Deutsche Volksliste

Deutsche Volksliste

Die Deutsche Volksliste (DVL) teilte die Bevölkerung in den vom Deutschen Reich im Zweiten Weltkrieg annektierten Teilen Polens in Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Rechten. Wer in die Deutsche Volksliste aufgenommen wurde, erhielt je nach Einstufung in eine von vier Gruppen die deutsche Staatsangehörigkeit bzw. ein späteres Anrecht auf sie. In oft diskriminierenden Verfahren wurden bei Anträgen auf Eintrag in die Deutsche Volksliste vor allem das politische Verhalten vor dem deutschen Angriff auf Polen und die ethnische Abstammung überprüft. Das Verfahren wurde in ähnlicher Form auch bald auf das Reichskommissariat Ukraine und auf Nordfrankreich ausgeweitet.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Durch die Aufteilung Polens Ende des 18ten Jahrhunderts zwischen Russland, Preußen und Österreich wurden ethnische Polen Staatsbürger dieser Länder. Die westlichen und südlichen Teile des ehemaligen Polens waren mit unterschiedlichem Anteil von ethnisch Deutschen besiedelt. 1918 erhielt Polen seine staatliche Souveränität zurück. Deutsche Staatsangehörige (in zuvor deutschen Regionen wie z.B. die Provinzen Westpreußen und Posen) auf dem Gebiet des wiedererrichteten polnischen Staates konnten zwischen deutscher oder polnischer Staatsangehörigkeit wählen. Eine Entscheidung für die deutsche Staatsangehörigkeit bedeutete in der Regel den Wegzug aus Polen.

Einbürgerungsverfahren und Selektionskriterien

Die DVL wurde am 28. Oktober 1939 zunächst in dem von den deutschen Besatzern auf polnischem Territorium eingerichteten „Reichsgau Posen“, dem späteren Wartheland, durch eine Verordnung des dortigen Reichsstatthalters Arthur Greiser gegründet. Auf Grund der Anordnung des Reichsführer-SS Heinrich Himmler als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums vom 12. September 1940 erschien die „Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. März 1941“ im Reichsgesetzblatt I, S.118. Sie wurde von der Publikationsstelle Berlin-Dahlem unter Albert Brackmann verwaltet und im Zusammenhang mit der Ausarbeitung des Generalplans Ost ausführlich dargestellt.[1]

DVL-Gründungsdokument

Die „als Deutsche Brauchbaren“ der Bevölkerung wurden durch die DVL in folgende vier Abteilungen eingeteilt:

  • Volksliste 1: sog. Bekenntnisdeutsche, die sich vor dem Krieg für das „deutsche Volkstum“ eingesetzt hatten, also etwa in Organisationen der deutschen Minderheiten organisiert waren – und zwar unabhängig davon, ob sie eine ‚deutsche Abstammung‘ nachweisen konnten.
  • Volksliste 2: Menschen, die zwar nicht Mitglieder in den Organisationen der deutschen Minderheiten gewesen waren, aber an deutscher Sprache und Kultur festgehalten hatten. Während die Angehörige der Abteilung 1 sofort der NSDAP beitreten konnten und auch tatsächlich den Kern der Partei in den annektierten Gebieten bildeten, konnten sich die Mitglieder der Abteilung 2 zunächst lediglich als Anwärter auf eine Parteimitgliedschaft registrieren lassen.
  • Volksliste 3: entweder sog. Stammesdeutsche, also Menschen, die angeblich ‚deutscher Abstammung‘ waren, obwohl sie in der Regel nicht mehr Deutsch sprachen, oder aber Angehörige der sog. Zwischenschicht, also Kaschuben, Masuren, Schlonsaken, soweit sie nicht Mitglieder in polnischen politischen Organisationen waren. Sie bekamen die „deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf“.[2]
  • Volksliste 4: sog. Renegaten, d. h. Menschen, die nach Auffassung der deutschen Zivilverwaltung ‚deutscher Abstammung‘ waren, die aber „ins Polentum abgeglitten waren“, d. h. sich selbst als Polen betrachteten. Sie erhielten die „Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf“ und waren von der Wehrpflicht ausgenommen.

Für alle galt deutsches Recht, aber jede Abteilung erhielt abgestufte Rechte und Privilegien, erkennbar an Ausweisen in unterschiedlichen Farben (Abteilung 1 und 2: blau, Abteilung 3 grün, Abteilung 4 rot). Am 4. März 1941 wurde die DVL auf alle annektierten westpolnischen Gebiete (also Danzig-Westpreußen, Ostoberschlesien und Teile Ostpreußens) ausgeweitet. Ungefähr zu dem gleichen Zeitpunkt, Mitte März 1941, musste die Vertreibung von Polen aus diesen Gebieten in das Generalgouvernement wegen der Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion vorübergehend und schließlich bald ganz eingestellt werden. Im Wartheland wurden die Selektionskriterien bis zur deutschen Niederlage verhältnismäßig restriktiv gehandhabt. Nur ein relativ geringer Anteil von ca. 10 % der einheimischen Bevölkerung sollte dort in die Deutsche Volksliste aufgenommen werden. Die DVL des Warthelandes von 1939 hatte trotz anders lautender Beteuerungen nicht die Funktion, Nicht-Deutsche für das „deutsche Volkstum“ zu gewinnen. Sie sollte im Gegenteil ethnische Polen und solche ethnischen Deutschen ausgrenzen, die sich nicht zur nationalsozialistischen Interpretation des „Deutschtums“ bekennen wollten.Vor allem in den Provinzen Danzig-Westpreußen und Oberschlesien stellte sich die Situation völlig anders dar. Dort wurden jeweils ca. 60 % der einheimischen Bevölkerung eingetragen, die überwiegende Mehrheit in die Abteilung 3. Kriegsbedingt bestand ein großer Bedarf an Arbeitskräften, und es wurde nun in diesen Gebieten ein wesentlich größerer Teil der Bevölkerung in die privilegierten Abteilungen der Liste aufgenommen und zu Deutschen gemacht. Diese Volksliste von 1941 sollte es auch ermöglichen, aus der polnischen Bevölkerung Soldaten für die Wehrmacht zu gewinnen. Zur Kollaboration bereite ethnische Polen und auch Angehörige anderer Volksgruppen wurden in die Volksliste aufgenommen. Etwa 200.000 wurden an die Front geschickt.

Die Einteilung in die verschiedenen „Abteilungen“ der DVL hatte umfangreiche Folgen in allen Bereichen des Lebens, von der Lebensmittelration über die Gesundheitsversorgung bis zur Bildung. Je ungünstiger die Eingruppierung, desto schwieriger die u. a. kriegsbedingte (Über-)Lebenssituation. Wer nicht in eine der vier Abteilungen eingetragen war, hatte den Status recht- und staatenloser „Schutzangehöriger des Deutschen Reiches“ und musste mit brutalen Repressalien rechnen. Er lief Gefahr, ins Generalgouvernement deportiert zu werden. Rechtlos vegetierten sie mit Hungerrationen dahin.

In der Regel wurden die Antragsteller nicht einer „rassischen Musterung“ unterzogen. Zwar drängte Himmler auf eine solche rassistische Selektion, konnte sich jedoch nicht gegen die jeweiligen Reichsstatthalter und Gauleiter durchsetzen. Allein im Wartheland stimmte der dortige Reichsstatthalter und Gauleiter Arthur Greiser einer rassistischen Selektion des größten Teils der Personen in den Abteilungen 3 und 4 zu, sodass etwa 60.000 Menschen durch die sogenannten Eignungsprüfer des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS „gemustert“ wurden. Im Gegensatz hierzu ließ in Oberschlesien der dortige Oberpräsident und Gauleiter Fritz Bracht lediglich die Selektion der ca. 50.000 Personen in Abteilung 4 zu, während der Reichsstatthalter und Gauleiter Albert Forster in Danzig-Westpreußen die Selektionen gänzlich untersagte. Da jedoch die Deportationen in das Generalgouvernement kriegsbedingt eingestellt worden waren, wurden vermutlich nur sehr wenige der Personen, bei denen das Rasse- und Siedlungshauptamt auf die Wertungsgruppe IV oder IVf erkannt hatte, aus der Deutschen Volksliste entfernt oder hatten sonstige daraus resultierende Nachteile zu erleiden.

Gebiet Gesamtbevölkerung deutsche Bevölkerung 1939 in die Deutsche Volksliste eingetragen polnische Schutzangehörige
Ostoberschlesien 2.450 100 1.477 973
Wartheland 4.400 325 512,5 3.887,5
Danzig-Westpreußen 1.650 243 976 674
Zichenau/Sudauen 1.000 46,5 920

Stand 1944, Zahlen jeweils in 1000, Volksliste alle Abteilungen Abt.I bis Abt. IV

Die Tabelle zeigt, dass eine große Zahl von Menschen „eingedeutscht“ worden ist, die bis 1939 polnische Staatsbürger waren. Dies geschah zwar manchmal freiwillig, öfter aber unter Zwang und unter Androhung von KZ-Haft oder der Wegnahme der Kinder. In einem der Nürnberger Prozesse, dem Prozess Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, der von einem amerikanischen Militärgericht 1947–48 geführt wurde, wurde dieses System der gestaffelten Einbürgerung fremder Staatsbürger über die Deutsche Volksliste als Verbrechen geahndet.

Folgen nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Nach dem Krieg bewertete die Volksrepublik Polen Menschen, die in die „DVL“ eingetragen waren, zunächst pauschal als „faschistisch-hitleristische“ Kollaborateure. Das hatte oft Repressalien zur Folge (etwa Lagerhaft oder gar Vertreibung). Zwar gab es unter den „Eingedeutschten“ tatsächlich Kollaborateure und Menschen, die die Politik der Nationalsozialisten mit Überzeugung vertreten hatten. Ab der zweiten Jahreshälfte 1945 setzte sich in den Reihen polnischer Politiker allerdings die Auffassung durch, dass zahlreiche DVL-Angehörige der Gruppen III und IV, insbesondere in Oberschlesien, nicht freiwillig, sondern zwangsweise eingeschrieben worden waren. Das Gleiche galt für Danzig-Westpreußen.

Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland erhielten diejenigen, die auf der DVL eingetragen waren, und deren Abkömmlinge das Privileg, als Aussiedler in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme zu finden. Bundesdeutsche Gerichte benutzten dabei die Einstufungen der Nationalsozialisten als Grundlage bei Streitigkeiten über die Frage, ob jemand als „deutscher Volkszugehöriger“ im Sinne des Art. 116 GG gelten müsse.[3]

Siehe auch

Literatur

  • Wolfgang Bleyer, Elisabeth Brachmann-Teubner, Gerhard Hass, Helma Kaden, Manfred Kuhnt, Norbert Müller, Ludwig Nestler, Fritz Petrick, Werner Röhr, Wolfgang Schumann, Martin Seckendorf (Hrsg.-Kollegium): Nacht über Europa. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus 1938–1945. Achtbändige Dokumenten-Edition, Bd. 2: Die faschistische Okkupationspolitik in Polen 1939–1945, Köln 1989, ISBN 3-891-44292-0, ebd. 1992, ISBN 3-7609-1260-5. Lizenz von Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1989 (hier unter dem Reihentitel Europa unter dem Hakenkreuz!) ISBN 3-326-00294-7.
  • Manfred Raether: Polens deutsche Vergangenheit. Schöneck 2004, ISBN 3-00-012451-9 (aktualisierte Neuausgabe als E-Buch verfügbar).
  • ohne Verf., Sigel hb., das ist Heinz Brandt: Volle Staatsbürgerrechte. in Zs. Kreuzburger Heimatnachrichten, Feldpostzeitung der NSDAP Kreisleitung Kreuzburg OS, Februar 1944, S. 15.

Weblinks

Anmerkungen

  1. „Volkspolitische Voraussetzungen der Deutschen Volksliste“
  2. zur Praxis der Germanisierung und den Kriterien, ob man in Oberschlesien in Gr. 3 nach einiger Zeit Deutscher wurde oder nicht, ist instruktiv Heinz Brandt 1944, siehe Lit.- Brandt war auch Autor eines NS-Propagandabuchs: Oberschlesien, Großdeutschlands jüngster Gau. Junker & Dünnhaupt, Berlin 1942. Brandt nannte sich offiziell „Gaupresseamtsleiter“.
  3. Als SS-Braut ungeeignet. Der Spiegel, Nr. 43/1989, 23. Oktober 1989.

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