Bill Traylor

Bill Traylor

Bill Traylor (* 1. April 1856, nach anderen Angaben 1854, bei Benton, Alabama; † 23. Oktober 1949 in Montgomery, Alabama) war ein afroamerikanischer autodidaktischer Zeichner und Maler.

Leben und Werk

Bill Traylor wurde in einer Hütte in der Nähe von Benton als Sohn von Sklaven auf einer Baumwollplantage geboren. Von Geburt an trug er den Familiennamen seines „Besitzers“, Traylor. Das Bürgerkriegsende in den amerikanischen Südstaaten 1865 erlebt der Neunjährige als Trauma: Durchziehende Unionstruppen hatten die Plantage niedergebrannt und geplündert. Ein Erlebnis, von dem Traylor noch als Greis erzählen wird.

Die Familie bleibt auch nach der Befreiung in der Hütte wohnen und arbeitet nun als Landarbeiter; auch Traylor soll diesen Beruf nahezu siebzig Jahre lang ausüben, wenn auch auf eigener kleiner Scholle. Seit 1891 ist er verheiratet und zieht mit seiner Frau neun Kinder groß. Nach dem Tod seiner Frau und dem Auszug auch des jüngsten seiner Kinder verlässt er 1935 nach mehr als achtzig Jahren sein vertrautes Lebensumfeld und zieht in Alabamas Hauptstadt Montgomery. Trotz seines hohen Alters arbeitet er noch kurze Zeit in einer Schuhfabrik, lebt später von Sozialhilfe. Die Straße, in der er lebt, liegt allerdings nicht in einem Armenviertel, sondern wird hauptsächlich von schwarzer Mittelschicht bewohnt.

1939 entdeckt der junge Maler Charles Shannon (1914–1996) bei einem Streifzug Traylor zufällig auf der Straße: Er sitzt im Freien vor einer Schmiede, später einem Gemüseladen, und fertigt kleine Bleistiftzeichnungen auf Karton – Objekte seines Alltags wie Schuhe, Tassen und Ratten – und heftet sie an einen Zaun. Passanten kaufen ihm diese Arbeiten für ein paar Cents ab. Shannon besorgt ihm neue Maluntensilien wie Pinsel und Farben und fotografiert den alten Mann bei der Arbeit.

Shannon, der sich sehr für die Kunst des schwarzen Amerikas interessierte, gehörte zum sogenannten "New South", einer Gruppe kulturbeflissener junger Leute aus der weißen gebildeten Mittel- und Oberschicht von Montgomery, wo zu dieser Zeit noch strikte Rassentrennung herrschte. Im Februar 1940 veranstaltet die Gruppe in ihrem Klublokal eine Ausstellung unter dem Titel Bill Traylor. People´s Artist mit einhundert Zeichnungen. Zu einer Zeit, als in Alabama Lynchjustiz vor allem gegen Schwarze noch an der Tagesordnung war und der Ku-Klux-Klan Einfluss bis in die Spitzen der Gesellschaft hatte, sicher kein ganz ungefährliches Unterfangen. Die lokale Presse berichtet wohlwollend, die Zeitschrift "New South" widmet Traylor eine Titelstory.

Shannon unterstützt Traylor mit Geld und Materialien und holt die unter der Woche entstandenen Arbeiten regelmäßig am Wochenende ab; Traylor soll, so später Zeitzeugen, geglaubt haben, er arbeite für Shannon. 1941 fährt Shannon ohne Traylors Wissen mit einem Konvolut von dessen Bildern nach New York City, um sie dort Freunden aus der Kunstszene zu zeigen.

Es ist die Zeit, in dem intellektuelle Weiße die Kultur des schwarzen Amerikas für sich entdecken: 1937 hatte das Museum of Modern Art (MoMA) erstmals in einer Einzelausstellung Arbeiten eines schwarzen Künstlers, des autodidaktischen Bildhauers William Edmonson, gezeigt; "Lady Day" Billie Holiday trat gemeinsam mit weißen Musikern auf und schrieb mit ihrem Anti-Diskriminierungs-Song Strange Fruit Jazzgeschichte; die schwarze Tänzerin Josephine Baker eroberte Paris und die Schweizer Fotografin Annemarie Schwarzenbach bereiste die Südstaaten und hatte bereits 1937 eindrucksvolle Fotostrecken schwarzer Alltagskultur auch aus Montgomery heim nach Europa gebracht.

Spätestens seit dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 ist eine sich liberal gebende amerikanische Kultur-Elite darum bemüht, dem schwarzenfeindlichen Image der US-amerikanischen weißen Gesellschaft entgegenzuarbeiten: Schließlich kämpfen auch schwarze GIs gegen die Rassenideologen in Deutschland und Japan.

1942 zeigt die Fieldston School of the Ethical Culture Schools in Riverdale, New Jersey, die Ausstellung Bill Traylor, American Primitive (Work of an Old Negro); Kurator ist Victor d’Amico, jahrelanger museumspädagogischer Leiter des Moma. Alfred Barr, ehemaliger Direktor des berühmten Museums, will sechzehn Arbeiten für die Museumssammlung und weitere für seine Privatsammlung und die seiner Mitarbeiter ankaufen – für 1 bis 2 US-Dollar das Stück. Shannon lehnt ab und nimmt die Zeichnungen wieder mit nach Montgomery zurück. Er wird Kriegsmaler im Südpazifik und kehrt erst 1946 nach Alabama zurück.

Von all diesen Vorgängen um seine Person und seine Arbeiten ahnt Bill Traylor nichts. Der über Achtzigjährige ist schwer krank, verfällt körperlich zunehmend und kann kaum noch malen und zeichnen. Alle seine Arbeiten, die nach 1942 entstanden sind, sind heute verschollen. Eine Zeitlang lebt er abwechselnd bei einem seiner Kinder in Washington, D.C., Detroit, Chicago, New York City und Philadelphia, hält es aber nirgendwo lange aus. Irgendwann in dieser Zeit wird ihm wegen Faulbrand ein Bein amputiert. Schließlich kehrt er nach Montgomery zurück und bezieht seinen alten Platz neben dem Gemüsestand; nur noch wenige künstlerische Arbeiten entstehen.

Im Juni 1946 erscheint in der USA-weit verbreiteten Zeitschrift Collier’s eine große Reportage über Bill Traylor. Der Maler, der zuletzt zurückgezogen bei einer Tochter gelebt hatte, stirbt in einem Krankenhaus in Montgomery.

In den 1970er Jahren katalogisieren Shannon und seine Frau und Kollegin Eugenia Carter Shannon rund 1.500 Zeichnungen Traylors aus den Jahren 1939-1942. 1979 zeigt die R.H. Oosterom Gallery in New York eine Auswahl der Arbeiten in einer Gruppenausstellung, 1982 die renommierte Corcorian Gallery of Art in Washington, D.C. im Rahmen der Schau Black Folk Art in America 1930–1980. Diese Ausstellung macht Traylor und sein Werk berühmt, zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen folgen, u. a. in San Francisco, Atlanta, New Orleans, Dallas und Kansas City sowie mehrfach in Washington und New York. Außerhalb der USA ist er besonders häufig in Tokio zu sehen, in Europa wandern seine Werke durch Museen und Galerien in Amsterdam, Bern und Köln, Lausanne, Malmö und Paris. Die letzte, großangelegte Doppelausstellung im deutschsprachigen Raum war 1998/1999 in Köln (Museum Ludwig) und Bern (Kunstmuseum).

Mittlerweile erzielten Traylors Werke im Kunsthandel und bei Auktionen, z. B. bei Sotheby’s, mehrstellige hohe Preise. Die Traylor-Erben strengten gegen die Shannons einen Prozess um das rechtmäßige Eigentum an den Zeichnungen an, der 1993 in einem Vergleich endete: darin erkannten die Erben den maßgeblichen Anteil Shannons an Traylors spätem Ruhm an.

Heute ist Bill Traylor einer der populärsten und bekanntesten afroamerikanischen bildenden Künstler, zahlreiche Bücher und eine Dissertation über ihn sind erschienen, seine oft farbintensiven figürlichen Arbeiten von nahezu naiver Schlichtheit sind auch beliebt als Kunstpostkarten. Ob das, was der alte Mann aus Alabama in nur wenigen Jahren mit dem Einsatz sparsamster Mittel im Spätherbst seines Lebens zu Papier gebracht hat, wirklich Kunst ist, daran scheiden sich allerdings bis heute die Geister nicht nur der Kunsthistoriker.

Sicher trafen die berührend einfachen Bilder in den späten 1970er und 1980er Jahren den Nerv eines an den Wurzeln der eigenen Geschichte zunehmend interessierten, umwelt- und friedensbewegten neuen Amerikas. Heutige Ausstellungen werden eher kritisch begleitet, auch im Hinblick auf eine nicht ganz auszuschließende posthume Ausbeutung eines „naiven“ Vorzeige-Schwarzen durch den etablierten Kunstmarkt im Stil eines modernen Onkel Tom.

Literatur

  • Josef Helfenstein und Roman Kurzmeyer: Bill Traylor (1854–1949). Deep Blues (mit Beiträgen von John Berger u. a.). Buch zur Ausstellung, Kunstmuseum Bern und Museum Ludwig, DuMont Buchverlag, Köln 1998 (englische Ausgabe Yale University Press 1999)
  • Ders. und Roxanne Stanulis (Hrsg.): Bill Traylor, William Edmonson and the Modernist Impulse, Kranert Art Museum, University of Illinois 2005
  • Andrea L. Potochik: Bill Traylor. African-American Outsider Artist, Diss., Florida State University 1992
  • Bill Traylor Postcard Book (30 Kunstpostkarten), Art Post 2000

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