Homosexualität im Islam

Homosexualität im Islam

Homosexualität im Islam wird rechtlich unterschiedlich bewertet. Diese Bewertung veränderte sich im Laufe der Geschichte. Die Praktizierung gleichgeschlechtlichen, sexuellen Verkehrs gilt meist nach konservativer Interpretation im islamischen Recht als Unzucht.

Inhaltsverzeichnis

Gesetzliche Aspekte (Schari'a)

Der Koran fordert der Auslegung einiger Exegeten zufolge in der vierten Sure die Bestrafung von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen:

Und diejenigen, die es von euch [Männern] begehen, strafet beide. Und so sie bereuen und sich bessern, so lasset ab von ihnen. Siehe, Allah ist vergebend und barmherzig (Sure 4, Vers 16).)[1]

Ob sich dieser Vers auf (heterosexuellen) Ehebruch, Sexualbeziehungen zwischen unverheirateten Männern und Frauen oder auf gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte unter Männern bezieht, wird im Rahmen der verschiedenen Korankommentare unterschiedlich bewertet, wobei die Mehrheit der Ausleger dazu tendiert, diese Aussage hauptsächlich auf Ehebruch zu beziehen.[2] Zudem ist innerhalb der gegenwärtigen islamischen Theologie umstritten, ob sich diese Anweisung – wenn sie denn auf gleichgeschlechtliche Sexualkontakte anwendbar sein sollte – nur auf historisch bedingte Ausprägungen gleichgeschlechtlicher Sexualität bei den Völkern des frühislamischen Orients bezieht oder ob sie auf sämtliche Erscheinungsformen homosexueller Lebensgestaltung in den Gesellschaften der Gegenwart übertragbar ist (Vgl. hierzu die Position des Zentralrats der Muslime in Deutschland, siehe unten).[3]

Ansicht der Mehrheit der konservativen islamischen Vertreter

Im Koran bleibt innerhalb der konservativen Auslegung die Art der Bestrafung offen, was in den islamischen Rechtsschulen (madhahib) zu einem Dissens geführt hat.[4][5] Während die Hanafiten als größte Rechtsschule des Islam die Entscheidung darüber in das Ermessen des einzelnen Richters stellen, sehen die Hanbaliten, analog zum Ehebruch die Steinigung vor. Weitere mögliche Strafen sind Auspeitschung und Verbannung. Die Wahhabiten genannte Richtung des sunnitischen Islams hanbalitischer Richtung sieht ebenfalls die Todesstrafe vor. In sieben islamischen Ländern kann homosexueller Sex mit dem Tode bestraft werden: im Jemen, Iran, Sudan (nördliche Landesgebiete), in Saudi-Arabien, Nigeria (nördliche Landesgebiete), Mauretanien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten.[6] In vielen anderen islamisch geprägten Staaten werden Haftstrafen verhängt, während nur in wenigen islamisch geprägten Staaten wie in Albanien, in der Türkei, in Indonesien und in Jordanien eine Bestrafung nicht erfolgt.

Ansicht der gemäßigten/liberalen islamischen Minderheitenvertreter

Demgegenüber gibt es seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Islam Organisationen und Einzelpersonen, die eine befürwortende Haltung gegenüber Homosexualität vertreten: zu nennen ist beispielsweise die Al-Fatiha Foundation.[7] Bei einer Konferenz in Jakarta haben gemäßigte Islamvertreter erklärt, dass Homosexualität und ihre Weltreligion kein Gegensatz seien. Unter den Teilnehmern war etwa die international anerkannte islamische Frauenrechtlerin Siti Musdah Mulia.[8]

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat beispielsweise eine liberale Haltung gegenüber Homosexualität. Auch die Publizistin und Journalistin Hilal Sezgin erklärte in einem Radiobeitrag des SWR:

„Unsere Gesellschaften haben sich gewandelt, Familien sind anders strukturiert. Die Kindersterblichkeit ist viel geringer und es ist nicht mehr Hauptzweck liebender Beziehungen, im physischen Sinne fruchtbar zu sein. Heutige Paare stehen nicht mehr vor der Aufgabe, möglichst viele eigene Kinder aufzuziehen, um die Gemeinschaft und das eigene Alter zu sichern; man kümmert sich mit um die Kinder des Partners aus einer früheren Ehe, man versucht, in schwierigen Zeiten seinen Job zu behalten oder einen zu finden; bemüht sich, ein paar Träume zu verwirklichen, gleichzeitig realistisch zu sein und in dem ganzen Chaos halbwegs anständig zu bleiben. All das tun viele Menschen lieber zu zweit als allein; und wieso soll es nicht mit einem Partner gleichen Geschlechts möglich sein? Eben deswegen kann ich mir so schlecht vorstellen, dass Gott etwas dagegen haben soll, wenn sich zwei Menschen lieben. Egal, wie ihre Körper aussehen. Was zählt, denke ich, ist, wie sie miteinander umgehen: ob sie ehrlich sind, vertrauensvoll, zärtlich, hilfsbereit. Das ist wichtig.“[9][10]

Die Bedeutung gleichgeschlechtlicher Liebe

Der Koran assoziiert die Sünden von Lots Volk an einigen Stellen auch mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten unter Männern: Es gibt fünf Stellen im Koran, die die in der Umwelt des frühen arabischen Islam vorkommenden Erscheinungsformen mann-männlichen Sexualverhaltens erwähnen. Manche befassen sich offensichtlich mit „femininen Männern“ und „maskulinen Frauen“. Die zwei wichtigsten Verweise auf homosexuelles Verhalten im Koran sind zum einen die 7. Sure, Vers 80-81:[11]

„Und (wir haben) den Lot (als unseren Boten gesandt). (Damals) als er zu seinen Leuten sagte: ‚Wollt ihr denn etwas Abscheuliches begehen, wie es noch keiner von den Menschen in aller Welt vor euch begangen hat? Ihr gebt euch in (eurer) Sinnenlust wahrhaftig mit Männern ab, statt mit Frauen. Nein, ihr seid ein Volk, das nicht maßhält.“

Und zum anderen die Sure 26, Vers 165-166:[12].

„Wollt ihr euch denn mit Menschen männlichen Geschlechts abgeben und (darüber) vernachlässigen, was euer Herr euch in euren Gattinnen (als Ehepartner) geschaffen hat? Nein, ihr seid verbrecherische Leute.“.

Beide Verweise beziehen sich auf gleichgeschlechtliche Sexualkontakte unter Männern; solche unter Frauen werden im Koran nicht direkt erwähnt. Lut wird im Textkorpus des hebräischen Tanachs als „Lot“ bezeichnet. Diese beiden Passagen (Sure 7, 80/81; Sure 26, 165/166) sind ein offensichtlicher Verweis auf die im hebräischen Buch Genesis ebenfalls berichteten Ereignisse in Sodom und Gomorrha. Manche Theologen und Religionswissenschaftlicher weisen darauf hin, dass im Zuge der Sodomgeschichte nicht Homosexualität im modernen Sinne an sich thematisiert werde, sondern dass es in dieser Geschichte um den Bruch des altorientalischen Gastrechts und um sexuelle Gewalt (versuchte Vergewaltigung von Männern) gehe.[13]


Der im Jahr 1200 n. u. Z. verstorbene hanbalitische Rechtsgelehrte Ibn al-Gauzi erklärte:

„Derjenige, der behauptet, dass er keine Begierde empfindet [wenn er schöne Knaben erblickt], ist ein Lügner, und wenn wir ihm glauben könnten, wäre er ein Tier, nicht ein menschliches Wesen.“

Dies schlägt sich auch in den Paradiesbeschreibungen des Koran nieder, wo nicht nur „großäugige Jungfrauen“, sondern auch Jünglinge, „gleich verborgenen Perlen“ (Sure 52, Vers 24), auf die (männlichen) Wiederauferstandenen warten und sie als Mundschenke bedienen:

„Die Runde machen bei ihnen unsterbliche Knaben mit Humpen und Kannen (von Wein) und einem Becher (voll) von Quellwasser.“ (Sure 56, Vers 17-18)

Die romantische Liebe (ʻIshq) zwischen Männern wird – unter der Voraussetzung, dass sie keusch ist – vom Islam vollständig akzeptiert. So schreibt der Universalgelehrte Ibn Hazm:

„Liebe wird von der Religion weder missbilligt, noch vom Gesetz verboten; denn jedes Herz ist in Gottes Hand.“

Gleichzeitig führt aber die Verwerfung von unkeuschen Handlungen zwischen Männern für den strenggläubigen Muslim zu einem inneren Glaubenskampf (dschihad) gegen sein eigenes Selbst (nafs). Einem bekannten Hadith zufolge gilt derjenige, der in diesem Kampf obsiegt, als „Liebesmärtyrer“:

„Wer liebt und keusch bleibt und sein Geheimnis verbirgt und stirbt, stirbt als ein Märtyrer.“

Eine etwas andere Haltung nimmt die sufische Tradition ein. In ihr spielt die leidenschaftliche Zuneigung zwischen dem „Liebenden“ und dem „Geliebten“ eine konstitutive Bedeutung für die mystische Annäherung an Gott. Dies ist aber auf keinen Fall körperlich, also zwischen zwei Menschen (Männern) zu sehen, sondern der Liebende ist ein Synonym für den Suchenden, also den Sufi, der Geliebte ist ein Synonym für Gott.

Richtungen innerhalb des Islams

Alle islamische Rechtsschulen lehnten homosexuelle Handlungen in der Vergangenheit als sündhaft ab. Homosexueller Geschlechtsverkehr gilt nach konservativer Auslegung als Unzucht (Zina). Umstritten ist innerhalb dieser Schulen, welche Art von Strafhöhe zu verhängen war. Die Meinungen reichten von Auspeitschung bis zur Todesstrafe.

Islamische Gutachten der einzelnen Rechtsschulen in den letzten Jahren zum Thema Homosexualität sind kaum vorhanden. Eine Minderheit islamischer Organisationen und Einzelpersonen vertreten gegenwärtig eine liberalere Haltung und bewerten homosexuelle Handlungen nicht als eine Sünde. Zu nennen sind beispielsweise die 1998 in den USA gegründete und mit etwa 900 Mitgliedern (2002) stärkste Gruppierung Al-Fatiha Foundation[14], die durch den Imam Muhsin Hendricks 1998 in Südafrika gegründete Al-Fitrah und die 1998 in England gegründete und mit etwa 300 Mitgliedern (2008) zweitstärkste Gruppe Imaan. Letztere veranstaltete anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens vom 17. bis zum 19. Oktober 2008 eine Konferenz für schwul-lesbische Muslime, an der Vertreter aus dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Staaten, den Niederlanden, Kanada, Frankreich, Deutschland, Norwegen, Iran, Libanon, Pakistan, Türkei und Uganda teilnahmen.[15][16]

Gegenwärtige Situation in islamisch geprägten Staaten

Homosexualität wird in islamisch geprägten Ländern unterschiedlich bewertet und rechtlich seitens des Staates betrachtet. Eine staatliche Anerkennung von homosexuellen Paarbeziehungen gibt es gegenwärtig in keinem islamisch geprägten Staat. In den islamisch geprägten Staaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Indonesien, Jordanien, Kasachstan, Kirgisistan, Kosovo, Mali, Tadschikistan, Tschad und Türkei sind homosexuelle Handlungen nicht verboten. In den meisten islamisch geprägten Staaten werden homosexuelle Handlungen mit unterschiedlich hohen Haftstrafen verfolgt. Hierzu gehören die Staaten Afghanistan (gegenwärtig keine staatliche Hoheit), Algerien, Ägypten, Bahrein, Bangladesch, Brunei, Gambia, Guinea, Komoren, Irak, Katar, Libyen, Malaysia, Malediven, Marokko, Oman, Pakistan, Senegal, Singapur, Somalia (gegenwärtig keine staatliche Hoheit), Syrien, Tunesien, Turkmenistan und Usbekistan. [17] In sieben Ländern Iran, Nigeria (nördliche Landesteile), Mauretanien, Sudan (nördliche Landesteile), Jemen, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate droht die Todesstrafe. [18]

Gegenwärtige Situation in Staaten mit muslimischen Migranten

In muslimischen Migrantengemeinschaften in Europa wird das Thema Homosexualität selten offen angesprochen und meist als Thema betrachtet, das für die Kultur der Mehrheitsgesellschaft und nicht der Migrantengemeinde relevant ist. Eltern üben Druck auf ihre Kinder aus, heterosexuell zu heiraten. Dennoch haben manche Migrantenorganisationen Position bezogen, um Antidiskriminierungsgesetze, die auch für sexuelle Orientierung gelten, zu unterstützen.[19] Der Türkische Bund in Berlin erklärt im April 2010, dass homosexuelle Menschen vor Diskriminierungen zu schützen sind.[20] Ebenso setzt sich der Generalsekretär des Zentralrat der Muslime Aiman Mazyek für einen Diskriminierungsschutz homosexueller Menschen ein.[21]

Siehe auch

Literatur

  • Michael Bochow, Reiner Marbach (Hgg.), Homosexualität und Islam. Koran - Islamische Länder - Situation in Deutschland, Hamburg 2003.
  • Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 2004.
  • LSVD Berlin-Brandenburg (Hg.): Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin 2004.
  • Andreas Ismail Mohr, Das Volk Lots und die Jünglinge des Paradieses. Zur Homosexualität in der Religion des Islam, in, Michael Bochow, Reiner Marbach (Hgg.), Homosexualität und Islam. Koran - Islamische Länder - Situation in Deutschland, Hamburg 2003, S. 51-84.
  • Andreas Ismail Mohr, Was sagt der Koran zur Homosexualität, in, LSVD, Berlin-Brandenburg (Hg.), Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin 2004, S. 9-39.
  • Khaled El-Rouayheb, Before Homosexuality in the Arab–Islamic World, 1500–1800 Chicago, 2005.
  • Everett K. Rowson, J.W. Wright, Homoeroticism in Classical Arabic Literature New York, 1997.
  • Arno Schmitt und Jehoeda Sofer, Sexuality and Eroticism Among Males in Moslem Societies, Harrington Park Press 1992.
  • Arno Schmitt und Gianni de Martino, Kleine Schriften zu zwischenmännlicher Sexualität und Erotik in der muslimischen Gesellschaft, Berlin, Gustav-Müller-Str. 10 : A. Schmitt, 1985.
  • Georg Klauda: Die Vertreibung aus dem Serail. Europa und die Heteronormierung der islamischen Welt. Männerschwarm Verlag, Hamburg 2008, ISBN 978-3-939542-34-6
  • Stephen O. Murray, Islamic Homosexualities: culture, history, and literature, (gemeinsam mit Will Roscoe), New York: New York University Press, 1997.

Einzelnachweise

  1. Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch, Gütersloh 2004, S. 154.
  2. Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch, Gütersloh 2004, S. 154: Es geht entweder um die Unzucht bzw. den Ehebruch (so die Mehrheit der Kommentatoren) oder um die Sodomie zwischen Männern oder um Unzucht zwischen unverheirateten Männern und Frauen.
  3. Andreas Ismail Mohr, Was sagt der Koran zur Homosexualität, in, LSVD Berlin-Brandenburg (Hg.): Muslime unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration und Islam, Berlin 2004, S. 9-38.
  4. Islamische Rechtsgutachten betreff Homosexualität
  5. Islamisches Rechtsgutachten über die Bestrafung von homosexuellem Geschlechtsverkehr
  6. ILGA: Seven coutries still put people to death for same-sex acts
  7. Al-Fatiha Foundation
  8. Queer:Indonesien: Gemäßigte Muslime verteidigen Homosexualität
  9. Das islamische Wort: Liebe und Gottgefälligkeit, Hilal Sezgin, Januar 2010
  10. Manuskript zur Sendung im SWR
  11. Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch, Gütersloh 2004, S. 243.
  12. Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch, Gütersloh 2004, S. 480.
  13. Wunibald Müller, Homosexualität – eine Herausforderung für Theologie und Seelsorge, Mainz 1986, S. 64/65.
  14. Al-Fatiha
  15. Organisers delighted at success of LGBT Muslim conference, pinknews.co.uk, 24. Oktober 2008
  16. London: Konferenz für schwul-lesbische Muslime, queer.de, 26. September 2008
  17. Ilga:Statehomophobia
  18. Ilga: 7 countries still put people to death for same-sex acts
  19. http://www.guardian.co.uk/commentisfree/belief/2009/oct/05/gay-muslims-support
  20. Türkischer Bund:TBB und LSVD kritisieren Sachverständigen von CDU/CSU
  21. Queer:Zentralrat der Muslime fordert Homo-Schutz im Grundgesetz

Weblinks


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