Liberale Bewegungen im Islam

Liberale Bewegungen im Islam

Liberale Bewegungen im Islam bezeichnen Strömungen in denen Muslime liberale und vom orthodoxen Islam abweichende Gedanken innerhalb des Islam entwickeln (im Arabischen: ‏الإسلام الاجتهادي‎ oder "auf Interpretation beruhender Islam"; auch ‏الإسلام التقدمي‎, "fortschrittlicher Islam"). Die Bewegungen umfassen unter anderem eine Neuinterpretation des Korans bzw. der Exegese des Korans, Kritik an überkommenen Glaubensvorstellungen und teilweise eine Ablehnung der Hadith. Es existieren zahlreiche muslimische Organisationen, die sich selbst als liberale oder "progressive" Muslime bezeichnen. In Deutschland vertritt insbesondere der Liberal-Islamische Bund die liberalen Muslime, in der Türkei neben anderen muslimischen Wissenschaftlern der Theologe und Religionsphilosoph Yaşar Nuri Öztürk.

Inhaltsverzeichnis

Ziele

Es sind Bewegungen innerhalb des Islam, und kein Versuch der Spaltung. Als solche glauben sie an die grundlegenden Lehrsätze des Islam, vor allem die Sechs Glaubensartikel (Aqida) und die fünf Säulen. Sie schätzen ihre Ansichten als voll übereinstimmend mit den Lehren des Islam ein. Der Hauptunterschied zu den mehr konservativen islamischen Auffassungen sind Unterschiede in der Interpretation, wie man die zentralen Werte des Islam an das moderne Leben anpassen könne.

Die Betonung, die der liberale Muslim auf individuelle Interpretation und Ethik legt anstatt auf den Wortlaut der Schrift, könnte einen Vorläufer in der Tradition der islamischen Mystik, nämlich dem Sufismus haben.

Aber dieser reformorientierte Ansatz hat dazu geführt, dass liberale Muslime ihre Kritik an verschiedenen, auch terroristischen Akten von extremistischen Muslimen abgeschwächt haben. Solche abgeschwächte Kritik wurde oft von westlichen Kritikern angegriffen, insbesondere von denen, die meinen, es gebe einen so genannten "Zusammenprall der Kulturen" (clash of civilisations).

Zentrale Glaubenssätze

Mehrere allgemein akzeptierte Glaubenssätze haben sich entwickelt:

  • Die Autonomie des Individuums beim Interpretieren des Korans und der Hadithe
  • Kritischere und verschiedenere Untersuchungen religiöser Texte, wie auch traditioneller islamischer Vorläufer
  • Komplette Gleichberechtigung der Geschlechter in allen Aspekten, inklusive des rituellen Gebets und Observanz
  • Eine offenere Sichtweise auf die moderne Kultur in Beziehung zu Sitten, Kleidung und allgemeinen Praktiken
  • Zusätzlich zur Anwendung von Ijtihad (Neuinterpretation von Schriften) wird die Anwendung des islamischen Konzepts der Fitra oder des natürlichens Sinns für richtig und falsch befürwortet.

Zeitgenössische und kontroverse Angelegenheiten

Im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts neigten in Übereinstimmung mit ihren zunehmend modernen Gesellschaften und Einstellungen liberale Muslime dazu, viele Aspekte ihrer Religion neu zu interpretieren. Dies trifft besonders zu auf Muslime, welche jetzt in nicht muslimischen Ländern leben. Solche Menschen könnten sich selbst zum Beispiel beschreiben als Liberale, Progressive oder Reformer; aber anstatt eine spezifische Agenda andeuten zu wollen, integrieren diese Wörter ein breites Spektrum von Ansichten, welche den konservativen, traditionellen Islam auf viele verschiedene Weisen herausfordern. Obgleich es unter den liberalen Muslimen keine volle Übereinstimmung über ihre Ansichten gibt, neigen sie dazu übereinzustimmen in einigen oder allen der folgenden Ansichten:

Ijtihad (Neuinterpretation von Schriften)

  • Ijtihad bedeutet aus dem Arabischen übersetzt "Anstrengung". Dies bedeutet, liberale Muslime lassen traditionelle Interpretationen des Korans oftmals fallen, denn sie finden sie zu konservativ. Stattdessen bevorzugen sie Auslegungen, welche eher an die moderne Gesellschaft angepasst werden können (siehe Ijtihad). Die meisten liberalen Muslime weisen die Ableitung des islamischen Gesetzes aus wörtlich genommenen koranischen Versen zurück. Generell sagen sie, dass eine holistische Sicht, welche berücksichtigt wie im 7. Jahrhundert der arabische kulturelle Kontext war, solche wörtlichen Interpretationen verbietet.
  • Die Zuverlässigkeit und Anwendbarkeit der Literatur der Hadith wird von Liberalen hinterfragt, denn vieles vom islamischen Gesetz leitet sich davon ab anstatt vom Korantext, denn der letztere hat große Lücken in Gesetzes- und Familienangelegenheiten.
  • Das Gegenteil von Ijtihad ist Taqlid

Menschenrechte

  • Die meisten liberalen Muslime glauben, der Islam fördere die Idee absoluter Gleichheit der ganzen Menschheit, und dies sei eines der zentralen Konzepte des Islam. Menschenrechte ohne religiöse Einschränkung sind daher für die meisten Liberalen eine Sache, welche sie sehr wichtig nehmen. Zwar haben viele Länder mit muslimischer Mehrheit internationale Abkommen über Menschenrechte unterzeichnet, doch die Umsetzung in lokales Gesetz hat weitverbreitet noch nicht wirklich stattgefunden.

Feminismus

  • Die Stellung der Frau im Islam, traditionelle Geschlechtsrollen im Islam, und Islamischer Feminismus sind ebenfalls größere Dinge. Aus diesem Grunde sind liberale Muslime oft kritisch eingestellt gegenüber traditionellen Interpretationen des islamischen Gesetzes, welche Polygamie für Männer erlauben, aber nicht für Frauen, sowie das traditionelle islamische Erbrecht, unter welchem Töchter weniger bekommen als Söhne. Es wird auch von den meisten liberalen Muslimen akzeptiert, wenn eine Frau den Staat führt, und sie sagen, dass Frauen nicht von Männern getrennt sein sollten in der Gesellschaft oder in den Moscheen. Einige liberale Muslime akzeptieren, dass eine Frau eine gemischte Gruppe im Gebet leiten darf, trotz der Sitte, dass Frauen hinter einem Vorhang oder in einem abgetrennten Raum beten. Aber diese Sache (Frauen als Imame) bleibt kontrovers.
  • Manche muslimischen Feministen/innen sind gegen die traditionellen Kleidervorschriften für Frauen (allgemein Hidschab genannt), sie sagen, jede anständige Kleidung sei islamisch genug für Männer wie auch für Frauen. Andere muslimische Feministen/innen begrüßen den Hidschab sehr, sie weisen auf seine Tendenz hin, Frauen zu de-sexualisieren und daher ihnen zu helfen, weniger als Objekt und mehr als Person behandelt zu werden. Darüber hinaus bevorzugen es einige muslimische Feministinnen, den Hidschab zu tragen als offensichtliches Zeichen, dass sie, wenn auch Feministinnen, in der Tat Muslimas sind.

Säkularismus

  • Einige liberale Muslime bevorzugen die Idee einer modernen säkularen Demokratie mit Trennung von Religion und Staat und sind daher gegen den Islam als politische Bewegung.
  • Die Existenz und Anwendbarkeit des Islamischen Rechts wird von vielen Liberalen in Frage gestellt. Ihre Argumentation enthält oft Varianten der Mu'tazila-Theorie, dass der Koran von Gott geschaffen wurde für die speziellen Umstände in der frühen muslimischen Gemeinschaft, und dass um ihn auf neue Bedingungen anzuwenden, die Vernunft (auch genannt: Verstand) benutzt werden müsse.

Toleranz und Gewaltlosigkeit

  • Toleranz ist ein anderer Schlüsselsatz der liberalen Muslime, diese sind generell offener für den Dialog zwischen verschiedenen Religionen und für Konfliktlösungen mit solchen Gemeinschaften wie die Juden, Christen, Hindus, und die vielen Fraktionen innerhalb des Islam.
  • Liberale Muslime sehen die Idee des Dschihad eher als weithin akzeptierten "inneren spirituellen Kampf" denn als "bewaffneten Kampf". Die Ideale der Gewaltlosigkeit sind vorhanden in der liberalen muslimischen Ideologie, und dahinter steht ein koranischer Text: "Die Erlaubnis zum Kampf ist nur denen gegeben, die unterdrückt worden sind … die aus ihren Häusern vertrieben wurden, dafür, dass sie sagten: 'Gott ist unser Herr'" (22:39)

Sichverlassen auf säkulare Gelehrsamkeit

  • Liberale Muslime neigen dazu, skeptisch zu sein hinsichtlich dass Gültigkeit der Islamisierung des Wissens (inklusive Islamisches Finanzwesen, Islamische Wissenschaft, Geschichte des Islam und Islamische Philosophie getrennt von den Hauptforschungsfeldern sei. Dies liegt normalerweise an der oft säkularen Anschauung muslimischer Liberaler, welche sie veranlasst, der Gelehrsamkeit der säkularen Hauptströmung eher zu vertrauen. Daran kann es auch liegen, dass muslimische Konservative die Weiterverbreitung dieser Felder als nur Propaganda einschätzen.[1]
  • Bei Liberalen ist es auch weniger wahrscheinlich, dass sie koranische Erzählungen von Adam und Eva, Noah, Abraham, Jesus und anderer Propheten des Islam als historische Tatsache nehmen. Stattdessen sehen Liberale manchmal diese Dinge als moralische Studien oder Mythologie, um die ethische Botschaft des Islam zu rechtfertigen. Solche Liberale akzeptieren wissenschaftliche Ideen wie z.B. Evolution und die Ergebnisse weltlicher Geschichtswissenschaft und Archäologie anstatt der Geschichten, die in der Schrift geschrieben stehen.

Nur Koran (Koran ohne Hadithe)

Muslime der Richtung "Nur Koran", auch genannt "anti-hadith", haben eine sehr kritische Sicht auf die Hadithe und akzeptieren die Hadithe generell nicht als authentische oder zuverlässige Quelle. Dem Koran wird Vorrang gegeben, oder in einigen Fällen wird die Hadith generell zurückgewiesen. In beiden Fällen erlaubt der Umstand, dass man sich auf die Hadithe nicht verlässt, die Neuinterpretation koranischer Verse; diese geschieht meist in Richtung auf einen liberaleren Standpunkt. Die Kritik dieser Herangehensweise gibt die populäre muslimische Ansicht weiter, die Hadith sei in erster Linie die puristische Interpretation des koranischen Texts.

Kontroverse zwischen Patrick Bahners und Hilal Sezgin

Patrick Bahners kritisierte 2011 in der FAZ den liberalen Islam, der gegen das „Phantombild der jungen Konservativen“ gesetzt sei und keine sachliche Position umreiße, sondern eine Funktionsstelle einnehme; demnach gebe es Muslime, die als „Vermittlungstheologen nach dem Geschmack von Annette Schavan“ zur Verfügung stünden.[2] Hilal Sezgin, Mitglied des Liberal-Islamischen Bundes, stellte daraufhin in der taz fest, selbst eine solche „Vermittlungstheologin“ zu sein und verteidigte diese Position.[3]

Literatur

  • Qur'an and Woman von Amina Wadud.
  • American Muslims: Bridging Faith and Freedom von M. A. Muqtedar Khan.
  • Liberal Islam: A Sourcebook Herausgeber Charles Kurzman, 1998, Oxford University Press, USA. ISBN 0-19-511622-4
  • Progressive Muslims: On Justice, Gender, and Pluralism Herausgeber Omid Safi.
  • Qur'an, Liberation and Pluralism von Farid Esack.
  • Revival and Reform in Islam von Fazlur Rahman.
  • The Unthought in Contemporary Islamic Thought, von Mohammed Arkoun.
  • Unveiling Traditions: Postcolonial Islam in a Polycentric World von Anouar Majid.
  • Islam and Science: Religious Orthodoxy and the Battle for Rationality von Pervez Hoodbhoy
  • The Viability of Islamic Science by S. Irfan Habib, Economic and Political Weekly, June 05, 2004.
  • Progressiver Islam in Theorie und Praxis von Manfred Sing.

Einzelnachweise

  1. [1]
  2. http://www.faz.net/artikel/C31373/islamischer-bekenntnisunterricht-die-religion-in-den-grenzen-des-klassenzimmers-30483400.html
  3. http://taz.de/Debatte-Islam/!76794/

Siehe auch

Islamkritik, Euroislam, Salafismus, Schule von Ankara

Einrichtungen

Theologen

Denker und Aktivisten

Weblinks


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