Rotes Wien

Rotes Wien

Als Rotes Wien wird die österreichische Hauptstadt Wien in der Zeit von 1918 bis 1934 bezeichnet, als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) bei den Wahlen zu Landtag und Gemeinderat wiederholt die absolute Mehrheit erreichte. Die sozialdemokratische Kommunalpolitik dieser Jahre war geprägt von umfassenden sozialen Wohnbauprojekten und von einer Finanzpolitik, die neben dem Wohnbau auch umfangreiche Reformen in der Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik unterstützen sollte. Die Sozialdemokratie bildete „durch ihre Stellung in Wien einen Machtfaktor, der sich als Blockade gegen die uneingeschränkte Realisierung einer Politik zu Lasten der Lohnabhängigen […] erwies“[1], einen Gegenpol zur Politik der Christlichsozialen Partei (CS), die damals in den anderen Bundesländern und auf Bundesebene regierte. Das „Rote Wien“ endete 1934, als Bürgermeister Karl Seitz in Folge des österreichischen Bürgerkrieges seines Amtes enthoben und verhaftet wurde und die aus der CS hervorgegangene Vaterländische Front (VF) auch in Wien die Macht übernahm.

Da die Sozialdemokraten seit 1945 wieder ununterbrochen den Bürgermeister und die Mehrheit im Wiener Landtag und Gemeinderat stellen, wird der Begriff von politischen Gegnern mitunter auch als polemische Bezeichnung für die von der SPÖ dominierte Stadtverwaltung verwendet.

Inhaltsverzeichnis

Gesellschaftliche Bedingungen

Gall-Hof, erbaut 1924–1925 mit der Wohnbausteuer
Pestalozzihof, erbaut 1925–1926 mit der Wohnbausteuer

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Donaumonarchie wurde in Österreich die Republik ausgerufen. Bei den Gemeinderatswahlen am 4. Mai 1919 – erstmals waren Frauen und Männer aus allen Schichten berechtigt, den Gemeinderat zu wählen – errang die Sozialdemokratische Partei in Wien die Mehrheit. Obwohl die Volksvertreter nun freie Hand hatten, standen sie vor einer schwierigen Aufgabe. Beamte aus zum Ausland gewordenen Gebieten kehrten zu Tausenden in ihre Heimatländer zurück, Flüchtlinge aus dem zeitweise russisch besetzten Galizien und ehemalige Soldaten der k.u.k. Armee kamen zumindest vorübergehend nach Wien.

Die neuen Staats- und Zollgrenzen zur Tschechoslowakei und Ungarn, woher Wien bis dahin versorgt worden war, machten Lebensmittellieferungen nach Wien schwierig. (Mit Hilfe der flächendeckend bestehenden sozialistischen Konsumvereine gelang es, die Lebensmittelversorgung der Stadt sicherzustellen.) Im neuen Österreich wurde die Hauptstadt als „Wasserkopf“ – als viel zu groß für das kleine Land – betrachtet. Dazu kam die kriegsbedingte Hyperinflation, der erst 1925 die Währungsreform von der Krone zum Schilling folgte. Bis dahin hatten Löhne und Gehälter oft schon wenige Stunden nach Auszahlung drastisch an Wert verloren.

In den überfüllten Mietwohnungen und Notunterkünften mit spärlichen sanitären Einrichtungen grassierten Krankheiten wie Tuberkulose („Wiener Krankheit“), spanische Grippe und Syphilis. Zur extremen Wohnungsnot kam die hohe Zahl der Arbeitslosen.

„Waren die letzten Jahrzehnte der Habsburgermacht unter dem Signum ‚hoffnungslos, aber nicht ernst‘ gestanden, so gab es jetzt viele, die einen düsteren Ernst der Lage diagnostizierten, wo sich endlich konstruktive Möglichkeiten für soziales und politisches Handeln zeigten. Für die pragmatische Mehrheit bestand allerdings die vordringlichste Aufgabe darin, diese Möglichkeiten zu nutzen. […] Im neuen Österreich gab es für die Intellektuellen genug positive Arbeit. Für Leute wie Hans Kelsen und Karl Bühler gab es wenig Grund zum Zweifel an der Möglichkeit, Werte im praktischen gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen. Eine Verfassung musste ausgearbeitet, ein Parlament eingerichtet, das funktionierende System einer sozialen Demokratie in Gang gebracht werden. […] Es war in den Augen der Pragmatiker eine Zeit des Aufbaus und des Optimismus.“[2]

Der tristen materiellen Ausgangslage standen also beachtliche intellektuelle Ressourcen gegenüber. Der später weltbekannte Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Friedrich Torberg und viele andere Wissenschaftler, Künstler, Publizisten und Architekten, die in Wien lebten, standen der Aufbauarbeit der sozialdemokratischen Stadtverwaltung positiv gegenüber und beteiligten sich nicht an der grundsätzlichen Gegnerschaft der Christlichsozialen Partei zum Reformwerk.

Kommunalpolitik

Die Bundespolitik der Rot-Schwarzen Koalition 1918–1920 brachte bereits sieben Tage nach der Ausrufung der Republik den gesetzlich verankerten Achtstundentag und in der Folge die Arbeitslosenversicherung. Auch die Arbeiterkammer als gesetzliche Interessensvertreung der Arbeiter und Angestellten entstand zu dieser Zeit. Der Reformeifer der Sozialdemokraten wurde jedoch mit zunehmendem Abstand zum Kriegsende von den Christlichsozialen immer weniger geteilt. Die Koalition ging 1920 zu Bruch, bis 1945 waren die Sozialdemokraten dann im Gesamtstaat in Opposition oder im Untergrund.

Umso mehr bemühten sie sich, Wien, wo sie praktisch allein regieren konnten, zur Musterstadt sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik zu machen. Ihre Politik wurde damals als spektakulär betrachtet und in ganz Europa beachtet. Die Konservativen hassten diese Politik teilweise, konnten jedoch vorerst gegen die Wahlerfolge der Sozialdemokraten in Wien nichts ausrichten.

Wien war seit Jahrhunderten auch Hauptstadt des nunmehrigen Bundeslandes Niederösterreich gewesen. Mit seiner starken sozialdemokratischen Majorität und den Sozialdemokraten aus dem niederösterreichischen Industrieviertel um Wiener Neustadt stellten die „Roten“ auch den ersten demokratischen Landeshauptmann von Niederösterreich, Albert Sever. Da sich das Bauernland nicht von den „Roten“ regieren lassen wollte, die Wiener „Sozis“ sich hingegen von der konservativen Landbevölkerung nicht in ihre Kommunalpolitik dreinreden lassen wollten, waren die beiden großen Parteien bald darin einig, das „rote Wien“ vom „schwarzen Niederösterreich“ zu trennen.

Diese Trennung wurde 1921 in Verfassungsgesetzen beschlossen und trat am 1. Jänner 1922 in Kraft. Wien wurde eines der Länder der Republik: Der Bürgermeister war nun auch Landeshauptmann, der Stadtsenat auch Landesregierung, der Gemeinderat auch Landtag. Durch den neuen Status als Bundesland war es der Stadt Wien erstmals möglich, eigenständig Steuern zu erheben. Damit war die eigenständige Politik der Gemeinde Wien, wie sich die Stadt, ihren Rang herunterspielend, gern nannte, gesichert.

Städtischer Wohnungsbau

Wegen der extremen Wohnungsnot wurde die Schaffung von neuen Wohnungen das wichtigste Ziel der Sozialdemokraten. Mit dem Wohnanforderungsgesetz des Bundes von 1919 konnte bereits eine bessere Auslastung der Wohnungen erzielt werden. Weil der vom k.k. Gesamtministerium 1917 verordnete und sogleich auf Wien erstreckte Mieterschutz (RGBl. 34 und 36/1917) die Mietzinse auf Vorkriegsniveau festschrieb, lohnte sich das Bauen für Privatleute nicht mehr. Mangels Nachfrage von privater Seite waren Bauland und Baukosten für die Gemeinde günstig.

Von 1925 bis 1934 entstanden auf diese Weise über 60.000 Wohnungen in Gemeindebauten. Große Wohnblocks wurden um einen Hof mit weiten Grünflächen gebaut. Berühmte Beispiele sind der Karl-Marx-Hof oder der George-Washington-Hof. Die Wohnungen wurden nach einem Punktesystem vergeben. Familien oder Personen mit einem Handicap erhielten Pluspunkte. Die neuen Wohnungen wurden zu 40 Prozent aus dem Ertrag der im Land Wien eingeführten Wohnbausteuer und der Rest durch die Wiener Luxussteuer und Bundesgelder finanziert. Damit konnte die Mietzinsbelastung in den städtischen Wohnungen für einen Arbeiterhaushalt auf vier Prozent des Einkommens gesenkt werden, während es vorher 30 Prozent waren. Bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit wurde der Mietzins gestundet.

Finanzpolitik

Die Wiener Sozialdemokraten führten landesgesetzlich neue Abgaben ein, die zusätzlich zu den Bundessteuern erhoben wurden (von Kritikern nach Finanzstadtrat Hugo Breitner Breitner-Steuern genannt). Luxus wurde speziell besteuert: Auf Reitpferde, große Privatautos, Dienstpersonal in Privathaushalten, Hotelzimmer und andere Luxusgüter wurde eine Luxussteuer erhoben. (Um ihren praktischen Nutzen darzustellen, rechnete die Stadtverwaltung vor, welche sozialen Einrichtungen nur aus der Dienstbotensteuer finanziert wurden, die der Wiener Zweig der Familie Rothschild zu begleichen hatte.)

Die neue Wohnbausteuer war ebenfalls progressiv ausgestaltet. Aufgrund des noch in der Endphase des Ersten Weltkriegs eingeführten Mieterschutzes und der nominell eingefrorenen, durch die Inflation entwerteten Mieten war der vor 1914 dominierende private Mietwohnungsbau zum Erliegen gekommen. Die Wohnbausteuer diente nun dazu, den Wohnungsbau seitens der Gemeinde wieder anzukurbeln (dennoch betrug auch im obersten Segment die Gesamtbelastung von Miete plus Wohnbausteuer nur 20 bis 37 Prozent). Durch diese Maßnahmen wurden die niederen Einkommen entlastet und die höheren belastet. Trotz aller Unkenrufe aus Wirtschaftskreisen konnte Wien den prozentuellen Anteil seiner Arbeitslosen im Verhältnis zum übrigen Österreich oder zu Deutschland senken. Investitionen der Gemeinde wurden direkt durch Steuereinnahmen und nicht über Kredite finanziert. Damit blieb man unabhängig von Kreditgebern, und das Budget wurde nicht durch Schuldzinsen belastet. Auch die Mietzinse der städtischen Wohnungen konnten so tief gehalten werden.

Andererseits musste Hugo Breitner, der es – im Unterschied zu den Sozialdemokraten seit 1945 – grundsätzlich ablehnte, Sozialleistungen aus Krediten zu finanzieren, diese Leistungen kürzen, als die Bundesregierung anfangs der dreißiger Jahre begann, das Rote Wien finanziell auszuhungern.

Sozial- und Gesundheitspolitik

Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien, heute: Julius-Tandler-Familienzentrum

Die städtische Sozial- und Gesundheitspolitik wurde durch günstige Leistungen der städtischen Gas- und Elektrizitätswerke und der Müllabfuhr verbessert. Jeder Säugling bekam gratis ein Wäschepaket, damit „kein Wiener Kind mehr in Zeitungspapier gewickelt werden musste“. Zur Erleichterung der Berufstätigkeit der Mütter und um der Verwahrlosung von Kindern auf der Straße vorzubeugen, wurden Horte, Kindergärten und Kinderfreibäder eingerichtet. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung war kostenlos. Es gab Angebote für Kuraufenthalte und Ferienkolonien sowie öffentliche Bäder und Sportanlagen zur Körperertüchtigung. Nach den Worten des Sozial- und Gesundheitsstadtrates Julius Tandler war man sich der gesamtgesellschaftlichen Dimension dieser Maßnahmen bewusst: „Was wir für die Jugendhorte ausgeben, werden wir an Gefängnissen ersparen. Was wir für Schwangeren- und Säuglingsfürsorge verwenden, ersparen wir an Anstalten für Geisteskranke.“ Tandler gründete 1925 die Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien. Der Steigerung der Sozialausgaben auf das Dreifache der Vorkriegszeit stand eine Reduktion der Säuglingssterblichkeit unter den österreichischen Durchschnitt und der Tuberkulose um die Hälfte gegenüber.

Bildungspolitik

Trotz eingeschränkten Kompetenzen, da Bildung Sache des Bundes war, begann Wien mit einer Schulreform. Otto Glöckel, der von 1919 bis 1920 sozialdemokratischer Unterrichtsminister in Österreich war, wurde als Leiter des Wiener Stadtschulrates die treibende Kraft der Wiener Schulreform. Die Bildungsreform profitierte davon, dass das Wien Sigmund Freuds und Alfred Adlers eine Hochburg der noch jungen Tiefenpsychologie war. Am „Schaltbrett der Erziehung“, in der Lehrerausbildung, in der Elternberatung usw. wirkten vor allem individualpsychologisch ausgebildete Lehrer, Ärzte und Sozialarbeiter. Neue Formen der Schulorganisation (Arbeitsschule), der Schülermitbestimmung und der Erwachsenenbildung wurden ausprobiert. Der kostenlose Schulbesuch und Stipendien sollten allen Schichten gleiche Bildungschancen ermöglichen und das Volk für die Demokratie schulen. Nach der Theorie des Austromarxismus sollten Kinder und Erwachsene erzogen werden, um als „neue Menschen“ den Sozialismus zu verwirklichen. Trotz Widerständen wurde der Religionsunterricht von der Kirche getrennt.

Kultur und Freizeit

Die Sozialdemokratische Partei kümmerte sich in Institutionen, die man heute „Vorfeldorganisationen“ der Partei nennen würde, um den kulturellen, sportlichen und gesellschaftlichen Sektor. Gefördert wurden über fünfzig sozialdemokratische Vereine für verschiedenste Interessen inklusive Sportvereine zur Kräftigung des „Körpers für den Kampf der Arbeiterbewegung“. Neben dem eigentlichen Vereinszweck gab es immer auch Bildungsarbeit und Geselligkeit. Obwohl in diesen Vereinen selbst das Privatleben der Parteimitglieder sozialistisch gestaltet wurde, blieben die meisten Parteimitglieder zu Hause der kleinbürgerlichen Welt verhaftet. Einige Vereine bestehen – teils unter geändertem Namen – bis heute, beispielsweise:

Im Juli 1926 wurden in Wien ein Automobil-Blumenkorso, ein Riesenfeuerwerk auf der Hohen Warte, das Arbeiter-Turn- und Sportfest (60.000 Teilnehmer) und das Deutsche Turnerfest (50.000 Teilnehmer) gefeiert. Im September 1926 fand die Enthüllung des Dr.-Karl-Lueger-Denkmals (60.000 Teilnehmer) statt. 1928 war Wien Veranstaltungsort des 10. Deutschen Sängerbundesfestes, an dem laut Polizeibericht über 200.000 Personen teilnahmen. 1929 gab es einen Gewerbefestzug, einen Katholikentag und ein Sozialistisches Jugendtreffen als Großveranstaltungen [3].

1928–1931 baute die Stadtverwaltung das (Prater-)Stadion. Es wurde im Juli 1931 mit der II. Arbeiterolympiade eröffnet. Die Aufführung des Films Im Westen nichts Neues nach dem Roman von Erich Maria Remarque führte zu tagelangen, stürmischen Gegenkundgebungen der Nationalsozialisten. Im September 1933 – das Parlament war bereits ausgeschaltet – trafen einander Hunderttausende aus In- und Ausland beim Katholikentag, der (250 Jahre nach 1683) mit einer großen „Türkenbefreiungsfeier“ verbunden wurde. Nun blieben kulturelle und sportliche Massenveranstaltungen dem sich formierenden Ständestaat vorbehalten; der traditionelle Maiaufmarsch war den Sozialdemokraten 1933 bereits verboten worden [4].

Politiker

Für das Rote Wien stehen vor allem folgende politischen Mandatare:

Einzelnachweise

  1. Emmerich Tálos, Walter Manoschek: Zum Konstituierungsprozess des Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos, Walter Neugebauer (Hrsg.): „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien ²1984, ISBN 3-900351-30-9, S. 32
  2. Allan Janik, Stephen Toulmin: Wittgensteins Wien. Simon & Schuster, New York 1973. Hanser, München 1984. S. 321 f.
  3. 80 Jahre Wiener Sicherheitswache. Hrsg. Bundespolizeidirektion Wien. Jugend und Volk, Wien 1949. S. 55–58
  4. 80 Jahre Wiener Sicherheitswache. Hrsg. Bundespolizeidirektion Wien. Jugend und Volk, Wien 1949. S.59–62

Weblinks


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