Falada

Falada

Die Gänsemagd ist ein Märchen (Typ 533 nach Aarne und Thompson). Es ist in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm seit 1815 an Stelle 89 enthalten (KHM 89).

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Eine Königin, deren Mann vor langem gestorben ist, schickt ihre einzige geliebte Tochter weit fort zur Hochzeit mit einem Königssohn. Sie gibt ihr eine Magd mit, ein sprechendes Pferd namens Falada und ein Tuch mit drei Tropfen von ihrem Blut. Die Tochter verliert unterwegs das Tuch mit den Blutstropfen, als sie sich über einen Bach lehnt, weil die Magd sich weigert ihr mit dem Becher zu trinken zu bringen. Darauf zwingt die Magd sie, Pferde und Kleider zu tauschen und zu schwören, darüber zu schweigen.

Als sie in vertauschten Rollen beim Schloss ankommen, schickt der alte König die Königstochter mit einem kleinen Jungen namens Kürdchen (Konrädchen) Gänse hüten. Dem Pferd Fallada lässt die falsche Braut den Kopf abhacken, aber auf Bitten der Königstochter hängt der Schlachter den Kopf unter das Tor, durch das sie und Kürdchen täglich mit den Gänsen gehen. Kürdchen beschwert sich bald beim König, weil die Königstochter jeden Morgen mit dem Pferdekopf spricht und mit einem Spruch ihm vom Wind die Mütze vom Kopf wehen lässt, bis sie sich frisiert hat. Der König beobachtet sie am folgenden Tag. Als sie sich mit Hinweis auf den Schwur weigert, ihr Verhalten zu erklären, lässt er sie dem Ofen ihr Leid klagen und belauscht sie dabei. Der Königssohn erfährt die Wahrheit. Die falsche Braut lässt der König unwissentlich ihr eigenes Urteil sprechen, wonach sie in einem mit Nägeln beschlagenen Fass zu Tode geschleift wird.

Stilistische Besonderheiten

Übernatürlich erscheinen in diesem Märchen zuerst die drei sprechenden Blutstropfen und dann der sprechende Pferdekopf, worauf die Königstochter selbst mit einem Spruch magischen Einfluss auf den Wind entfaltet. Die Blutstropfen sprechen nur zweimal: "Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen", bevor sie ins Wasser fallen. Die beiden anderen Formeln werden je dreimal wiederholt:

"O du Falada, da du hangest"
"O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät ihr zerspringen."

Die Anrede mit "O du" und der Reim mit dem dunklen 'a' verleihen den ersten zwei Zeilen ihren würdig-schwermütigen Charakter. In den beiden übrigen Zeilen spricht Fallada wie die Blutstropfen, aber es fehlt der Zusatz "im Leibe". Das Windgedicht danach klingt flott und hell:

"Weh, weh, Windchen,
nimm Kürdchen sein Hütchen,
und laß'n sich mit jagen,
bis ich mich geflochten und geschnatzt,
und wieder aufgesatzt."

Erst bei ihrer Klage im Ofen schließt die Prinzessin diesmal selbst mit dem Text der Blutstropfen: "Wenn das meine Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät ihr zerspringen." (ab 1843, siehe auch KHM 6, 56, 166)[1]

Interpretation

Der Text weist sich klar als Märchen aus, indem magische Vorgänge wie selbstverständlich geschildert werden, ohne jegliche Verwunderung bei den Beteiligten. Wie in vielen Märchen muss die Heldin eine Prüfung ihrer Standhaftigkeit und Duldsamkeit bestehen (Aschenputtel, Die zwölf Brüder, Jorinde und Joringel uva.). Das gelingt ihr durch Festhalten an ihrer verletzten Heimatbindung, wofür der abgeschlagene Kopf des Pferdes und das Blut der Mutter als Pars pro toto stehen.

Die Geschichte wird als Entwicklungsmärchen verstanden. Trotz ihrer Würde fehlt es der Prinzessin an Stärke, im Kontrast zur selbstsüchtigen und skrupellosen Zofe. Der Konflikt beginnt und endet jeweils weinend zuerst am Bach mit den (flüssigen) Blutstropfen der Mutter und dann im (harten) Eisenofen des Schwiegervaters. Beide Symbole drücken Herzenswärme aus, bei gleichzeitigem Gegensatz zwischen den Elementen Wasser und Feuer.

Dazwischen kommt in dem hochgehängten Pferdekopf, der Haarpflege und dem Wind eine Kopflastigkeit und Kühle zum Ausdruck. Wie zuvor der Fluss, so deutet auch das Tor einen Übergang an. Diesen Weg mit den Gänsen hat ihr der Schwiegervater aufgetragen (vgl. Die Gänsehirtin am Brunnen), während anfangs die Mutter der vaterlos Aufgewachsenen dominiert. Zu diesem Gegensatz passt auch die harte Strafe der von der Mutter geduldeten Zofe.

Nach tiefenpsychologischer Deutung Hedwig von Beits drückt sich in den goldenen Haaren das Licht des Bewusstseins aus (vgl. Der Eisenhans), eingerahmt vom noch verspielten Hirtenknaben und dem Vater-Imago des alten Königs. Das Pferd ist ein Bild der Großen Mutter, die auf dem Weg zum Bewusstsein zunehmend in die gegensätzlichen Frauen zerfällt. Der rot-weiße Blutlappen als physische Vorstufe des die Gegensätze vereinenden Selbst gewährleistet sowohl Rückverbindung als auch Orientierung. Auf seinen Verlust angesichts des Lebensdurstes folgen Passivität und Umwertung (Pferde- und Kleidertausch). Drei ist auch die Zahl der Initiative. Das Märchen hat wie viele drei Abschnitte, mit einem vierten als Ende. [2] Andere Autoren finden die ambivalente Deutung der Mutter hier übertrieben, weil keine symbolische Verbindung zur Magd besteht und der Pferdetausch eher den Übergang des Bräutigams parallelisiert.[3]

Herkunft und Verbreitung

Das Märchen ist durch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm bekannt, wo es ab dem zweiten Teil der Erstauflage 1815 (da Nr. 3) an Stelle 89 enthalten ist. Seitdem wurden nur geringfügige Änderungen am Wortlaut vorgenommen. Jacob Grimm folgte nach eigenen Angaben einer von ihm aufgezeichneten mündlichen Erzählung von Dorothea Viehmann, einer Gastwirtstochter aus einer Hugenottenfamilie in Zwehren (in Hessen, bei Kassel). Die Grimms versuchten wie immer Elemente des Märchens, speziell was die Rolle des Pferdes betrifft, mit altgermanischer Mythologie in Verbindung zu bringen (siehe auch KHM 126 Ferenand getrü und Ferenand ungetrü). So heißt das Pferd im Rolandslied Veillantif (Valentich, Valentin, Velentin), das von Willehalm Volatin (Valatin, Valantin).[4]

Hans-Jörg Uther findet als Vorläufer die französische Bertasage und Le doje pizzelle aus Giambattista Basiles Pentameron.[5] Laut Lutz Röhrich galt das Pferd im Volksglauben als geistersichtig.[6] Er findet auch Beispiele für die Bedeutung der Blutstropfen. In KHM 56 Der liebste Roland antworten sie anstelle der getöteten Tochter. In französischen Volksversionen warnt eine Stimme das Rotkäppchen, als es das Blut der Großmutter trinken soll: Du trinkst mein Blut. Auch in KHM 88 Das singende springende Löweneckerchen führen Blutstropfen zu einem jenseitigen Angehörigen. Im 1. Buch Mose 4, 10 spricht Gott zu Kain: Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Redensarten von der Stimme des Blutes oder den Banden des Blutes existieren bis heute. [7]

Stony Brook und Ruth Bottigheimer von der Enzyklopädie des Märchens finden viele mündliche Varianten des Märchens fast weltweit. Offenbar bleibt der rote Faden auch bei Vermischung mit anderen recht stabil. Statt des im deutschen Sprachraum häufigen Pferdekopfs können andere Tiere (Esel, Hund, Vögel) vorkommen. Die Blutstropfen können durch Tränen oder Goldhaare der Mutter, eine Brosche, ein Tuch oder einen Goldapfel ersetzt sein. Seltener ist die Heiratsreise als Familienbesuch o.ä. abgewandelt. [8] Ähnliche Märchen sind die vom guten und vom schlechten Mädchen (KHM 11 Brüderchen und Schwesterchen, KHM 13 Die drei Männlein im Walde, KHM 135 Die weiße und die schwarze Braut). Die falsche Rivalin erscheint ferner in verschiedenen Märchen gegen Schluss (KHM 21, 65, 88, 113, 126, 127, 186, 193).

Wirkung

Heinrich Heine wurde durch das Märchen, das ihm als Kind von seiner Amme erzählt wurde, zu dem Roman Deutschland. Ein Wintermärchen (Kaput XIV) und zu dem Gedicht Die Lore-Ley inspiriert.[9] Der Schriftsteller Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen wählte seinen Künstlernamen Hans Fallada nach Hans im Glück und dem Pferd aus Die Gänsemagd. Die Gänsemagd kommt auch im zweiten Band des Mangas Ludwig Revolution von Kaori Yuki vor (Japan, 2007).

Verfilmungen

Literatur

Primärliteratur

  • Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. S. 443-453. 19. Auflage, Artemis & Winkler Verlag, Patmos Verlag, Düsseldorf und Zürich 1999, ISBN 3-538-06943-3)
  • Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Reclam-Verlag, Stuttgart 1994. S. 168-170, S. 481., ISBN 3-15-003193-1)

Sekundärliteratur

  • Brook, Stony und Bottigheimer, Ruth: Pferdekopf: Der sprechende Pferdekopf. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 10. S. 937-941. Berlin, New York, 2002.
  • Henkel, Nikolaus: Eidechse. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 3. S. 1152. Berlin, New York, 1979.
  • Moser-Ruth, Elfriede: Eideslist. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 3. S. 1155. Berlin, New York, 1979.
  • Alvey, Gerald: Eisen. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 3. S. 1294-1300. Berlin, New York, 1979.
  • Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. Wiesbaden, zweite erweiterte Auflage 1964. S. 66, 82.
  • Rusch-Feja, Diann: The Portrayal of the Maturation Process of Girl Figures in Selected Tales of the Brothers Grimm. Frankfurt am Main 1995. S. 102-118. (Europäischer Verlag der Wissenschaften; ISBN 3-631-47837-2)
  • Bluhm, Lothar und Rölleke, Heinz: "Redensarten des Volks, auf die ich immer horche". Märchen - Sprichwort - Redensart. Zur volkspoetischen Ausgestaltung der Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Neue Ausgabe, Stuttgart/Leipzig 1997. S. 107-108. (S. Hirzel Verlag; ISBN 3-7776-0733-9)
  • Wilkes, Johannes: Der Einfluß von Märchen auf Leben und Werk Heinrich Heines. Eine Untersuchung anläßlich des 200sten Geburtstages des Dichters. In: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege. Februar 1997. S. 9-12. (ISSN 0946-1140)
  • Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Entstehung - Wirkung - Interpretation. Berlin 2008, S. 203-206. (Walter de Gruyter; ISBN 978-3-11-019441-8)

Deutungen

  • von Beit, Hedwig: Symbolik des Märchens. S. 778-789. Bern, 1952. (A. Francke AG, Verlag)
  • Kast, Verena: Wege aus Angst und Symbiose. Märchen psychologisch gedeutet. 1. Auflage. München 1987. S. 37-61. (Walter-Verlag; ISBN 3-530-42100-6)
  • Lenz, Friedel: Bildsprache der Märchen. 8. Auflage. S. 133-145. Stuttgart, 1997. (Verlag Freies Geistesleben und Urachhaus GmbH; ISBN 3-87838-148-4)
  • Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Deutsch von Liselotte Mickel und Brigitte Weitbrecht. 3. Auflage, München 1980. S. 157-165. (dtv; ISBN 3-423-01481-4; amerikanische Originalausgabe: 'The Uses of Enchantment', 1975)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Bluhm, Lothar und Rölleke, Heinz: "Redensarten des Volks, auf die ich immer horche". Märchen - Sprichwort - Redensart. Zur volkspoetischen Ausgestaltung der Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Neue Ausgabe, Stuttgart/Leipzig 1997. S. 107-108. (S. Hirzel Verlag; ISBN 3-7776-0733-9)
  2. von Beit, Hedwig: Symbolik des Märchens. S. 778-789. Bern, 1952. (A. Francke AG, Verlag)
  3. Rusch-Feja, Diann: The Portrayal of the Maturation Process of Girl Figures in Selected Tales of the Brothers Grimm. Frankfurt am Main 1995. S. 107-108. (Europäischer Verlag der Wissenschaften; ISBN 3-631-47837-2)
  4. Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994. S. 168-170, S. 481. (Reclam-Verlag; ISBN 3-15-003193-1)
  5. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Entstehung - Wirkung - Interpretation. Berlin 2008. S. 204. (Walter de Gruyter; ISBN 978-3-11-019441-8)
  6. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. Wiesbaden, zweite erweiterte Auflage 1964. S. 82.
  7. Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. Wiesbaden, zweite erweiterte Auflage 1964. S. 66.
  8. Brook, Stony und Bottigheimer, Ruth: Pferdekopf: Der sprechende Pferdekopf. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 10. S. 937-941. Berlin, New York, 2002.
  9. Wilkes, Johannes: Der Einfluß von Märchen auf Leben und Werk Heinrich Heines. Eine Untersuchung anläßlich des 200sten Geburtstages des Dichters. In: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege. Februar 1997. S. 9-12. (ISSN 0946-1140)

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