Orgel der Großen Kirche (Leer)

Orgel der Großen Kirche (Leer)
Orgel der Großen Kirche (Leer)
LeerGroßeKircheOrgelempore.jpg
Allgemeines
Ort Große Kirche (Leer)
Orgelerbauer Albertus Antonius Hinsz
Baujahr 1763–1766
Letzte(r) Umbau/Restaurierung 1963–1971 durch Ahrend & Brunzema
Orgellandschaft Ostfriesland
Technische Daten
Anzahl der Register 37
Anzahl der Pfeifenreihen 55
Anzahl der Manuale 3
Tontraktur Mechanisch
Registertraktur Mechanisch
Sonstiges
Bedeutende Organisten

Winfried Dahlke

Die Orgel der Großen Kirche (Leer) weist eine über vierhundert Jahre alte Geschichte auf. Das Instrument in der Großen Kirche im ostfriesischen Leer ist im Laufe der Zeit immer wieder erweitert worden, wobei in den jeweiligen Grundbestand nicht wesentlich eingegriffen wurde, sodass noch Pfeifen aus dem 16. Jahrhundert erhalten sind. Das Instrument verfügt heute über 37 Register auf drei Manualen und Pedal, nachdem sie ursprünglich nur neun Register besaß. Optisch eigentümlich ist die moderne Anlage mit zwei Rückpositiven.

Inhaltsverzeichnis

Baugeschichte

Renaissance-Orgel von de Mare 1609

Die Geschichte der Orgel findet im Kloster Thedinga ihren Ursprung, für das vermutlich Andreas de Mare um 1570 eine Orgel schuf. Graf Enno III. vermachte 1609 der Reformierten Kirchengemeinde in Leer die Orgel aus dem Kloster Thedinga. Marten de Mare wurde damit beauftragt, die Klosterorgel abzubauen und in der alten Liudgeri-Kirche in der Nähe des Plytenberges aufzubauen. Der Pastor Wessel Onken konnte in seiner 1763 verfassten Chronik „Beschryvink van het oude vlek Leer“ nicht sagen, ob es sich bei dieser Orgelbaumaßnahme um einen Um- oder Neubau gehandelt hat. Möglicherweise verwendete Marten de Mare die Pfeifen der Klosterorgel für den Umbau in Leer und den Prospekt für einen Orgelneubau in der Gutskapelle zu Stellichte im Jahre 1610.[1]

Jüngere Untersuchungen am Pfeifenwerk der Leeraner Orgel und an den historischen Prospektpfeifen der Renaissance-Orgel in Stellichte haben die unmittelbare Verwandtschaft der Orgeln bestätigt, konnten jedoch die These von einer Aufteilung der Klosterorgel weder bestätigen noch widerlegen. Eine unmittelbare Verwandtschaft der beiden Instrumente ist jedoch durch den Vergleich der Pfeifeninskriptionen nachgewiesen worden.[2] Nachgewiesen wurde auch, dass in der Orgel der Reformierten Kirche in Leer Pfeifen erhalten sind, die vor 1609 von einem Orgelbauer der Familie de Mare geschaffen wurden und die 1609 durch Marten de Mare umgearbeitet und wiederverwendet worden sind.

Rekonstruierte Disposition 1609:[3]

Manual CDEFGA–g2a2
Quintadena 16′ bis 1845?
Principal 8′ bis 1766/1855
Rohrflöte 8′
Quintadena 8′
Oktav 4′
Flöte (gedeckt) 4′
Oktave 2′
Sesquialtera II
Mixtur
Trompete 8′

Umbau und Erweiterung durch Hinsz 1763–1766

Die ursprünglich kleine Leeraner Orgel wurde im Laufe von vierhundert Jahren zu einer großen Stadtorgel erweitert, ohne dass dabei der jeweilige Grundbestand wesentlich verändert wurde. Für 1685 und 1733–1734 sind Reparaturen belegt, wobei kein Orgelbauer namentlich genannt wird. Möglicherweise waren Joachim Kayser und Johann Friedrich Constabel tätig. Nach 1750 habe Dirk Lohmann eine „grand restauration“ durchgeführt, was sich urkundlich aber kaum nachweisen lässt.[4]

Einen eingreifenden Umbau, der nahezu einem Neubau gleichkam, nahm Albertus Antonius Hinsz (1763–1766) vor, der auch ein neues äußeres Gehäuse schuf. Das innere Tragwerk des Hauptwerks ist wesentlich älter und stammt möglicherweise noch aus der de-Mare-Orgel, deren Proportionen sich noch im Prospekt widerspiegeln.[5]

Disposition 1766:[3]

Hauptwerk C–c3
Prinzipal 8′ Hi/Ma?
Quintatön 16′ Hi/Ma?
Rohrflöte 8′ Ma
Quintatön 8′ Ma
Oktave 4′ Hi/Ma
Quintflöte 3′ Hi
Flöte 4′ Ma/Hi
Oktave 2′ Ma/Hi
Sesquialtera II Hi
Mixtur III-VI B/D Hi/Ma?
Trompete B/D 16′ Hi
Trompete 8′ Ma
Rückpositiv C–c3
Prinzipal 4′ Hi
Gedackt 8′ Hi
Flöte 4′ Hi
Quintflöte 3′ Hi
Waldflöte 2′ Hi
Kornett III D Hi
Sesquialtera II Hi
Scharf III Hi
Dulzian 8′ Hi
Pedal C–d1
Angehängt
Ma = Marten de Mare (1608–1609)
Hi = Albertus Anthonius Hinsz (1763–1766)

Erweiterung durch Höffgen 1845–1850

Johann Friedrich Wenthin überführte 1787 das Instrument unverändert in die heutige Kirche, die 1785–1787 gebaut wurde. Reparaturen und Jahrespflegen sind von Hinrich Just Müller (1800–1810), Wilhelm Eilert Schmid (?) (1811) und Herman Eberhard Freytag (1821) belegt.

In den Jahren 1845–1850 fand ein umfassender Erweiterungsumbau durch Wilhelm Caspar Joseph Höffgen und nach seinem Tod im Jahr 1849 durch Brond de Grave Winter und dessen Neffen Johann Visser statt. Man rückte das Gehäuse vor, fügte ein selbstständiges Pedalwerk hinzu, veränderte den Prospekt, setzte das Rückpositiv als Oberwerk auf das Hauptwerk und ersetzte einige Register.

Disposition 1850:[3]

Hauptwerk C–c3
Prinzipal 8′ Hö/Wi
Bordun 16′
Rohrflöte 8′ Ma
Quintatön 8′ Ma
Oktave 4′ Hi/Ma
Quinte 3′
Flöte 4′ Ma
Oktave 2′ Ma/Hi
Sexquialter II Hi
Mixtur III-VI Hi/Ma?
Trompete 16′ Hi
Trompete 8′ Ma/Hi/Wenthin
Oberwerk C–c3
Prinzipal 8′ Hö/Wi
Oktave 4′ Hi
Gedackt 8′ Hi
Flöte 4′ Hi
Quintflöte 3′ Hi
Waldflöte 2′ Hi
Flaute trav. 8′
Scharf III Hi
Dulzian 8′ Hi
Pedalwerk C–d1
Subbass 16′
Prinzipal 8′
Gedackt 8′
Oktave 4′
Posaune 16′
Trompete 8′
Ma = Marten de Mare (1608–1609)
Hi = Albertus Anthonius Hinsz (1763–1766)
Hö = Wilhelm Höffgen (1845–1849)
Wi = Brond de Grave-Winter (1849–1850)

Ersatz von Registern 1888 und 1924

Entsprechend dem Zeitgeschmack mussten in den folgenden Jahrzehnten aufgrund der Maßnahmen von Gebr. Rohlfing (1888) und Friedrich Klassmeyer (1924) weitere alte Register neuen weichen. Johann Diepenbrock (1900) arbeitete an der Traktur. Die 1917 für Rüstungszwecke abgegebenen zinnhaltigen Prospektpfeifen wogen 227 kg und wurden mit 1.770,65 DM erstattet. Sie wurden 1924 von Klassmeyer durch Zinkpfeifen ersetzt.[6]

Disposition 1929:[3]

Hauptwerk C–c3
Prinzipal 8′ Kl
Bordun 16′
Rohrflöte 8′ Ma
Quintatön 8′ Ma
Oktave 4′ Hi/Ma
Quinte 3′
Hohlflöte 4′ Ma
Oktave 2′ Ma
Gamba 8′ Ro
Mixtur IV Hi/Ro/Ma
Gedackt 4′ Kl
Trompete 8′ Ma/Hi/Wenthin
Oberwerk C–c3
Prinzipal 8′ Kl
Oktave 4′ Hi
Gedackt 8′ Hi
Flaute 4′ Hi
Aeolsharfe 8′ Kl
Waldflöte 2′ Hi
Flaute trav. 8′
Salizional 8′ Kl
Oboe 8′ Kl
Pedalwerk C–d1
Subbass 16′
Prinzipal 8′ Kl
Gedackt 8′ Hö?
Oktave 4′
Posaune 16′
Trompete 8′
Ma = Marten de Mare (1608–1609)
Hi = Albertus Anthonius Hinsz (1763–1766)
Hö = Wilhelm Höffgen (1845–1849)
Ro = Gebr. Rohlfing (1888)
Kl = Klassmeyer (1923)

Restaurierung und Erweiterung durch Ott 1953–1955

Ungewöhnlich ist der heutige äußere Aufbau mit einem linken und einem rechten Rückpositiv, der auf Paul Ott (1953–1955) zurückgeht. Zuvor (1951) war die Orgelempore zu einer Chorempore umgebaut worden. Ott veränderte auch den Prospekt, vergrößerte die Pedalgehäuse, beseitigte einen großen Teil des Schnitzwerks und schuf den freistehenden Spieltisch mit einer neuen Mechanik. Höffgens Oberwerksgehäuse steht seitdem leer. Ott übernahm bei seiner Erweiterung der Orgel 19 ältere Register.

Konsolidierung durch Ahrend 1963–1971

In verschiedenen Bauabschnitten konsolidierten Ahrend & Brunzema 1963–1971 die Orgel (zunächst Hauptwerk und Pedal, 1971 die Rückpositive). Alle sieben modernen Zungenregister wurden erneuert, das gesamte Pfeifenwerk neu intoniert, Einzelpfeifen ersetzt, die Windladen überarbeitet und die Windversorgung durch zwei neue Magazinbälge verbessert.

Disposition seit 1971

Seit 1971 weist das wertvolle Instrument folgende Disposition auf:[3]

I Rückpositiv (links) C–f3
Gedackt 8′ Hi
Praestant 4′ n
Blockflöte 4′ n[Anm. 1]
Waldflöte 2′ Hi[Anm. 2]
Quinte 1 1/3 n
Scharff IV-V n
Dulcian 8′ A&B
Sordun 16′ A&B
Tremulant


II Hauptwerk C–f3
Praestant 8′ n/o1/o2[Anm. 3]
Quintadena 16′ o1/n[Anm. 4]
Rohrflöte 8′ o1/o2[Anm. 5]
Oktave 4′ o1/o2/Hi/A&B
Quinte 2 2/3 [Anm. 6]
Spitzflöte 4′ n[Anm. 7]
Oktave 2′ o1/Hi/n[Anm. 8]
Sesquialtera II Ro/n[Anm. 9]
Mixtur V-VI n
Terzzimbel III n
Trompete 16′ A&B
Trompete 8′ o1/Hi[Anm. 10]
III Rückpositiv (rechts) C–f3
Gedackt 8′ n
Rohrföte 4′ Hi
Rohrnasat 2 2/3 n
Praestant 2′ n
Tertian II n
Quintcimbel III n
Oktave 1′ n
Regal 8′ A&B
Tremulant


Pedal C–f1
Offenbass 16′ n
Subbass 16′
Oktave 8′ n
Oktave 4′
Nachthorn 2′ o1[Anm. 11]
Mixtur III-IV Kl/n
Posaune 16′ A&B
Trompete 8′ A&B
Kornett 2′ A&B
  • Koppeln: II/P, I/P, III/II, I/II.
o1 = vermutlich Andreas de Mare (Kloster Thedinga, um 1570)
o2 = Marten de Mare unter Verwendung älterer Stimmen aus dem Kloster Thedinga (1608/1609)
Hi = Albertus Anthonius Hinsz (1763/1766)
Hö = Wilhelm Höffgen, Brond de Grave-Winter (1845–1850)
Ro = Rohlfing (1888)
Kl = Klassmeyer (1924)
n = Paul Ott (1953–1955)
A&B = Ahrend & Brunzema (1963–1971)
Anmerkungen
  1. Altmaterial.
  2. Diverse.
  3. gis1-a2 de Mare und 18. Jh. aus Oktave 4′.
  4. cs0-f3 de Mare, Einzeltöne Hinsz.
  5. C-c3 de Mare vor 1609 / Änderung 1609.
  6. Um 2 Halbtöne aufgerückt.
  7. Neu, teilweise altes Material von Hinsz (foliiert).
  8. C-f1 de Mare / Umarbeitung Hinsz.
  9. 2 2/3′-Chor aus Gamba 8′ Rohlfing.
  10. C-c3 Kehlen de Mare, Becher 18. Jh.
  11. Ott-Umarbeitung als Hohlflöte 4′.

Technische Daten

  • 37 Register
  • Traktur:
    • Tontraktur: Mechanisch
    • Registertraktur: Mechanisch
  • Gleichstufige Stimmung
  • Windladen Hauptwerk von Hinsz
  • Windladen Pedalwerk von Höffgen

Bedeutung

Innerhalb der Orgellandschaft Ostfriesland mit ihrem reichen Orgelbestand aus sechs Jahrhunderten stellt die Orgel in Leer nach der gotischen Orgel der Rysumer Kirche das zweitälteste Instrument dar. Eingreifende Umbauten haben zwar die äußere Gestalt mehrfach stark verändert, ein Grundbestand an alten Pfeifen wurde aber jeweils übernommen.

LKMD Winfried Dahlke, Leiter des Organeum (Weener) und Organist an der Großen Kirche, inventarisierte die Tonbuchstaben auf dem alten Pfeifenbestand im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts (2006–2008) und erstellte in Zusammenarbeit mit Jürgen Ahrend eine sorgfältige Dokumentation der Forschungsergebnisse und der Baugeschichte der Orgel.[7] Diese Untersuchung soll Grundlage für eine erforderliche Restaurierung sein. Angesichts des gewachsenen Bestandes ist eine Rekonstruktion eines bestimmten früheren Zustands nicht sinnvoll, sodass eine Konservierung des historischen Materials angestrebt wird und nur spätere mangelhafte Veränderungen rückgängig gemacht werden sollen.

Im Sommer finden regelmäßig Orgelkonzerte in der Großen Kirche statt.[8]

Literatur

  • Jürgen Ahrend, Winfried Dahlke: Dokumentation der Orgel der Evangelisch-Reformierten Großen Kirche zu Leer. Print-on-Demand, ohne Ort [Stade] ohne Jahr [2008].
  • Günter Lade (Hrsg.): 40 Jahre Orgelbau Jürgen Ahrend 1954-1994. Selbstverlag, Leer-Loga 1994.
  • Walter Kaufmann: Die Orgeln Ostfrieslands. Ostfriesische Landschaft, Aurich 1968, S. 153–155.
  • Uda von der Nahmer: Windgesang. Orgeln, Wind und Verwandte. Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und Vertriebsgesellschaft, Aurich 2008, ISBN 978-3-940601-03-2, S. 26–27.
  • Wessel Onken: Aus Leers Vergangenheit (Chronik des Fleckens Leer). Loeser, Reinbek 2007.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Siehe Orgel in Stellichte mit Foto (gesehen 28. April 2011).
  2. Ahrend, Dahlke: Dokumentation. 2008, S. 240–248.
  3. a b c d e Dispositionen nach Ahrend, Dahlke: Dokumentation. 2008, S. 12–17.
  4. Kaufmann: Orgeln in Ostfriesland. 1968, S. 153; Ahrend, Dahlke: Dokumentation. 2008, S. 11.
  5. Ahrend, Dahlke: Dokumentation. 2008, S. 75.
  6. Siehe Ahrend, Dahlke: Dokumentation. 2008, S. 9.
  7. Ahrend, Dahlke: Dokumentation. 2008; Institut des Organeums (gesehen 28. November 2008).
  8. Hinweise auf Konzerte (gesehen 24. März 2010).
53.2284497.449674

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