Konstituierende Nationalversammlung

Konstituierende Nationalversammlung
Von der Nationalversammlung beanspruchtes Staatsgebiet Deutschösterreichs und die tatsächliche Grenzziehung der Republik Österreich ab Dezember 1921

Die am 16. Februar 1919 gewählte Konstituierende Nationalversammlung für Deutschösterreich war das erste von Frauen und Männern in freier und gleicher Wahl berufene Parlament in der Geschichte Österreichs.

Christlichsoziale und Sozialdemokraten konnten gemeinsam mehr als 75 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Stimmen- und mandatsstärkste Partei wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) unter Staatskanzler Karl Renner. Zweitstärkste Partei wurde die Christlichsoziale Partei. Insgesamt schafften 19 verschiedene Listen den Einzug ins Parlament. Die Mandatszahl betrug, nach Lagern zusammengefasst:

  • Sozialdemokraten 72
  • Christlichsoziale 69
  • Deutschnationale Parteien 26
  • Demokratische Parteien 2
  • Jüdisch-Nationale 1
  • Tschechische Sozialdemokraten 1

Wahlberechtigt waren 3.544.242 Menschen. Die Wahlbeteiligung betrug 84,4 %.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Karl Renner (1905) wurde am 30. Oktober 1918 zum Staatskanzler Deutschösterreichs gewählt

Am 21. Oktober 1918 waren alle deutschen Abgeordneten des Reichsrates im niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse zur provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs zusammengetroffen. Sie beanspruchten das gesamte deutsche Siedlungsgebiet Altösterreichs für den neuen Staat. Zum ersten Staatskanzler Deutschösterreichs wurde am 30. Oktober 1918 der Sozialdemokrat Karl Renner gewählt. Der noch regierende Habsburger-Kaiser Karl I. verzichtete am 11. November 1918 auf seinen Anteil an den Staatsgeschäften, am nächsten Tag beschloss die Provisorische Nationalversammlung die Republik als Staatsform.

Die ebenfalls neu gegründete Tschechoslowakei ignorierte das Selbstbestimmungsrecht der späteren Sudetendeutschen und verhinderte ihre Beteiligung an der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung. Ebenso ließen die Italiener, die Südtirol besetzt hatten, dort keine Wahlbeteiligung zu. Deshalb konnte nur in den Gebieten, die tatsächlich von Deutschösterreich kontrolliert wurden (etwa heutiges Bundesgebiet minus Burgenland) gewählt werden. Erstmals konnten im Wahlgebiet Frauen nach langen politischen Kämpfen ihr allgemeines und gleiches Wahlrecht wahrnehmen.

Insgesamt standen mehr als 20 Listen zur Wahl. Viele kandidierten jedoch lediglich auf regionaler Ebene und nicht im gesamten Bundesgebiet.

Als die Konstituierende Nationalversammlung am 4. März 1919 in Wien ihre Eröffnungssitzung abhielt, fanden in vielen Orten Tschechiens Demonstrationen der dortigen Deutschösterreicher statt.

Wahlergebnis

Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung 1919
 %
50
40
30
20
10
0
40,75%
35,93%
17,86%
5,46%
DN Vorlage:Wahldiagramm/Wartung/Kürzel
Sonst.
Vorlage:Wahldiagramm/Wartung/TITEL zu lang
Wahlwerber Stimmen Anteil Mandate
1919 davon 1919 davon
Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) 1.211.814 40,75 %  % 72
Christlichsoziale Parteien 1.068.382 35,93 %  % 69
     davon … Christlichsoziale (687.603) 23,12 % 47
               … Niederösterreichischer Bauernbund (222.701) 7,49 % 12
               … Christlichsoziale Bürger- und Arbeiterpartei (61.603) 2,07 % 0
               … Tiroler Bauernbund (50.461) 1,70 % 3
               … Tiroler Volksverein (46.014) 1,55 % 7
Deutschnationale Partei 173.881 5,85 % 8
Vereinigte tschechoslowakische Parteien 67.514 2,27 % 1
Deutschdemokraten 64.078 2,16 % 3
Deutsche Volkspartei 59.918 2,02 % 2
Deutsche Ordnungs- und Freiheitspartei 56.365 1,90 % 5
Bürgerliche Demokraten & D-Ö Wirtschaftspartei der Festbesoldeten 48.847 1,64 % 1
Steirische Bauernpartei 47.078 1,58 % 3
Nationaldemokratische Partei 46.577 1,57 % 0
Kärntner Bauernbund 33.412 1,12 % 2
Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei 23.334 0,78 % 0
Deutschvölkischer Wahlausschuss 15.679 0,53 % 1
Demokratische Partei 15.133 0,51 % 0
Demokratische Ständevereinigung 12.336 0,41 % 1
Freiheitlicher Salzburger Bauernbund 8.507 0,29 % 1
Jüdischnationale Partei 7.760 0,26 % 1
Demokratische Mittelstandspartei 5.967 0,20 % 0
Demokratische Wirtschaftspartei 3.909 0,13 % 0
Deutschösterreichische Volkspartei 1.688 0,06 % 0
Treiplpartei 864 0,03 % 0
Wirtschaftspolitische Volkspartei 411 0,01 % 0

Folgen

Habsburger

Karl Renner blieb Staatskanzler und bildete die erste demokratisch legitimierte Regierung im damaligen Deutschösterreich. Nachdem der ehemalige Kaiser Karl I. bei der Ausreise aus Österreich im Feldkircher Manifest seine Verzichtserklärung vom November 1918 widerrufen hatte, beschloss die Nationalversammlung am 3. April 1919 das Habsburgergesetz. Dieses Gesetz regelte die Übernahme des Vermögens des früher regierenden Hauses Habsburg-Lothringen sowie seiner Zweiglinien (so genannte Familienfonds) durch den Staat Deutschösterreich sowie die Abschaffung aller Vorrechte des früheren Herrscherhauses. Der ehemalige Träger der Krone, wie es im Gesetz hieß, wurde auf Dauer des Landes verwiesen. Andere Mitglieder des Hauses Habsburg-Lothringen durften in Deutschösterreich bleiben, wenn sie auf ihre Herrschaftsansprüche verzichteten und sich als Bürger der Republik bekannten. Das nachweisbar freie persönliche Privatvermögen einzelner Familienmitglieder blieb vom Habsburgergesetz unberührt.

Friedensvertrag

Am 10. September 1919 unterzeichnete Staatskanzler Renner den Friedensvertrag von Saint-Germain, der vor allem wegen seiner Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der später Sudetendeutsche Genannten und der Südtiroler als Diktatfrieden betrachtet wurde, zu dem es aber angesichts der völligen Machtlosigkeit des neuen Österreich keine Alternative gab. Am 21. Oktober 1919 wurde der Vertrag von der Nationalversammlung ratifiziert. Der neue Staat hieß von diesem Tag an vertragsgemäß Republik Österreich (der Begriff Deutschösterreich hatte den Siegermächten nicht konveniert). Der vorgesehene Anschluss an Deutschland wurde durch Vertragsbestimmungen auch für die Zukunft ausgeschlossen (außerdem musste Deutschland im Friedensvertrag von Versailles die Unabhängigkeit Österreichs akzeptieren). Der Friedensvertrag hielt aber auch fest, dass Deutsch-Westungarn (später Burgenland genannt) an Österreich anzuschließen sei (eine analoge Bestimmung findet sich im 1920 von den Siegermächten mit Ungarn geschlossenen Vertrag von Trianon). Der Großteil des vorgesehenen Gebiets kam im November / Dezember 1921 zu Österreich.

Verfassung

Die Konstituierende Nationalversammlung war, wie der Name schon sagt, dazu berufen, die republikanische Verfassung (Konstitution) Österreichs zu diskutieren und zu beschließen. Das so genannte Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) wurde am 1. Oktober 1920 beschlossen, trat am 10. November 1920 in Kraft und gilt im Wesentlichen bis heute. (Wichtigste spätere Änderung ist, abgesehen vom EU-Beitritt, die durch eine Novelle 1929 eingeführte Volkswahl des Bundespräsidenten.)

Auf Grund der neuen Verfassung wurde die Nationalversammlung vom Nationalrat abgelöst. Aus der Staatsregierung wurde die Bundesregierung und aus dem Staatsgesetzblatt das Bundesgesetzblatt. Die Bezeichnung Staatskanzler wurde durch Bundeskanzler ersetzt, die Bezeichnung Staatssekretär durch Bundesminister.

Siehe auch

Weblinks


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