- Deutschböhmen und Deutschmährer
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Der Begriff Deutschböhmen (tschechisch Čeští Němci) ist eine Sammelbezeichnung für die deutschsprachigen Bewohner Böhmens oder auch der gesamten früheren Länder der Böhmischen Krone sowie für das Siedlungsgebiet dieser Bevölkerungsgruppe. In den zur böhmischen Krone gehörenden Ländern Mähren und Schlesien sprach man von Deutschmährern (Moravští Němci) und deutschsprachigen Sudetenschlesiern. Die Bezeichnungen Deutschböhmen und Deutschmährer kamen nach den nationalen Umbrüchen 1848, gleichzeitig mit der häufigeren Verwendung des Begriffs Tschechen, allmählich in Gebrauch.[1] Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff Sudetendeutsche gebräuchlicher. Durch den Begriff Sudetendeutsche fühlten sich allerdings wiederum andere lange ansässige, deutschsprachige Bevölkerungsgruppen ausgeklammert. Außerdem sind die Begriffe Deutschböhmen und Deutschmährer insofern genauer, weil viele Siedlungsgebiete weit abseits der Sudeten lagen. Deutschböhmen und Deutschmährer wurden bis zum Ende der Donaumonarchie meist primär als Angehörige der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe Altösterreichs wahrgenommen. Im heutigen Tschechien werden im Zusammenhang mit der deutschen Minderheit entweder ebenfalls die Bezeichnungen „Deutschböhmen“ und „Deutschmährer“ verwendet, häufiger spricht man jedoch schlicht von den Deutschen in der Tschechischen Republik.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Mittelalter und frühe Neuzeit
Deutschsprachige Bewohner gab es schon seit dem Mittelalter in den böhmischen Ländern[2]. So warben die Přemysliden im 13. Jahrhundert Siedler aus deutschsprachigen Gebieten an, um die böhmischen Grenzgebiete zu besiedeln. 1348 wurde die Karls-Universität Prag gegründet, die lange Zeit kulturell und sprachlich deutsch geprägt war. Über Jahrhunderte spielten deutschsprachige Böhmen eine wichtige Rolle in Wirtschaft und Politik der böhmischen Länder. So war beispielsweise die Glaserzeugung ein in deutschböhmischen Gebieten verbreiteter Wirtschaftszweig. Ein eigenständiges deutschböhmisches Bewusstsein war jedoch lange Zeit nicht verbreitet oder es spielte im Alltag keine bestimmende Rolle. Die betreffenden Personen sahen sich meist als Böhmen, Mährer, Schlesier, Untertanen des jeweils regierenden Herrschers oder des Heiligen Römischen Reiches. Bestimmende Ereignisse waren die Tätigkeit der Böhmischen Brüder, die Hussitenkriege, der Dreißigjährige Krieg, durch welche die gesamten Länder der böhmischen Krone in Mitleidenschaft gezogen wurden und deren Kriegshandlungen auch weit über die Länder der böhmischen Krone hinaus reichten, und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Als kulturell bedeutsames Beispiel des Mittelalters wird häufig das Prosawerk Der Ackermann aus Böhmen aus dem 15. Jahrhundert von Johannes von Tepl angeführt. Der Umstand, dass die böhmischen Länder von den deutschsprachigen Habsburgern von Wien aus regiert wurden und der alte böhmische Adel nach der Schlacht am Weißen Berg faktisch bedeutungslos geworden war, begünstigte hier eine zunehmende Dominanz der deutschen Sprache und Kultur[3], wogegen sich in der tschechischsprachigen Bevölkerung zunehmend Widerstand entwickelte.
Frühes 19. Jahrhundert und Zeit der k.u.k. Monarchie
Nach 1848, als sich durch die tschechische Nationalbewegung eine Gleichstellung der Deutschen und Tschechen durchsetzte, versuchten die in Böhmen lebenden Deutschen, zumindest in den Regionen, in denen sie die Mehrheit bildeten, auch die politische und kulturelle Hoheit zu bewahren. Auf dem Kongress in Teplitz 1848 wurden die Forderungen verankert. 1868 bis 1871 wurde die Forderung nach einer staatsrechtlichen Regelung immer lauter. Das Postulat einer geschlossenen Region nahm teilweise Formen an, in denen gefordert wurde, Tschechisch völlig auszuschließen. Die Demarkation sollte einer völlig neuen Aufteilung der Kreisgebiete dienen, die von Ämtern der jeweiligen Nationalität verwaltet werden sollten. Festgehalten wurde die Aufteilung im Pfingstprogramm vom 20. Mai 1899, das weitgehende Regelungen für die nichtdeutschen Völker enthielt. 1900 folgten Vorschläge für die Einteilung Böhmens in eine deutsche und eine tschechische Zone. 1903 wurde durch den Mediziner Josef Titta der Deutsche Volksrat für Böhmen gegründet, der sich zur Aufgabe setzte die zerstrittenen Deutschen Parteien in Böhmen zu einen, um so gemeinsam eine Lösung des Nationalitätenproblems zu finden. Der Volksrat konnte zwar keine gemeinsame Koalition der deutschen Parteien herstellen, doch galt er als bedeutsamste und einflussreichste deutsche Schutzgemeinschaft des alten Österreichs. 1907 wurden im Zuge der neuen Wahlkreisaufteilung für die Reichsratswahlen die Wahlbezirke des deutschen und tschechischen Siedelungsgebietes weitestgehend scharf voneinander abgegrenzt. 1909 erarbeitete der Deutsche Zweiteilungsausschuss auf dieser Grundlage einen Entwurf zur völligen Aufteilung Böhmens und der Schaffung der Region Deutschböhmen.
Noch 1918 wurde die Frage erneut diskutiert. Der österreichische Ministerpräsident Ernst Seidler von Feuchtenegg wollte diesen Bemühungen durch Einrichtung von Kreisen, die nach der Nationalität der Bewohner aufgeteilt werden sollten, entgegenkommen. Sein Nachfolger Ministerpräsident Max Hussarek von Heinlein ging sogar noch weiter und bot den Tschechen am 26. September 1918 weitgehende Autonomie an. Jene unternahmen aber über den tschechischen Nationalrat in Paris konkrete Vorbereitungen zur Loslösung der böhmischen Länder aus dem Verband des Habsburger Vielvölkerstaats.
Ausrufung der Republik Deutschböhmen
Raphael Pacher gelang es am 14. Oktober gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Josef Seliger alle deutschen Parteien und Abgeordnete zu einer gemeinsamen Koalition zu vereinen. Zur Vorbereitung der Gründung der Republik Deutschböhmen ernannte diese Koalition unter Vorsitz von Pacher einen zwölfgliedrigen Ausschuss. Einen Tag nach der Ausrufung der Tschechoslowakei wurde am 29. Oktober 1918 die Provinz Deutschböhmen mit Sitz in Reichenberg ausgerufen. Erster Landeshauptmann war Raphael Pacher, der sein Amt am 5. November Rudolf Lodgman von Auen übergab.
Diese Provinz Deutschböhmen bestand aus einem zusammenhängenden Gebiet in Nord- und Westböhmen, das sich vom Egerland bis zum Braunauer Ländchen entlang der Grenze zum Deutschen Reich erstreckte. In Südböhmen entstand die Verwaltungseinheit Böhmerwaldgau als Teil von Oberösterreich. Deutsche im Adlergebirge und im Gebiet von Landskron, sogenannte Deutschmähren, schlossen sich zur Provinz Sudetenland zusammen. Der Bezirk Neubistritz wurde Znaim zugeschlagen und damit von Niederösterreich verwaltet. Das Gerichtswesen war für Sudetenland und Deutschböhmen in Reichenberg angesiedelt, für die restlichen Regionen war Wien zuständig. Am 22. November 1918 erklärte sich die Provinz Deutschböhmen zum Teil von Deutschösterreich. Der genaue Umfang des Gebiets wurde schließlich am 30. November 1918 im Staatsgesetzblatt veröffentlicht.
Über die Einrichtung der stattlichen Verwaltungsorganisation hinaus wurde auch die Schaffung der Oberbehörden in Angriff genommen. So sollten die Finanzlandesdirektion, das Landeswirtschaftsamt und das Oberlandesgericht Reichenberg, sowie eine Post- und eine Bahndirektion entstehen.
Besetzung durch tschechoslowakische Truppen
Die tschechische Regierung bestand weiter auf einem Einheitsstaat und verweigerte die Anerkennung der genannten deutschen Verwaltungsbezirke. Unter dem Befehl des Feldmarschallleutnants Jan Divis begann am 13. November die gewaltsame Besetzung der deutschsprachigen Gebiete durch tschechoslowakische Truppen. Die auf Veranlassung der deutschböhmischen Landesregierung aufgestellten Volkswehrabteilungen unter Befehl des Landesbefehlshabers Feldmarschallleutnant Anton Goldbach konnten den anrückenden Truppen wenig entgegenstellen, da sie aufgrund der katastrophalen Situation nach Ende des Weltkrieges, der schlechten Versorgungslage und der allgemeinen Kriegsmüdigkeit nur in der Lage waren polizeiliche, aber keine militärischen Aufgaben zu erfüllen. So konnte die Landesregierung in Reichenberg nur die Anweisung erteilen, dass gegen die Besetzung der einzelnen Orte Protest erhoben wird. Dennoch kam es im Brüxer Gebiet und bei Kaplitz zu Zusammenstößen von Deutscher Bevölkerung mit tschechoslowakischen Truppen. Dabei wurden mehrere Zivilisten getötet. An einigen Orten wurde sogar das Standrecht verhängt und Widerstand sofort verfolgt. Staatskanzler Karl Renner (Sozialdemokrat aus Südmähren) beklagte am 13. November 1918 zu Beginn der Besetzung:
„Es gibt heute auf dem ganzen Festlande beinahe keinen anderen Imperialismus mehr als den der tschechischen Nation. Die Tschechen wollen die blühendsten Teile Deutschösterreichs […] sich unterwerfen. Leider haben sich tsch. Sozialisten, von jeher in den Reihen des Proletariats von unklarer Haltung, zu Führern dieses Imperialismus gemacht. Sie schicken in unser Gebiet Militärpatrouillen, sie bieten […] Militärformationen auf. […] Wir gestehen es offen, wir haben gar keine Macht zur Abwehr; die Republik Deutschösterreich hat nichts als sonnenklares Recht.“[4]
Um ihre Handlungsfreiheit zu wahren, flüchtete die deutschböhmische Landesregierung am 14. Dezember nach Wien in das Österreichische Parlament. Dort führte sie bis zur Entscheidung der Friedensverhandlungen in Paris am 10. September 1919 die Geschäfte fort und proklamierte das Selbstbestimmungsrecht der Deutschböhmischen Bevölkerung.
Bis Februar 1919 waren die deutschböhmischen, deutschmährischen und schlesischen Gebiete durch ihre 1911 gewählten Reichsratsabgeordneten in der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich vertreten. Bei der von ihr vorbereiteten Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung vom 16. Februar 1919 wurde es den Deutschen in Böhmen durch die Prager Regierung verboten, ihre Stimmen abzugeben. Als das gewählte Parlament am 4. März 1919 in Wien ohne Vertreter der Deutschen in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien zusammentrat, rief die deutschböhmische Landesregierung zu Demonstrationen für die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts auf. Dieser Aufforderung folgten viele Bürger aller Parteirichtungen und versammelten sich zu zunächst friedlichen Demonstrationen. Das tschechoslowakische Militär versuchte, dies zu verhindern, und schoss in die Menschenmengen. In den Städten Kaaden, Eger, Karlsbad, Mies, Aussig, Sternberg und anderen Orten hatte man 54 Tote und zahlreiche Verletzte zu beklagen. Staatskanzler Karl Renner beklagte in der Nationalversammlung, man habe (inklusive Südtirol) mehr Deutschen das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten, „als die Schweiz Einwohner hat“.
Vertrag von Saint Germain
Trotz allem bestand Deutschösterreich weiter auf seinen Rechten. In der deutschösterreichischen Friedensdelegation war Rudolf von Lodgmann der Fachexperte für Deutschböhmen. Während der Verhandlungen wurde der Delegation der Zutritt durch den Leiter der Friedenskonferenz verweigert. Die Prager Regierung konnte mit ihrem Vertreter Edvard Beneš und den französischen Fachleuten Ernest Denis und Louis Eisenmann ihre Standpunkte ohne direkte Intervention der Gegenseite darlegen. So verlangten sie bei den Verhandlungen die Unteilbarkeit Tschechiens durch Les Tchécoslovaques, leur histoire et civilisation und Le problème des Allemands de Bohème. Innerhalb von fünf Minuten nach Sitzungsbeginn waren sich die Delegierten der zuständigen Kommission einig, den Wünschen der Prager Regierung zu entsprechen.
Durch den Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 wurde der von Deutschösterreich (samt seinen Gebieten im heutigen Tschechien) am 12. November 1918 beschlossene Beitritt zum Deutschen Reich, der „Deutschen Republik“, ausgeschlossen. Dies trug wesentlich zur Festigung der uneingeschränkten Autorität der Tschechoslowakei über Böhmen und Mähren bei, da es äußerst schwierig gewesen wäre, die deutschen Gebiete im Norden des Landes quer über ein unkooperatives Nachbarland von Wien aus zu regieren. Der Vertrag von Saint-Germain, den (Deutsch-)Österreich am 10. September 1919 mit den Siegermächten zu schließen hatte, schloss Deutschböhmen und Deutschmähren definitiv aus Österreich aus. Nach diesem als Diktat empfundenen Staatsvertrag trat die deutschböhmische Landesregierung zurück. Von der Prager Regierung wurde eine Amnestie erlassen.
Später wurde die Forderung nach Selbstbestimmung der Deutschböhmen und Deutschmährer durch die Sudetendeutsche Partei neu aufgegriffen. Im Sprachgebrauch setzte sich für die deutsche Bevölkerung der böhmischen Länder zunehmend der Begriff Sudetendeutsche durch, obwohl dieser Begriff von den Betroffenen zum Teil nicht akzeptiert wurde, da sie weit weg vom Sudetengebirge, z. B. in Prag oder in Südmähren, lebten (siehe auch Sudetendeutsche#Begriffsgeschichte).
Situation von 1918 bis heute
Zur Situation der Deutschböhmen von 1918 bis heute finden sich ausführliche Informationen im Artikel Sudetendeutsche.
Mundarten
Es wurden die gleichen Dialekte wie in den angrenzenden bairischen, fränkischen, thüringisch-obersächsischen und schlesischen Dialektgebieten gesprochen:
- Bairisch im Süden und Westen. Im Einzelnen sprach man Mittelbairisch in den südlichen Gebieten entlang der Grenze zu Nieder- und Oberösterreich und im Böhmerwald, außerdem in den Sprachinseln des Schönhengstgaus, Budweis, Wischau, Brünn und Olmütz, sowie Nordbairisch entlang der Grenze zur Oberpfalz und in der Iglauer Sprachinsel.
- Ostfränkisch im Bereich zwischen der Stadt Saaz und dem Erzgebirge und in Sprachenklaven im Schönhengstgau und in Nordmähren
- Schlesisch in Ostböhmen (Glätzischer Dialekt) und Nordmähren (Gebirgsschlesisch).
- Thüringisch-Obersächsisch entlang der Grenze zu Sachsen und als Mischdialekt mit dem Nordbairischen in der Iglauer Sprachinsel.
Literatur
- Harald Bachmann: Die „Republik Friedland“. Ein Projekt der deutschböhmischen Landesregierung zur Proklamation eines selbstständigen Staates (1918/19). In: Bohemia (20) 1979.
- Karl Bosl: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder. 4 Bände, Anton Hiersemann Verlag Stuttgart 1970.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Antonín Měšťan: Böhmisches Landesbewußtsein in der tschechischen Literatur. In: Ferdinand Seibt (Hrsg.): Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848-1918. Verlag Oldenbourg, München 1987, ISBN 3-486-53971-X, S. 31−38, hier: S. 35.
- ↑ Friedrich Prinz (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas: Böhmen und Mähren. Siedler, Berlin 2002, ISBN 3-88680-773-8. (Teilband eines zehnbändigen Gesamtwerks)
- ↑ Manfred Alexander: Kleine Geschichte der böhmischen Länder. Reclam, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-15-010655-6.
- ↑ Mitteilungsblatt der Sudetendeutschen Landsmannschaft, 2002, Nr. 4, S. 2.
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