- Die herrschende Klasse
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Die herrschende Klasse (italienisch Elementi di scienza politica) ist das literarische Hauptwerk des italienischen Politikwissenschaftlers Gaetano Mosca. Es gilt als bedeutendes Werk der Politiksoziologie und begründete die klassische Elitesoziologie. Mosca will mit seiner Schrift zeigen, dass jede Gesellschaft von einer Minderheit beherrscht wird und Demokratie im Sinne einer Herrschaft des Volkes prinzipiell nicht möglich ist.
Inhalt
Moscas Buch ist in 17 Kapitel untergliedert, wovon die ersten elf ein in sich geschlossenes Werk darstellen, das 1896 erstmals publiziert wurde. Hierin legt der Autor die Grundzüge seiner Gesellschaftstheorie dar, wie er sie auch schon in seinem Vorwerk, der Sulla teorica dei governi e sul governo parlamentare (1884), skizzierte. Die übrigen sechs Kapitel wurden erst 1923 mitveröffentlicht. Sie greifen die wichtigsten Aspekte der Urform nochmalig auf, ergänzen und relativieren sie insbesondere aufgrund von Moscas Erfahrung mit dem Faschismus und seiner aus dieser resultierenden Neubewertung der repräsentativen Demokratie.
Im ersten Kapitel (Die Wissenschaft von der Politik) begründet Mosca die Notwendigkeit einer politischen Wissenschaft. Die Erforschung von Herrschafts- und Sozialstrukturen erscheint insofern von großer Bedeutung, als dass das kulturelle Niveau einer Gesellschaft nicht in erster Linie auf natürliche Ursachen (wie etwa Topographie, Klima oder Rasse), sondern vielmehr auf soziale Kräfte (wie etwa Religionen, technischer Fortschritt, wirtschaftliche Organisationsformen) zurückgeführt werden kann. Um allgemeingültige Aussagen über den Zusammenhang von Herrschaft- und Sozialstruktur auf der einen Seite und kulturellem Niveau auf der anderen wissenschaftlich zu begründen, favorisiert Mosca eine historische Methode, die alle wesentlichen politischen Entwicklungen großer Zivilisationen in der Vergangenheit für eine empirische Verifikation der theoretischen Zusammenhänge heranzieht. Bei einem solchen Vorgehen darf sich ein Wissenschaftler nicht auf die Betrachtung kulturell homogener Zeitabschnitte beschränken, sondern sollte vielmehr unterschiedliche Perioden heranziehen, die eine von Kulturspezifitäten unverzerrte Bewertung politologischer Hypothesen ermöglichen.
Das zweite Kapitel (Die politische Klasse) beinhaltet den zentralen Kern von Moscas Herrschaftstheorie. Ausgehend von der Annahme, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt nur durch organisierte Herrschaft möglich ist und nur Minderheiten sich organisieren können, muss in jeder Gesellschaft eine Minderheit die Mehrheit einer Bevölkerung regieren. Die Organisationsfähigkeit dieser ‚politischen Klasse’ führt Mosca auf ihre materielle, intellektuelle und moralische Überlegenheit zurück, welche ihre Angehörigen kraft natürlicher Begabung oder Abstammung aufweisen. Politik besteht aus dem Versuch der Herrschenden, ihre Macht zu erhalten, indem sie ihren Einfluss erblich machen und dabei in Konflikt mit aufstiegswilligen Individuen aus der Masse geraten, denen der Aufstieg unter günstigen Bedingungen, etwa beim Aufkommen neuer Ideale und Interessen in der Bevölkerung, welche die Überlegenheit der bisherigen politische Klasse untergraben, gelingt. Mosca betont, dass Machtkämpfe zwar die Zusammensetzung der herrschenden Klasse ändern können, niemals jedoch zur Abschaffung der Minderheitenherrschaft führen.
In den folgenden neun Kapiteln analysiert Mosca Implikationen seiner im zweiten Abschnitt dargelegten Theorie. Im Vordergrund des dritten Kapitels (Feudale und bürokratische Systeme) stehen die Legitimation der Minderheitenherrschaft sowie die Differenzierung staatlicher Systeme.
Die moralische Überlegenheit, mit der sich die Herrschaft einer kleinen Elite gegenüber der Masse rechtfertigen lässt, wird laut Mosca durch eine politische Formel gewährleistet. Diese enthält gesellschaftlich anerkannte Lehren und Glaubenssätze, welche die Macht der gegenwärtig Regierenden jedem Mitglied der Gesellschaft gerechtfertigt erscheinen lässt und zudem der Befriedigung des psychischen Bedürfnisses der Masse nach legitimer Beherrschung dient.
Aufgrund der dichotomen Struktur jeder Gesellschaft erscheint die Einteilung von Staaten nach der Zahl der Herrschenden (wie etwa bei Aristoteles in Monarchie, Aristokratie und Demokratie) obsolet, weil diese nur die oberflächlichen Erscheinungsbilder politischer Herrschaft kategorisieren, ohne den jeder Herrschaftsform immanenten oligarchischen Kern zu berücksichtigen. Mosca schlägt daher eine Typologie in Abhängigkeit der dem jeweiligen Staat inhärenten politischen Stabilität und dem zu erwartenden kulturellen Niveau vor. Staaten, in denen die Mitglieder der politischen Klasse keine funktionale Arbeitsteilung aufweisen, sondern alle ökonomischen, juristischen, administrativen und militärischen Kompetenzen auf sich vereinigen, bezeichnet Mosca als feudal. Wegen der hohen Belastung der Herrschenden mit politischen Entscheidungen auf allen Fachgebieten zeichnen sich feudale Staaten häufig durch politische Delegation aus, die eine regionale Zersplitterung großer Reiche und konfliktreiche Sezessionsbestrebungen mächtiger Regionaleliten zur Folge haben können. Der feudale Staat ist damit politisch instabil und typisch für Phasen kulturellen Verfalls. Der gegenteilige Idealtyp ist der bürokratische Staat. Er zeichnet sich durch einen hohen Grad an funktionaler Arbeitsteilung und die Professionalisierung politischer Funktionen aus. Zudem ist die Herrschaft in einem bürokratischen Staat zentralisiert und damit zumeist stabil. Mosca betont, dass durch die Gewaltenteilung des bürokratischen Staates deren Herrschaft effektiver und weniger willkürlich ist als die des feudalen. Bürokratische Staaten sind typisch für Phasen kultureller Blüte. Ihr Verfall und der Übergang in den Feudalismus gehen meist mit einer überbordenden Bürokratisierung des Wirtschaftslebens einher, welche die ökonomischen Produktivkräfte erstickt.
Im vierten Kapitel (Politische Klasse und Kultur) rückt Mosca die Kultur ins Zentrum der Betrachtung. Mit dieser bezeichnet er die spezifischen Lebensäußerungen der Menschen, die dazu tendieren, sich unter einer gemeinsamen Herrschaft zusammenzuschließen und dabei eine politische Klasse hervorbringen. Für deren Mitglieder ist es insofern von großer Bedeutung, kulturell homogen zu bleiben, als sonst die Führer der jeweiligen Kultur versuchen, die politische Macht für sich und ihre Kultur zu monopolisieren. Entfremdet sich die politische Klasse durch soziale Isolation kulturell von der Masse, untergräbt dies die Legitimität ihrer Herrschaft, weil es den Untergebenen nicht möglich ist, sich mit der Elite kulturell zu identifizieren. Diese Entfremdung zerstört die Fähigkeit der politischen Klasse, mit Krisen umzugehen und provoziert die Bildung von Gegeneliten, die sich aus der Masse rekrutieren, ihr kulturell näherstehen und die herrschende Klasse bei der ersten Gelegenheit ersetzen.
Die Rolle der Moral für eine Gesellschaft und deren politische Klasse wird im fünften Kapitel (Der Rechtsschutz) thematisiert. Die Moral einer Gesellschaft, die ihren Ausdruck in der Qualität kodifizierter Rechtsnormen und implizit gültiger Werte findet, dient nach Mosca der Kontrolle destruktiver menschlicher Triebe und ist für ihn damit ein besonderer Ausdruck für das Zusammengehörigkeitsgefühl eines Kulturvolkes. Ihr Niveau hängt maßgeblich von der politischen Klasse ab, weil bei amoralischen Führungsschichten die Verachtung von Sitten und Gesetzen schnell auf den gesamten Staatsapparat übergreift und letztlich die gesamte Gesellschaft erfasst. Die moralische „Überlegenheit“ einer Elite bietet nämlich dann keine sinnvolle Richtgröße mehr für den sozialen Umgang und untergräbt die politische Formel. Aus dem Mangel an rechtlicher Sicherheit resultiert die Einschränkung der persönlichen Freiheit in einer Gesellschaft, wodurch die kulturelle Entwicklung gehemmt und durch die Aushöhlung der politischen Formel auch die staatliche Stabilität gefährdet wird. Die Angehörigen der politischen Klasse stehen damit in einem Zwiespalt, weil die Beachtung der gesellschaftlichen Moralcodices nicht der Anwendung notwendiger Mittel zur Machterhaltung und damit wiederum der politischen Stabilität im Wege stehen darf. Mosca betont schließlich, dass eine echte Moral auf der Trennung von weltlicher und religiöser Gewalt angewiesen ist, weil es keine unantastbaren Dogmen geben darf, welche ihre kritische Infragestellung verhindert.
Moscas Einsicht von der dichotomen Struktur jeder Gesellschaft schlägt sich im sechsten Kapitel (Das Wahlrecht und die sozialen Kräfte) in einer Kritik gegenüber der repräsentativen Demokratie nieder. Da Wahlberechtigte in einem Repräsentativsystem nicht einen beliebigen Kandidaten wählen können, sondern nur zwischen solchen selektieren dürfen, die von der eigentlich herrschenden Minderheit nominiert wurden, wird die Demokratie im Sinne einer ‚Herrschaft des Volkes’ zur Farce. Immerhin fördert die öffentliche Diskussion bei Wahlen, insbesondere bei Volksabstimmungen zu konkreten Fragen, die Kritikfähigkeit der Masse, welche allerdings durch den Einfluss professioneller Propagandisten wieder unterlaufen werden kann. Das Repräsentativsystem bietet damit mächtigen Gruppen („sozialen Kräften“) die Möglichkeit, sich durch die Nominierung von Kandidaten und Propaganda politischen Einfluss zu verschaffen. Eine besondere Gefahr sieht Mosca in der repräsentativen Demokratie, weil der Wettbewerb um Stimmen dazu führt, dass deren Kandidaten stets die Wünsche der Wähler zu erfüllen suchen und dabei unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen meiden. Die Folge wäre eine inkonsistente Politik, welche die Lösung echter Probleme ignoriert und damit die politische Stabilität aufs Spiel setzt.
Im gleichen Kapitel setzt sich Mosca mit dem Staat auseinander und differenziert dabei seinen Begriff von der politischen Klasse. Als Staat bezeichnet Mosca die Organisation der sozialen Kräfte von politischer Bedeutung. Die Beamtenschaft erscheint hierbei als funktionale Subelite im Dienste der politischen Klasse. Das kulturelle Niveau einer Gesellschaft hängt wesentlich vom intellektuellen und moralischen Niveau dieser Funktionselite ab. Allerdings darf sie sich nicht übermäßig in das Wirtschaftsleben einmischen, womit Mosca bei sonst positiver Bewertung des politischen Zentralismus jeglichen Eingriff in die Wirtschaft oder gar die Verstaatlichung der Ökonomie eines Landes strikt ablehnt. Er gesteht zwar ein, dass auch die Wirtschaftsführer Teil der Elite sind, allerdings als Resultat eines freien Wettbewerbs und damit aufgrund ökonomischer Kompetenz. Ihre Position lässt sich nicht durch ernannte Beamte ersetzen, weil diese keinen vergleichbaren Leistungsanreizen ausgesetzt sind.
Im siebten Kapitel (Kirchen, Parteien und Sekten) thematisiert Mosca die Entstehung und Struktur einer politischen Klasse. Neuen Eliten geht historisch gesehen meist eine charismatische Führerpersönlichkeit mit eigener Ideologie voraus, die ihre Überzeugung für die Masse einer Gesellschaft glaubhaft vermitteln kann. Das geistige Gedankengut und damit die politische Formel eines Ideologen kann die Herrscherelite über dessen Tod nur durch eine Schule im Sinne der Fortentwicklung eines Paradigmas erhalten, welche eine inhaltliche und sprachliche Anpassung an die jeweilige Zeit sicherstellt.
Im Anfangsstadium wächst der leitende Kern einer politischen Klasse meist durch Kooptation, weil so notwendige Kompetenzen hinzukommen, ohne die innere Stabilität der Elite zu gefährden. Bestenfalls besteht diese aus heterogenen Charakteren, die für jedes Problem Lösungskompetenzen und zu jeder Zeit einen energischen Willen zur Macht besitzen („Theorie von der Legierung edlen und unedlen Metalls“). Im Verlauf ihrer Existenz und der zunehmenden Machtmonopolisierung beschränkt sich die Elitenrekrutierung dann zunehmend auf das Kriterium der Abstammung.
Im achten Kapitel (Revolutionen) zeigt Mosca an historischen Beispielen, dass Revolutionen stets einer neuen Elite dienen, Macht zu erlangen. Zugleich besteht in revolutionären Zeiten immer die Gefahr der Anarchie, weil die Profiteure der Umwälzung kein Interesse haben, zum Frieden zurückzukehren. Eine besondere Rolle spielt bei Revolutionen in bürokratischen Staaten die funktionale Subelite: Verfügt ein Staatswesen über eine gehorsame und von der politischen Klasse administrativ unabhängig operierende Beamtenschaft, liegt für Revolutionäre ein besonderer Anreiz zum Umsturz vor, weil die wichtigsten Staatsgeschäfte zumindest kurzfristig auch im revolutionären Chaos weitergeführt würden.
Die Möglichkeit der Revolution in Zeiten moderner Armeen schränkt Mosca ein, weil diese bei strikter Führung in seinen Augen jeden Aufstand niederschlagen können. Die Rolle der stehenden Heere wird im neunten Kapitel (Die stehenden Heere) einer genauen Untersuchung unterzogen. Während in einer wirtschaftlich unterentwickelten Gesellschaft alle Männer zu Kriegern werden und in einem Feudalstaat die zentrale Instanz häufig mit Hilfe von unzuverlässigen und damit auch für sie gefährlichen Söldnerheeren Sezessionsbestrebungen zu unterdrücken versucht, ist das stehende Heer typisch für bürokratische Staaten. Das Gleichgewicht zwischen dem Staatswesen sowie der Führung des stehenden Heeres wird dadurch ermöglicht, dass die Offiziere Teil der politischen Klasse sind und Abkömmlinge der Masse nur schwer Zugang in die höheren Ränge erhalten. Deren Karrierechance beschränkt sich auch in der Armee weitgehend auf die Positionen der funktionalen Subelite (etwa Offiziere unterhalb des Generalsrangs). Zudem dient eine zielbewusste Erziehung zu patriotischer Treue diesem Gleichgewicht. Für die Kontrolle eines stehenden Heeres erscheint es schließlich notwendig, seine Teileinheiten nicht zu sehr aufzusplittern, sondern die Arbeitsteilung im Militär vielmehr zu begrenzen und seine Macht bei Mitgliedern der politischen Klasse zu konzentrieren.
Im zehnten Kapitel (Der Parlamentarismus) kritisiert und verteidigt Mosca das parlamentarische System. Dieses stellt wie jede Herrschaftsform nur das Regiment einer Elite dar, wobei die Abgeordneten Nominierte der politischen Klasse sind. Besondere Kennzeichen des Parlamentarismus sind langsame Entscheidungen, ein überproportionaler Einfluss Reicher in der Politik und die ständige Einmischung der Abgeordneten in Rechtsprechung, Verwaltung und Verteilung. Trotz all dieser Nachteile erscheint der Parlamentarismus als Regierungssystem anderen gegenüber vorziehenswürdig, weil an seine Stelle nur Formen des Absolutismus träten, die als „rein bürokratische“ Systeme alle die Zentralgewalt kontrollierenden Kräfte ausschalteten und so zu Willkür und Unfreiheit führten. Die von Mosca favorisierte Staatsform enthält eine gewählte Regierung, deren Mitglieder finanziell unabhängig sind, moralisch entscheiden und von einem unabhängigen Richterstand kontrolliert werden.
Mit dem elften Kapitel (Der Kollektivismus) schließt Mosca den älteren Teil seiner Herrschenden Klasse. Hierin kritisiert er Bestrebungen nach einer egalitären Gesellschaft, weil das politische und ökonomische Erfolgsstreben des Menschen stets zur Ungleichheit führt und damit soziale Gleichheit von vornherein ausschließt. Der Kollektivismus, welcher zur Beseitigung politischer und als Voraussetzung dafür wirtschaftlicher Ungleichheit Produktion und Verteilung verstaatlichen möchte, kann nur in einer totalitären Herrschaft der für die Zentralverwaltung zuständigen Beamten münden. Aufgrund der enormen Energie, die für eine völlige Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens bzw. für eine Organisierung der natürlicherweise nicht organisierten Masse notwendig wäre, droht durch eine kollektivistische Herrschaft neben der Diktatur weniger Beamter auch der wirtschaftliche Ruin. Mosca schließt, dass der ökonomische Untergang eines bürokratischen Staates durch Verteilungskämpfe mächtiger Gruppe wieder zu einem feudalen Staatswesen führt.
Die Grundzüge der Herrschaftstheorie werden von Mosca ab dem zwölften Kapitel (Theorie der politischen Klasse) wiederholt und ergänzt. Er unterstreicht, dass in allen Staatsformen, also auch in der Demokratie, stets eine Herrschaft Gebildeter und Besitzender besteht. Deren Einfluss wird allerdings durch das allgemeine Wahlrecht eingeschränkt, welches eine kritische Auseinandersetzung der Bevölkerung mit politischen Sachverhalten provoziert. Die politische Stärke der herrschenden Klasse hängt von ihrer Anpassungsfähigkeit an neue Begebenheiten ab, wozu auch die Rekrutierung fähiger Mitglieder aus der Masse gehört. Mosca ergänzt, dass es für das Gleichgewicht zwischen Elite und Masse wesentlich auf die Mittelschicht ankommt. In seinen Augen erscheint diese als Garant für eine friedliche Gesellschaft, weil sie nicht wie die Masse der Proletarier leicht aufzuwiegeln ist und als zuverlässige Rekrutierungsbasis für die Verwaltungsfunktionen eines Staates zur Verfügung steht.
Die Typologie der Staatsformen aus dem dritten Kapitel entwickelt Mosca im dreizehnten Kapitel (Typen der Herrschaft) weiter. Er betont darin, dass Untergebene in einem Feudalstaat zumeist den Regionalfürsten ergeben sind, womit es diesen leicht fällt, ihren Landesteil von der Zentralgewalt zu trennen. Mosca begründet zudem historisch, dass in allen Staatsformen Leistung und Herkunft als Auswahlkriterien für die Elite miteinander konkurrieren. Während die Leistungsfähigkeit das notwendige Kriterium für eine Herrschaft ist, stellt die Abstammung zumeist das von der herrschenden Klasse gewünschte Kriterium dar.
Der Übergang vom feudalen zum bürokratischen Staat bzw. der Prozess des Kulturverfalls wird von Mosca im vierzehnten Kapitel (Die Entwicklung der Herrschaftsformen) auf seine Ursachen untersucht. Aus seiner historischen Analyse, die sich primär auf das spätantike Rom bezieht, schließt Mosca, dass dem politischen Zusammenbruch ein moralischer Verfall vorausgeht. Eine Kultur „altert“, indem ihre einenden Werte und Normen verfallen und sich insbesondere die für staatliche Stabilität so wichtige Mittelschicht auflöst. Diese Entwicklung bringt populäre Führer hervor, die sich –um den Massen zu gefallen– nach deren Bedürfnissen richten und nicht nach gesellschaftlichen Notwendigkeiten. Fühlt sich die politische Klasse nicht mehr dem Gemeinwohl verpflichtet und büßt ihren inneren Zusammenhalt ein, führt ein äußerer Anstoß zum Zusammenbruch. Der Versuch, mit verstärkten Staatseingriffen ins Wirtschaftsleben den Niedergang abzuwenden, kann diesen nur beschleunigen.
Auffälligerweise misst Mosca der wirtschaftlichen Entwicklung beim Übergang vom feudalen zum bürokratischen Staat keine Rolle bei. Während umgekehrt die institutionellen Rahmenbedingungen einer Ökonomie und insbesondere eine überbordende Bürokratisierung den Verfall eines bürokratischen Staates hin zum Feudalwesen bewirken können (vergleiche drittes Kapitel), hat die wirtschaftliche Entwicklung in Moscas Augen keinen nennenswerten Einfluss auf die Entstehung eines bürokratischen Staates. Den empirischen „Beweis“ hierzu sieht er in den politischen Fortschritten Mittel- und Westeuropas (insbesondere Englands) am Ende des Mittelalters, die sich durch keine vergleichbare Veränderung ihrer wirtschaftlichen Produktionsweise auszeichnen. Diese Geschichtsanalyse richtet sich gegen die Behauptungen des historischen Materialismus von Karl Marx und dessen Überbetonung der Bedeutung wirtschaftlicher Progressionen für die Entwicklung von Gesellschaften.
Um verschiedene Formen der Elitenherrschaft zu charakterisieren, prägt Mosca im fünfzehnten Kapitel (Entstehung und Organisation der politischen Klasse) die Begriffe liberales und autokratisches Prinzip. Hierunter versteht er zwei gegensätzliche Möglichkeiten, die Machtpositionen innerhalb der politischen Klasse zuzuordnen. Nach dem liberalen Prinzip erfolgt die Zuweisung vom unteren Teil der Gesellschaft, der nicht zur politischen Klasse gehört. Bestenfalls handelt es sich dabei nach Mosca um die administrative Subelite, weil diese zum einen nicht selbst für die Herrscherpositionen kandidiert und zum anderen nicht die Gefühle der breiten Bevölkerungsmasse berücksichtigen muss, was sie für eine sachliche Wahl prädestiniert. Nach dem autokratischen Prinzip erfolgt die Vergabe der Machtpositionen durch einen Monarchen, also von der Spitze der Gesellschaft her. Historisch handelt es sich dabei meist um sehr arbeitsame und willensstarke Persönlichkeiten, die sich gegen Beeinflussungen aus der unteren Gesellschaftsschicht zu wehren verstehen.
Darüber hinaus lassen sich politische Klassen durch das Bestreben der Herrschenden, ihre Macht erblich zu machen und sich damit gegen äußere Einflüsse zu wehren sowie die Bemühung aufstiegswilliger Angehöriger der Masse, diese Barriere zu durchbrechen, kategorisieren. Den erstgenannten Trend bezeichnet Mosca als aristokratische Tendenz, den letztgenannten als demokratische Tendenz. Jedes Übermaß einer dieser Entwicklungen schwächt die politische Klasse, weil ihr bei völliger Abschottung die nötige „Blutauffrischung“ in Form der Rekrutierung begabter und machtwilliger Individuen aus der Masse fehlt und sie bei totaler Öffnung ihre politische Fähigkeit durch den Zustrom machtwilliger, aber größtenteils unfähiger Individuen verliert. Mosca sieht die Stabilität der herrschenden Klasse gesichert, wenn durch ein langsames Eindringen fähiger Elemente aus der Unterschicht in die Oberschicht deren politische Qualität erhalten oder erhöht wird („Lehre von der goldenen Mitte“). Das liberale Prinzip und die demokratische Tendenz sowie das autokratische Prinzip und die aristokratische Tendenz treten geschichtlich nachweisbar häufig gemeinsam auf, sind aber zumindest theoretisch nicht aufeinander angewiesen.
Das sechzehnte Kapitel (Herrschende Klasse und Individuum) dient Mosca als nochmaliges Plädoyer zugunsten des Individualismus und gegen den Kollektivismus und den historischen Materialismus. Insbesondere verteidigt er das Privateigentum als wichtigen Leistungsanreiz und kritisiert die Theorie von der klassenlosen Gesellschaft, in der es weder ökonomische noch politische Unterschiede gibt. Mosca sieht die einzige Möglichkeit, soziale Zustände zu verbessern, in der Regentschaft einer politischen Klasse, welche ihre Zusammensetzung und ihre politische Formel den gesellschaftlichen Umständen bestmöglich anpasst, so den Zusammenhalt in einer Gesellschaft sicherstellt und damit die Voraussetzung für ein hohes kulturelles Niveau gewährleistet. Verweigert sich eine politische Klasse der allmählichen Neuaufnahme fähiger Mitglieder aus der Masse, büßt sie die Fähigkeit, sich dem Wandel der Zeit anzupassen und damit auch ihre Legitimationsgrundlage, nämlich die politische Formel, ein.
Im abschließenden siebzehnten Kapitel (Die Zukunft des Repräsentativsystems) betont Mosca nochmalig seine ablehnende Haltung gegenüber ökonomischen Egalisierungsbestrebungen. Gerade liberale Staaten führen zu einer „natürlichen Ungleichheit“, deren Beseitigung durch staatliche Eingriffe auch die Freiheit beseitigt. Daneben erwähnt Mosca auch eine „künstliche Ungleichheit“, die aus ererbtem Reichtum, der Erziehung und der Kultur bestimmter Milieus hervorgeht und gleichermaßen nicht durch staatliche Intervention abgeschafft werden kann. Eine Sozialpolitik, welche die schlimmste Armut durch Umverteilung vermindert, ist sinnvoll, solange sie finanzierbar bleibt und die Massen weniger gewaltsam macht. Mosca erscheint das moderne Repräsentativsystem zur Verteidigung von Freiheit und Moral gegen Kommunismus und Faschismus geeignet, weil durch die Gewaltenteilung eine gegenseitige Kontrolle aller wesentlichen Kräfte eines Staates möglich wird.
Kritik
James Hans Meisel bezeichnet in seinem Buch „Der Mythus der herrschenden Klasse“ die Marx-Kritik von Gaetano Mosca als oberflächlich und „konstruiert“. Mosca versuche „… darzulegen, daß [sic!] die Klassenkampftheorie nicht richtig sein könne, weil sie, zunächst einmal, die äußeren Kriege nicht erkläre.“ (Meisel, S. 301) Diese Ansicht erscheint laut Meisel unglaubwürdig, weil kein Marxist behauptet, alle Konflikte der Menschheit seien auf Klassenkämpfe zurückzuführen. Mosca missverstehe den marxistischen Klassenkampf als eine Auseinandersetzung zwischen arm und reich und komme durch seine historischen Interpretationen zu dem Fehlurteil, klassenweise Aktionen der Masse gäbe es gar nicht bzw. wenn es sie gäbe, wären sie für die Geschichte ohne Bedeutung.
Darüber hinaus kritisiert Meisel Moscas Analyse des historischen Materialismus. Während Mosca davon ausgeht, Marx verträte den Standpunkt, jede Entwicklung sei auf ökonomische Ursachen zurückzuführen, spielen sozioökonomische Aspekte in der marxistischen Theorie zwar tatsächlich die wichtigste Rolle der Geschichte, nicht jedoch einzige. Der historische Materialismus impliziert, dass die ökonomische Entwicklung jede andere gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst, nicht jedoch, dass jede gesellschaftliche Entwicklung durch eine ökonomische begründet wird. Ändert sich die Produktionsweise einer Volkswirtschaft nicht, können sich andere gesellschaftliche Bereiche (etwa die Politik) sehr wohl verändern. Wirtschaftliche Entwicklungen sind anderen gegenüber lediglich dominant, nicht aber konstitutiv. Daher schlägt Moscas Versuch, den historischen Materialismus mit Hilfe historischer Beispiele zu widerlegen, die sich durch politische Verwerfungen ohne gleichzeitige ökonomische Veränderungen auszeichnen, fehl. (Meisel, S. 298–305)
Literatur
- Albertoni, Ettore A. (1987): Mosca and the Theory of Elitism, Basil Blackwell, Oxford.
- James Hans Meisel (1962): Der Mythus der herrschenden Klasse – Gaetano Mosca und die Elite, Econ-Verlag GmbH, Düsseldorf, Wien.
- Gaetano Mosca (1884): Sulla teorica dei governi e sul governo parlamentare – studi storici e sociali, Palermo.
- Gaetano Mosca (1950): Die herrschende Klasse – Grundlagen der politischen Wissenschaft, Leo Lehnen Verlag GmbH, München.
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