschland mit der Eherechtsreform von 1977 aufgegriffen und umgesetzt.

In der Reichstagswahl 1933 kandidierte Selbert auf der hessischen Landesliste für den Reichstag. Ein Einzug ins Parlament scheiterte aber wegen der Machtergreifung der Nationalsozialisten.

Zeit des Nationalsozialismus

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlor Adam Selbert seine Arbeit und wurde in „Schutzhaft“ genommen. Elisabeth Selbert legte 1934 das zweite Staatsexamen ab und stellte kurz darauf, auf Drängen ihres Mannes, den Antrag auf Zulassung zur Anwaltschaft.

Eile war geboten, denn die Nationalsozialisten versuchten, Frauen vollständig aus allen juristischen Berufen zu drängen. Der überzeugte Nationalsozialist Otto Palandt, der zuvor Präsident des Landgerichts in Kassel war, wurde Präsident des Reichsjustizprüfungsamtes und damit zuständig für die Juristenausbildung und Zulassung zu juristischen Berufen. Am 22. Juli 1934 trat die neue Justizausbildungsverordnung und am 20. Dezember 1934 das Gesetz zur Änderung der Rechtsanwaltsordnung in Kraft, das besagte, dass Frauen als Anwälte nicht mehr zugelassen waren, weil das einen „Einbruch in den altgeheiligten Grundsatz der Männlichkeit des Staates“ bedeutete. Ab 1935 wurden nur noch Anträge männlicher Bewerber auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft genehmigt.

Auch Selbert sollte zunächst abgelehnt werden, wurde aber gegen den Willen des nationalsozialistischen Präsidenten, gegen das Votum der Rechtsanwaltskammer und gegen die Entscheidung des Gauleiters und des NS-Juristenbundes am 15. Dezember 1934 am Oberlandesgericht zugelassen. Es waren zwei ältere Senatspräsidenten, die sich für Selbert einsetzten und in Vertretung für den im Urlaub befindlichen Oberlandesgerichtspräsidenten ihre Zulassung unterschrieben. So konnte Elisabeth Selbert 1934 ihre anwaltliche Praxis eröffnen. Da ihr Mann bis 1945 erwerbslos blieb, musste sie nun die Familie ernähren.

Nachkriegszeit

Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft wurde Elisabeth Selbert 1946 für die SPD in den Verfassungsberatende Landesversammlung für Groß-Hessen und 1948 dann in den Parlamentarischen Rat gewählt, der die Aufgabe hatte, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auszuarbeiten. Die ursprüngliche Formulierung für Artikel 3 stammte noch aus der Weimarer Verfassung und lautete „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“. Selbert hingegen wollte nach eigenen Aussagen die Gleichberechtigung „als imperativen Auftrag an den Gesetzgeber [...] wissen“. Es ging ihr darum, dass die Gleichberechtigung als Verfassungsgrundsatz aufgenommen wurde, so dass viele der damaligen familienrechtlichen Bestimmungen (die aus dem Jahr 1896 stammten) im Bürgerlichen Gesetzbuch ebenfalls überarbeitet werden mussten, da sie diesem Grundsatz widersprachen.

Mit Hilfe damaliger Frauenrechtsorganisationen und anderer Abgeordneter konnte Elisabeth Selbert schließlich den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ durchsetzen.

Nach der Arbeit im Parlamentarischen Rat kandidierte Selbert für den Deutschen Bundestag, verfehlte einen Sitz aber knapp. Auch eine angestrebte Nominierung als erste Richterin am Bundesverfassungsgericht scheiterte 1958, nicht zuletzt an der mangelnden Unterstützung aus den Reihen der SPD.

Ende der 50er Jahre zog sich Selbert, die in der 1, 2. und 3. Wahlperiode Mitglied des Hessischen Landtags gewesen war, aus der Politik zurück und geriet beinahe in Vergessenheit. Sie arbeitete wieder als Rechtsanwältin in ihrer auf Familienrecht spezialisierten Kanzlei. Die Kanzlei betrieb Selbert noch bis zu ihrem 85. Lebensjahr.

Seit 1983 vergibt die Hessische Landesregierung alle zwei Jahre „in Anerkennung hervorragender Leistungen für die Verankerung und Weiterentwicklung von Chancengleichheit von Frauen und Männern“ den Elisabeth-Selbert-Preis.

Auszeichnungen

Für ihre Leistungen wurde Elisabeth Selbert 1956 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1969 erhielt sie den Wappenring der Stadt Kassel und 1978 wurde ihr die Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen verliehen. 1984 wurde Elisabeth Selbert Ehrenbürgerin der Stadt Kassel. In Fulda ist die Elisabeth-Selbert-Straße nach ihr benannt.

Literatur

  • Barbara Böttger: Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Münster 1990: Westfälisches Dampfboot. ISBN 3-924550-44-1
  • Heike Drummer (Hrsg.): Elisabeth Selbert. Die große Anwältin der Gleichberechtigung. Frankfurt am Main 1999: Eichborn. ISBN 3-8218-1607-4
  • Heinrich Wilms: Dokumente zur Entstehung des Grundgesetzes 1948 und 1949. Stuttgart 2001: Kohlhammer. ISBN 3-17-016024-9
  • Giesela Notz: Frauen in der Mannschaft. Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49 bis 1957. Bonn 2003: Dietz. ISBN 3-8012-4131-9 (PDF-Dokument)

Weblinks


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