- Abitur nach Klasse 12
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Das Abitur nach Klasse 12 (auch achtjähriges Gymnasium, kurz G8 oder Gy8) ist das Ergebnis einer Schulreform an den Gymnasien in Deutschland. Die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von bisher dreizehn auf nunmehr zwölf Jahren wurde in fast allen Bundesländern eingeführt. Lediglich in Rheinland-Pfalz bleibt es bisher bei einem Modellversuch an Ganztagsschulen, während die reguläre Schulzeit an Gymnasien bis zum Abitur weiterhin 12 ¾ Jahre dauert.
Inhaltsverzeichnis
Zweck der Reform
Als Hauptargument für die Einführung der verkürzten Schulzeit wird die zu anderen Ländern vergleichsweise lange Dauer der Schulzeit angeführt.
Für die Schüler ergibt sich nach der Umstellung auf das verkürzte Schulsystem zwar eine größere Stoffdichte, den Abiturienten soll aber ermöglicht werden, verglichen mit G9-Schülern ein Jahr früher in nichtakademische Berufsausbildung oder Studium einzusteigen und entsprechend früher wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen.
Die Wirtschaft soll auf im Durchschnitt ein Jahr jüngere Berufseinsteiger mit Abitur bzw. abgeschlossener Hochschulreife zurückgreifen können.
Gesamtgesellschaftlich bzw. gesamtwirtschaftlich betrachtet soll wegen der demografischen Alterung die Lebensarbeitszeit der in Deutschland lebenden Menschen zunehmen. Dieser Effekt soll nicht nur durch einen späteren Eintritt in die Rente, sondern auch durch einen früheren Einstieg ins Berufsleben erzielt werden.
All diese Effekte treten besonders auch dann ein, wenn die Zahl der Sitzenbleiber sich nicht durch die Verdichtung des Unterrichts erhöht und wenn die Schulabgänger zielstrebig und zügig in den Arbeitsmarkt drängen.
Geschichtlicher Hintergrund und Einführung
Das bislang neunjährige Gymnasium (Klasse 5 bis 13) wurde in der Weimarer Republik nach der obligatorischen vierjährigen Grundschule, statt der bisher meist üblichen dreijährigen Vorschule, für alle Kinder eingeführt. Es folgten nunmehr weitere neun Schuljahre bis zum Abitur. Während der Zeit der nationalsozialistischen Hitler-Diktatur wurde per Erlass vom 30. November 1936 die höhere Schulzeit auf zwölf Jahre verkürzt. Hintergrund dieser Regelung war der Wunsch, die deutsche Wehrmacht durch die dann früher zur Verfügung stehenden Offiziersanwärter erheblich aufzurüsten.[1]
Nach Kriegsende und Auflösung des deutschen Reiches hielt die neu gegründete DDR vor allem aus bildungstheoretischen, aber auch aus ideologischen Gründen am Reifezeugnis nach zwölf Klassen fest. Das Abitur konnte für wenige Schüler auf der Erweiterten Oberschule nach zwölf Jahren Schulzeit und mit Samstagsunterricht abgelegt werden (Abiturquote: 10 Prozent). Eine weitere Möglichkeit bestand in der dreijährigen Berufsausbildung mit Abitur.
Die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland kehrte zum Abitur nach 13 Jahren zurück. Im wieder errichteten Staat Österreich wurde die Matura ebenfalls nach 13 Jahren am Gymnasium abgelegt.
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, der Wiedervereinigung, führten die neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt die dreizehnte Klasse bis zum Abitur ein, da die Wochenstunden-Vorgaben der Kultusministerkonferenz nach zwölf Jahren nicht erfüllbar waren. Nur die Freistaaten Sachsen und Thüringen blieben beim Abitur nach 12 Jahren. Die anderen neuen Bundesländer schlossen sich dem im Jahr 2000 an und führten das 12jährige Abitur wieder ein. Inzwischen ist die (Wieder-)Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren in den neuen Bundesländern größtenteils abgeschlossen.[2]
Seit 2007 ist die Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren in fast allen Bundesländern zwar beschlossene Sache, aber noch nicht in allen (alten) Bundesländern umgesetzt. Aufgrund der Kulturhoheit der Länder existieren bei der zeitlichen und inhaltlichen Umsetzung des Konzepts von Land zu Land große Unterschiede.
Land Einführung beschlossen Einführung durchgeführt ehemals eingeführt Baden-Württemberg
ja bis 2012 Bayern
2011 Berlin
bis 2012 1949–200? (Ost-Berlin) Brandenburg
bis 2012 1949–200? Bremen
bis 2012 Hamburg
seit 2010 Hessen
bis 2013 Mecklenburg-Vorpommern
seit 2008 1949–2001 Niedersachsen
2011 Nordrhein-Westfalen
bis 2013 Rheinland-Pfalz
nur Modellversuch
an Ganztagsschulenbis 2016 Saarland
ja seit 2009 Sachsen
seit 1949 Sachsen-Anhalt
seit 2007 1949–2000 Schleswig-Holstein
bis 2016 Thüringen
seit 1949 Umsetzung
Im Vorfeld der Umstellung wurde gefordert, dass die kürzere Schulzeit nicht zu einer Qualitätsminderung des Abiturs führen dürfe. Die Kultusministerkonferenz (KMK) entsprach dem, indem sie die Anzahl der Wochenstunden, die für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife erforderlich sind, unverändert bei insgesamt 265 Wochenstunden beließ, diese aber statt auf 13 nunmehr auf 12 Schuljahre aufteilte. Trotz des Wegfalls eines Unterrichtsjahres werden weiterhin alle Inhalte vermittelt, die bisher die Stoffmenge für 13 Schuljahre darstellten.
Folge war eine signifikante Erhöhung der Wochenstundenzahlen für die Schüler mit verkürzter Schulzeit: Mussten Schüler des neunstufigen Gymnasiums auf neun Jahre aufgeteilt durchschnittlich 30 Wochenstunden absolvieren, müssen Schüler des achtstufigen Gymnasiums durchschnittlich 33 Stunden pro Woche belegen. Daran üben Eltern-, Lehrer- und Schülerorganisationen zum Teil heftige Kritik.[3] Den Schulen steht es dabei frei, wie sie die 265 Wochenstunden auf die Jahrgangsstufen verteilen. Um jüngeren Schülern eine zu große Stundenzahl zu ersparen, werden die Stunden oftmals so aufgeteilt, dass Schüler in den niedrigeren Jahrgangsstufen weniger und Schüler in älteren Jahrgängen mehr als 33 Wochenstunden Unterricht haben. So kommen Stundentafeln mit 20 bis 36 Wochenstunden zustande.[4]
Kritik und Kontroversen
Während der Umstellung auf G8 wurden vereinzelt Stimmen laut, die eine Streichung von Unterrichtsinhalten zu Gunsten einer geringeren Wochenstundenzahl forderten. Der Verband Bildung und Erziehung Niedersachsen wies darauf hin, dass im Fall einer Streichung ganzer Unterrichtsfächer in höheren Jahrgangsstufen diese vor allem einseitig zu Ungunsten der musischen Fächer und Religion drohe.[5] Auch eine Ausdehnung des Unterrichts auf den Samstag, wie von der Hamburger Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig vorgeschlagen und früher bis Mitte der 1970er Jahre in Westdeutschland üblich, wurde diskutiert. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bezeichnete den Samstagsunterricht als „familienfeindlichen Unsinn“.[6] Kritik wird auch bezüglich der nachmittäglichen Versorgung der Schüler geäußert: in anderen europäischen Staaten gibt es teilweise mehr Ganztagsschulen mit Mensaversorgung und mehr Förderangebote als in Deutschland.[7] In einer ersten Reaktion haben sich die Kultusminister der Länder (Kultusministerkonferenz) auf „mehr Zeit für individuelles Üben“ verständigt.[8] Kritisiert wird weiter, dass teilweise eine Straffung der Lehrpläne stattfindet, die zur Folge hat, dass Inhalte ausgedünnt werden. So soll etwa nach einem Entwurf des Kultusministeriums in Bayern die Thematik des Nationalsozialismus in der Oberstufe nur noch in sieben Schulstunden abgehandelt werden.[9]
Ausblick
2011 bis 2013 wird es in den großen Ländern doppelte Abiturjahrgänge und damit entsprechende Auswirkungen auf die Universitäten und Ausbildungsplätze geben. Während der Staat direkt Einfluss auf die zur Verfügung stehenden Studienplätze nehmen und das Angebot mit Blick auf den Doppeljahrgang ausbauen kann, ist eine entsprechende Beeinflussung des Ausbildungsmarktes in deutlich geringerem Umfang und nur mittelbar möglich.
In Hessen und Schleswig-Holstein ist eine parallele Entwicklung zur Beibehaltung der längeren Schulzeit zu verzeichnen. Es besteht künftig abhängig vom Schulstandort die Möglichkeit, die Abiturprüfungen wie bisher erst nach neun Schuljahren abzulegen. In Hessen betrifft dies nur kooperative Gesamtschulen, während in Schleswig-Holstein die Schulträger von Gymnasien, Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen entscheiden können, ob an den Schulen bzw. in den Gymnasialzweigen G8 oder G9 angeboten werden soll.[10][11]
In Nordrhein-Westfalen konnten Gymnasien Ende 2010 beantragen, im Rahmen eines Schulversuchs wieder von acht auf neun Jahre umzusteigen.[12] Den Antrag stellten bis zum Ende der Bewerbungsfrist (30. Dezember 2010) 13 der 630 Gymnasien in Nordrhein-Westfalen.[13]
Einzelnachweise
- ↑ Rolf-Dieter Müller,Hans Erich Volkmann, Die Wehrmacht, Oldenbourg-Verlag 1999, S. 447
- ↑ Spiegel Online: Im Osten nichts Neues (abgerufen am 1. April 2011)
- ↑ Spiegel Online: Diebstahl der Kindheit
- ↑ Turbo-Abi wird zur Belastung für Schüler auf Welt.de (abgerufen am 1. April 2011)
- ↑ Spiegel Online: Gymnasiasten ächzen unter der Stundenlast
- ↑ Spiegel Online: Hamburgs Schüler bleiben verschont
- ↑ Spiegel Online: Kultusminister bessern beim Turbo-Abi nach
- ↑ Süddeutsche Zeitung 2008: Kultusminister wollen Schnell-Abitur entschärfen
- ↑ Süddeutsche Zeitung 2008: Nationalsozialismus light, vom 19. Juli 2008
- ↑ Hessisches Kultusministerium räumt Gesamtschulen Wahlmöglichkeit ein auf hessen.de
- ↑ Ab 2011 Abitur wieder nach neun Jahren auf welt.de, 2. November 2009
- ↑ RP 27. November 2010: "Auf das Angebot der rot-grünen Landesregierung, am "Schulversuch" zur Wiedereinführung des Abiturs nach neun Jahren (G 9) teilzunehmen, haben die Gymnasien bislang nicht reagiert. Dies geht aus einer Antwort von NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) an den FDP-Politiker Ralf Witzel hervor."
- ↑ ruhrnachrichten.de vom 6. Januar 2011: 13 Gymnasien in NRW wollen zurück zum Abi nach neun Jahren
Weblinks
- Das achtjährige Gymnasium in Bayern
- „Umgestaltung der gymnasialen Oberstufe“ in Mecklenburg-Vorpommern
- Frontal21-Beitrag vom 2. Oktober 2007: „Schneller am Ende – Schüler ausgebrannt im Turbo-Abi“ (PDF)
- Blog des Bayerischen Rundfunks zum doppelten Abiturjahrgang
- Dossier in der ZEIT 22/2011 (Autor: Henning Sußebach)
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