Wahlpflicht

Wahlpflicht

Die allgemeine Wahlpflicht verpflichtet die Wahlberechtigten zur Stimmabgabe bei einer Wahl, beispielsweise zu einem Parlament oder zu einem Gremium an einer Universität. Im Allgemeinen werden bei solchen Gelegenheiten Wählerlisten geführt, die eine Kontrolle der Stimmabgabe ermöglichen.

Inhaltsverzeichnis

Argumente für die Wahlpflicht

  • Die Wahlpflicht solle dem öffentlichen Desinteresse an Politik entgegenwirken. Die so genannte Politikverdrossenheit stelle demnach eine potenzielle Bedrohung für die Demokratie dar und könne in einer Regierungsinstabilität resultieren.
  • Mit einer höheren Wahlbeteiligung soll der finanzielle Aufwand für Wahlkampf-Kampagnen reduziert werden und damit auch der Einfluss derjenigen, die den Parteien durch Spenden ihre Mittel zur Verfügung stellen.
  • Zudem wird argumentiert, dass das Wählen eine demokratische Pflicht sei, vergleichbar mit der Entrichtung von Steuern, dem Wehrdienst und der Einbeziehung von Bürgern in die Rechtsprechung in einigen Staaten. Ferner ist von unterschiedlichen Seiten auch die Rede von einer moralischen Pflicht.
  • Bei einer Wahlpflicht machen sich vor den Wahlen auch viele Politikverdrossene Gedanken darüber, welche Parteien sie wählen wollen oder zumindest, welche nicht. Dadurch werde populistischen oder extremistischen Parteien entgegengewirkt, welche oft nur durch eine unzufriedene Minderheit gewählt würden.
  • Die Wahlpflicht solle verhindern, dass eine zu geringe Mehrheit aus der Bevölkerung zu viel Einfluss auf das Gesamtergebnis von Wahlen erhält. Bei einer Wahlbeteiligung von 43,2 Prozent, wie 2009 zur EU-Wahl, besteht die theoretische absolute Mehrheit (also die Hälfte der Stimmen) aus nur 21,6 Prozent aller Wahlberechtigten.

Argumente gegen die Wahlpflicht

  • Bei geheimen Wahlen ist nicht nachzuprüfen, ob ein Stimmzettel auch korrekt ausgefüllt wurde, so dass die Gefahr bestehe, dass viele Wähler ungültige Wahlzettel abgeben.
  • Einige Bürger lehnen es ab, sich den Urnengang vorschreiben zu lassen, da sie generell kein Interesse an Politik zeigen oder ihnen das Hintergrundwissen zu den Kandidaten fehlt. Andere sind zwar informiert, haben jedoch keine Präferenz für eine bestimmte kandidierende Partei. Diese teilnahmslosen Wähler wären dann gezwungen, nach dem Zufallsprinzip vorzugehen, nur um ihre Verpflichtung zu erfüllen. Im englischen Sprachraum wird dieses Phänomen als „donkey vote“ („Eselsstimme“) bezeichnet und kann Schätzungen zufolge in einem pflichtgebundenem Wahlsystem 1 % der Wahlbeteiligung ausmachen.
  • Insbesondere Libertäre sind der Ansicht, dass die Wahlpflicht einen Eingriff in den persönlichen Freiheitsbereich und damit eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstelle. Demnach sollten freie Individuen die Entscheidung, wählen zu gehen, für sich selbst treffen.
  • Einige Gruppen verweisen darauf, dass eine niedrige Wahlbeteiligung von einem weit verbreiteten generellen Unmut über die politische Führungselite eines Staates zeuge – eine Botschaft, die bei einem erzwungenen Urnengang nicht in dieser Deutlichkeit vermittelt werden kann.
  • Politikexperten geben zudem zu bedenken, dass sich der Wahlkampf im Falle einer Wahlpflicht noch stärker auf das Anwerben der unentschlossenen, wankelmütigen Wähler konzentriert als auf das Mobilisieren der Stammwählerschaft.

Staaten mit Wahlpflicht

Eine mit Sanktionen bewehrte Wahlpflicht besteht zu den Parlamentswahlen in den folgenden Staaten:

Land Strafe für Nichtwählen
Ägypten Geldstrafe, Gefängnis möglich
Australien[1] $20 beim ersten Mal, bei wiederholten Fernbleiben von der Wahl bis zu Gefängnisstrafen
Bolivien[2] Geldstrafe von 150 Bolivianos (etwa ein halber Monatslohn eines Arbeiters), auch sofortigen Einzug der Personalausweise bis zur Sperrung der Bankkonten sind möglich
Brasilien[3] Die Abgabe einer akzeptierten Begründung ist ausreichend, um ohne Strafe nichtwählen zu dürfen.

Andernfalls ist eine geringe Geldstrafe zu entrichten, jedoch muss zur Bezahlung lange angestanden werden. Beim Nichtwählen darf man: a) weder eine Arbeitsstelle als Beamter übernehmen noch eine Arbeitsstelle als Beamter beantragen b) weder einen Reisepass erlangen oder das Land verlassen (brasilianische Bürger, die sich im Ausland befinden und nicht gewählt haben, dürfen bei dem brasilianischen Konsulat einen Reisepass erlangen, jedoch wird in diesem darauf hingewiesen; beim Rückkehr ins Heimatland ist eine weitere Reise ins Ausland mit dem im Ausland erlangenen Pass nicht möglich, bis die Geldstrafe bezahlt wird). Außerdem führt ein (in Folge) dreimaliges Nichtwählen zum Verlust der Wahlberechtigung („Título eleitoral“).[4]

Chile Geldstrafe, Gefängnis möglich
Ecuador Geldstrafe
Fidschi Geldstrafe, Gefängnis möglich
Indonesien[5] verpflichtend für Muslime (haram)
Libanon (für Männer)
Libyen (für Männer)
Liechtenstein Geldstrafe
Nauru Geldstrafe
Peru[2] Geldstrafe umgerechnet ca. 40 Euro
SchweizKanton Schaffhausen[6][7] Geldbuße von drei Schweizer Franken
Singapur[8] Nichtwähler werden aus den Wählerlisten entfernt, bis sie einen Grund angeben, warum sie wieder wählen wollen
Thailand Nichtwähler werden aus den Wählerlisten entfernt[9]
Türkei Geldstrafe von ca. 130 Euro
Uruguay Geldstrafe

Eine formelle Wahlpflicht, die jedoch nicht durchgesetzt wird, besteht zu den Parlamentswahlen in den folgenden Staaten:

Land Anmerkungen
Argentinien im Alter zwischen 18 und 70 Jahren besteht Wahlpflicht; bei Abwesenheit vom Wohnort mit mehr als 500 km besteht keine Wahlpflicht; Sanktionen für Nichtwähler werden selten ausgeübt
Belgien[10] Der König und die Königin dürfen nicht wählen.
Costa Rica
El Salvador
Guatemala Militärangehörige dürfen nicht wählen
Griechenland[11] Sanktionen bei Nichtwahl 2001 abgeschafft, Wahlpflicht aber noch in der Verfassung verankert
Honduras
Indien
Italien
Luxemburg
Mexiko
Neuseeland (Eintragung in die Wählerlisten ist verpflichtend, die Wahl selbst nicht)
Paraguay Geldstrafe (verpflichtend für Staatsbürger zwischen 18. und 75. Lebensjahr, ab 75. Lebensjahr fakultativ), wird aber nicht angewandt
Philippinen
Venezuela

Beispiele

Wahlpflicht in Österreich

In Österreich gab es zwischen 1929 und 1982 eine Wahlpflicht bei der Bundespräsidentenwahl (vgl. Art. 60/1 B-VG). Seither bestand sie nur in denjenigen Bundesländern, die dies durch Landesgesetze eingeführt haben. Eingeführt wurde eine entsprechende Wahlpflicht in Kärnten, der Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Oberösterreich. In Kärnten und der Steiermark wurden diese Gesetze 1993 aufgehoben und der Vorarlberger Landtag hat in seiner Sitzung vom 28. Januar 2004 die Wahlpflicht bei Bundespräsidentenwahlen und bei Landtagswahlen aufgehoben. In Oberösterreich galt dieses Gesetz bis 1982. Der Tiroler Landtag folgte im Juni 2004 der vorarlbergerischen Entscheidung. Mit der zum 1. Juli 2007 wirksam werdenden Wahlrechtsreform wurde diese Verfassungsbestimmung gestrichen und damit die Wahlpflicht bei der Wahl zum Bundespräsidenten abgeschafft.

Von 1949 bis 1992 bestand Wahlpflicht auch bei den Nationalratswahlen (Art. 26/1 B-VG) in denjenigen Bundesländern, die dies durch Landesgesetze eingeführt hatten. In der Steiermark, Tirol und Vorarlberg wurden entsprechende Landesgesetze erlassen. 1986 verordnete diese auch Kärnten. Im Jahr 1992 wurde diese Verfassungsbestimmung aufgehoben und damit die Wahlpflicht bei Nationalratswahlen abgeschafft.

Historisch gesehen resultiert die Wahlpflicht aus der Angst der Christlichsozialen Partei vor dem 1918 eingeführten Frauenwahlrecht. Sie wollte dadurch vermeiden, dass konservative Frauen ihr Recht nicht ausüben und die für das Frauenwahlrecht eintretenden sozialdemokratischen Frauen dadurch die Mehrheitsverhältnisse verändern würden.

Wahlpflicht in Australien

In Australien geht die Einführung der Wahlpflicht ursprünglich auf die enormen Verluste während des Ersten Weltkriegs zurück. Nachdem im Krieg 60.000 Australier gefallen waren (von allen Staaten prozentual am meisten), wurden Stimmen laut, dass die Australier eine Verpflichtung hätten, die mit einem so hohen Preis erkämpfte Freiheit auch wahrzunehmen. Seit den Parlamentswahlen von 1955 mit ungefähr 88 % wurde die Wahlbeteiligung von 94 % nicht unterschritten. Bei den Senatswahlen in 2007 wurden 2,55 % ungültiger Stimmen abgegeben.[12]

Staaten, die die Wahlpflicht abgeschafft haben

Einzelnachweise

  1. Australische Wahlkommisssion, abgerufen am 30. April 2010
  2. a b Electoral-reform.org.uk: Länderbeispiele, abgerufen am 30. April 2010
  3. Timothy J. Power: Compulsory for Whom? Mandatory Voting and Electoral Participation in Brazil, 1986-2006, in: Journal of Politics in Latin America 1/2009. S. 97-122
  4. Tribunal Regional Eleitoral: O que acontece se eu não votar?. Abgerufen am 4. Oktober 2010.
  5. Hinduism Today: Indonesia Issues “Hindu” Yoga Ban for Muslims, abgerufen am 30. April 2010
  6. Schaffhauser Rechtsbuch, SHR 160.100: Gesetz über die vom Volke vorzunehmenden Abstimmungen und Wahlen sowie über die Ausübung der Volksrechte (Wahlgesetz) vom 15. März 1904, Art. 9
  7. Artikel auf swissinfo.ch: Das "Stimmwunder" am Rheinfall vom 28 November 2006
  8. Singapurische Wahlkommission, abgerufen am 30. April 2010
  9. Thailändische Verfassung Kapitel 4 Sektion 71
  10. Patrizia Robbe: Wahlpflicht. In: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Nr. 61/09 (16. Juli 2009).
  11. Daily Telegraph: Is compulsory voting a sign of political immaturity?
  12. Australian Electoral Commission: Informal Votes by State

Weblinks


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