- Temperatur (Musik)
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Unter der Sammelbezeichnung wohltemperierte Stimmungen führte Andreas Werckmeister ab 1681 eine Reihe von Stimmungen auf Tasteninstrumenten ein, die enharmonische Verwechslungen ermöglichen und damit die Tonarten des gesamten Quintenzirkels praktisch brauchbar machen und bisher unmögliche Transpositionen erlaubten.
Inhaltsverzeichnis
Herleitung des Begriffes
Das Verb temperieren kommt von lat. temperare, was soviel wie „richtig bemessen“ bedeutet; es meint in der Musik, dass Intervalle gezielt ein wenig unrein gestimmt werden, damit störende Mikrointervalle wie das syntonische und das pythagoreische Komma verschwinden. Diese Mikrointervalle verhindern das Transponieren in beliebige Tonarten mit den üblichen zwölf Tasten und erfordern bei reiner Stimmung viele zusätzliche Tasten, wie etwa das 31-stufige Archicembalo von Nicola Vicentino, das die damals übliche mitteltönige Stimmung transponierfähig erweitert. Werckmeister verurteilte derartige Instrumente als „Flickwerke der Subsemitonien“.
Charakteristik
Charakteristisch für wohltemperierte Stimmungen ist, dass alle wichtigen Intervalle nur soweit von der reinen Stimmung abweichen, wie es das Ohr gut toleriert. Seine berühmte Stimmung Werckmeister III hat weite Verbreitung gefunden. Sie hat als zusätzliche Eigenschaft eine möglichst reine Stimmung auf den weißen Tasten. Dadurch entsteht ein harmonisches, mitteltönig klingendes C-Dur mit einem allmählichen Übergang in ein schärferes pythagoräisch klingendes Fis-Dur. Das heißt, diese Stimmung erzeugt eine durchaus angestrebte, ausgeprägte Tonartencharakteristik, die durch gezielt ungleichmäßiges Stimmen der zwölf Quinten des Quintenzirkels entsteht.
Beziehung zwischen wohltemperiert und gleichstufig
Unsere heutigen Klaviere werden meist gleichstufig temperiert (historische Begriffe dafür: gleichmäßig, gleichschwebend). Hier geht die Tonartencharakteristik verloren, da alle kleinen Sekunden möglichst gleichmäßig als lauter gleiche Halbton-Schritte gestimmt werden. Diese gleichmäßige zwölfstufige Temperatur kannte Werckmeister von Gioseffo Zarlino, dessen geometrische Monochord-Konstruktion von 1588 er zitierte. Zarlino beschrieb sie aber als Lautenstimmung, die schon lang vor ihm im frühen 16. Jahrhundert wohlbekannt war. Auf das „wohltemperierte Klavier“ übertrug sie Werckmeister erst gut anderthalb Jahrhunderte später, und zwar reihte er sie im Anhang seiner Generalbaßschule von 1698 ausdrücklich unter die wohltemperierten Stimmungen als Grenzfall ein. Das übernahmen später andere Temperatur-Theoretiker wie Georg Andreas Sorge (1744). Die gleichstufige Stimmung wurde jedoch wegen der Einebnung der Tonartencharakteristik und wegen bis dahin nicht befriedigend gelöster stimmtechnischer Probleme von manchen Theoretikern abgelehnt, etwa vom Bach-Schüler Johann Philipp Kirnberger, der ab 1766 eigene, ungleichmäßige wohltemperierte Stimmungen entwarf, die sich wesentlich schneller auf Tasteninstrumenten anwenden ließen.
Die weit verbreitete Behauptung (etwa im Brockhaus), der Begriff wohltemperierte Stimmung sei mit der gleichstufigen Stimmung identisch, ist also unzutreffend. Auch das bekannte Werk Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach (1685–1750) diente nicht der Demonstration der gleichstufigen Stimmung, sondern vielmehr dem Hervorheben der Tonartcharaktere sowie der systematischen Anleitung, anders als bei der damals üblichen, mitteltönigen Stimmung möglich, in den Tonarten des gesamten Quintenzirkels zu komponieren. Wie Bach genau gestimmt hatte, lässt sich aus dem kontroversen Streit zwischen dem Bach-Schüler Kirnberger und Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) nicht sicher erschließen.
Siehe auch
Literatur
Historische Abhandlungen
- Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik. Königsberg 1774
- Johann Georg Neidhardt: Sectio Canonis harmonici. Königsberg 1724.
- Andreas Werckmeister: Orgel-Probe oder kurtze Beschreibung ... wie durch Anweiss und Hülffe des Monochordi ein Clavier wohl zu temperiren und zu stimmen sey.... Frankfurt und Leipzig 1681
- Ders.: Musicalische Temperatur. Quedlinburg, 1691.
- Ders.: Die notwendigsten Anmerkungen und Regeln wie der Bassus continuus oder Generalbaß wol könne tractieret werden. Aschersleben 1698.
- Giuseppe Zarlino: Sopplimenti musicali. Venedig 1588.
Neuere Fachliteratur
- Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach – Das Wohltemperierte Klavier. Bärenreiter, Kassel 1998, ISBN 3-7618-1229-9
- Herbert Kelletat: Zur musikalischen Temperatur. Teil I. Johann Sebastian Bach und seine Zeit (ISBN 3-87537-156-9); Teil II. Wiener Klassik (ISBN 3-87537-187-9); Teil III. Franz Schubert (ISBN 3-87537-239-5), Edition Merseburger, Kassel 1981–1994
- Mark Lindley: Stimmung und Temperatur. In: Frieder Zaminer (Hrsg.): Geschichte der Musiktheorie. Bd. 6. Darmstadt 1987 S. 109-332, ISBN 3-534-01206-2
- Mark Lindley und Ibo Ortgies: Bach-Style Keyboard Tuning. In: Early Music, Oxford, November 2006. S. 613–623
- Wilfried Neumaier: Was ist ein Tonsystem?. Frankfurt am Main, Bern, New York 1986, ISBN 3-8204-9492-8
- Ibo Ortgies: Temperatur. In Bach-Handbuch 4: Klavier- und Orgelmusik, ed. by Siegbert Rampe. Laaber: Laaber-Verlag, 2007: 623–640. = Reinmar Emans, Sven Hiemke, and Klaus Hofmann (eds.), vol. 4 (appeared in 2 vols.), Bach-Handbuch (7 vols.)
- Jürgen Grönewald: Hat Johann Sebastian Bach gleichschwebend gestimmt? In Ars Organi 57, 2009, H. 1, S. 38-41
Weblinks
- Vergleich verschiedener wohltemperierter Stimmungen
- Intervall-Umrechnung - Frequenzverhältnis (ratio) - Frequenz nach cent und cent nach Frequenz
- Bach- and Well Temperaments for Western Classical Music, A proposal for an objective musical definition
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