Christen in Indien

Christen in Indien
St. Thomaskreuz

Thomaschristen bezeichnet die indischen christlichen Kirchen, die ihre Geschichte auf eine Erstmission durch den Apostel Thomas zurückführen. Dies sind hauptsächlich:

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Die Bezeichnung hat eigentlich keinen amtlichen Charakter. Ihr Alter ist nicht genau bekannt. Die Benennung entspringt dem lokalen Thomas-Kult, der mit der Verehrung eines Apostelgrabes verbunden ist. Der Erstmissionar Thomas gilt in der Folge auch als Begründer eines apostolischen Bischofsstuhles (Kathedra) in Indien. Einheimische Christen und Kirchenführer ziehen daraus Konsequenzen für ihre Stellung und Rechte in der Gesamtchristenheit und innerhalb der eigenen kirchlichen Konfession. Aus der Behauptung unabhängiger Apostolizität ergeben sich Spannungen und Autonomieforderungen, die bis zu Kirchenspaltungen führen.

Gründung

Der Apostel Thomas verließ nach den Thomasakten Jerusalem etwa im Jahr 40 n. Chr. und kam – nachdem er in den Jahren von 42 bis 49 unter den Menschen des Nahen Ostens (heute Iran, Irak, Afghanistan und Belutschistan) evangelisiert hatte – im Jahre 53 nach Nordindien. Danach reiste Thomas nach einer späteren Legende entlang der südwestlichen Küste Indiens (damals Malabar, heute der Unionsstaat Kerala) und gelangte schließlich nach Madras (heute: Chennai), wo er von einem Speer tödlich getroffen worden sein soll. Über seinem vermeintlichen Grab wurde dort (heute Mount St. Thomas) 1547 eine Kirche errichtet, in der sich ein Kreuz mit einer mittelpersischen Inschrift aus dem 8./9. Jahrhundert befindet. Der größte Teil seiner Reliquien wurde im 3. Jahrhundert nach Edessa überführt. Die alten christlichen Kirchen Indiens betrachten ihn bis heute als ihren Gründer und spirituellen Vater und bezeichnen sich als „Töchter des hl. Thomas“.

Selbst wenn die Gründungsgeschichte, wie viele andere apostolische Gründungen auch, legendär ist, so ist doch die indische christliche Kirche älter als die meisten europäischen. Im dritten Jahrhundert überlagerte die Thomastradition in Syrien/Mesopotamien die ältere Addai-Tradition. Etwa zur gleichen Zeit entstanden die Thomasakten, die von einer Missionsreise nach Indien, allerdings der Beschreibung nach dem Norden des Landes, das heutige Afghanistan und Belutschistan, berichten. Seit dem 4. Jahrhundert ist die Indientradition bei den Kirchenvätern verbreitet und in der Mitte des 6. Jahrhunderts fand der alexandrinische Reisende Kosmas Indikopleustes Christen in Südindien vor.

Als außerhalb des römischen Reiches gelegene Kirche hatten diese indischen Christen über Jahrhunderte keinen Kontakt zur Reichskirche oder gar zur römischen Kirche und entwickelten ihren eigenen authentischen Ritus, der durch die spätere Gemeinschaft mit dem Katholikos der Assyrischen Heiligen Apostolischen Katholischen Kirche des Ostens in Seleukia-Ktesiphon syrisch-chaldäisch (ostsyrisch) wurde.

Seit dem achten Jahrhundert hatten die Thomas-Christen Indiens ihren eigenen, aus Persien bzw. dem Irak entsandten Metropoliten, der in der Rangfolge der ostsyrischen Kirche an zehnter Stelle stand. Ihm stand wie gewöhnlich ein „Archidiakon“ (trotz des Namens ein Presbyter/Priester) als eine Art Generalvikar zur Seite. Da die „Metropoliten von Indien“ als Auswärtige die Landessprache kaum beherrschten, mussten sie sich für gewöhnlich mit der Rolle eines Weihbischofs begnügen, während die tatsächliche Kirchenleitung durch den Einheimischen, der als „Archidiakon von Indien“ amtierte, ausgeübt wurde.

Kolonialismus

Das Innere der Valia Palli (Alte Kirche) in Kottayam

Als Mitte des 16. Jahrhunderts der Jesuiten-Missionar Franciscus Xaverius (1506-1552) auf den Spuren der nach neuen Handelswegen suchenden Portugiesen nach Indien kam, fand er zu seiner großen Überraschung dort christliche Gemeinden vor. Obwohl die Portugiesen sehr erfreut waren, Christen in Indien vorzufinden, und von den Thomaschristen als Brüder begrüßt wurden, begann nun die Jahrhunderte währende Zeit der Fremdbestimmung und der Latinisierung von Gottesdienst und Frömmigkeitsformen, in deren Folge die indische Kirche sich in mehrere Gruppen aufspaltete.

Cheria Pally (Neue Kirche) in Kottayam (1579)

Legitimiert durch das Padroado-System und mit militärischer Gewalt, die auch vor Bischofsentführungen und Seeblockaden nicht Halt machte, begannen die portugiesischen Kolonisatoren die Thomas-Christen unter römische, d. h. portugiesische, Hoheit zu bringen. Als der letzte vom Patriarchen der chaldäisch-katholischen Ostkirche eingesetzte Bischof, Mar Abraham, 1597 starb, verstärkte sich der portugiesische Griff nach Malabar. Der lateinische Erzbischof von Goa, Aleixo de Menezes (1559–1617), der in Stellvertretung des portugiesischen Vizekönigs auch politischer Machthaber war, wies eine Ermächtigung Papst Clemens VIII. vor, „übernahm“ die Thomaskirche, setzte einen Apostolischen Vikar ein und unterstellte sie der lateinischen Hierarchie (Synode von Diamper). In den folgenden Jahrhunderten wurden fast nur noch von Goa oder Rom ernannte ausländische Bischöfe, meist Jesuiten, eingesetzt, die sich wenig um die lokalen Traditionen kümmerten. Die Padroado-Missionare ließen nicht zu, dass noch einmal ein syrisch-chaldäischer Bischof indischen Boden betrat. Nach 1599 wurde die ostsyrische Metropolie Angamaly mit einem lateinischen Bischof besetzt und zum Suffraganbistum des portugiesischen Metropoliten von Goa herabgestuft, die weiterhin syrischsprachige Liturgie nach der lateinischen korrigiert und für manche Gottesdienste Übersetzungen aus dem Lateinischen in das Syrische vorgenommen.

Die gewaltsame „Katholisierung“ der indischen Christen unter Missachtung ihrer 1600 Jahre alten Traditionen führte schließlich 1653 zum Bruch mit Rom. Mit dem Schwur vom schiefen Kreuz gelobten indische Thomaschristen in Mattancherry bei Cochin, nie wieder einen portugiesischen Bischof über sich zu dulden. Eine Versammlung von zwölf Priestern bestellte mit Notbischofsweihe, d. h. ohne Mitwirkung eines Bischofs, den Archidiakon Thomas Parambil (Thomas a Campo) als Mar Thomas I. zu ihrem kirchlichen Oberhaupt. Die Mehrheit der Thomaschristen schloss sich dem neuen Metropoliten an und verließ den lateinischen Erzbischof. Der Schwur vom schiefen Kreuz ist der Beginn der Spaltung der indischen Christen in verschiedene Gruppen und Kirchen, die bis heute besteht.

Neuzeit

Ein Teil der Thomaschristen kehrte 1662, nachdem Papst Alexander VII. italienische Karmeliten zur ihrer Betreuung entsandt hatte, wieder zur Einheit mit der römischen Kirche zurück und wurde zur heutigen Syro-malabarischen katholischen Kirche. 1663 wurde Chandy Kathanar (Alexander de Campo) der erste einheimisch-indische Bischof der mit Rom vereinten Thomaschristen des ostsyrischen Ritus (Gruppe I).

Der nicht-katholische Teil der Thomaschristen näherte sich in der Folge der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochia, d. h. den sogenannten Jakobiten, an, übernahm von ihr das Bekenntnis zum Konzil von Ephesos und die Westsyrische Liturgie (Gruppe II). Sie standen in der Folge unter einem eigenen Metropoliten. Doch stellte sich für sie immer wieder das Problem der ordentlichen Ordination ihres Kirchenoberhaupts in apostolischer Sukzession, für die sie auf die Kirche von Antiochia angewiesen waren. Aus diesen Streitigkeiten ging 1772 die kleine Unabhängige Syrische Kirche in Thozhiyur (Anjur) hervor (Gruppe III). Während der britischen Kolonialherrschaft spaltete sich 1888 von den nicht-katholischen Thomaschristen des westsyrischen Ritus auch die mit der Church of England unierte Mar-Thoma-Kirche ab (Gruppe IV). 1912 wurde in Indien versucht, die Bedeutung der Thomaschristen innerhalb des antiochenischen Patriarchats dadurch aufzuwerten, dass ein nach Autonomie strebender Zweig der Kirche das im 19. Jh. erloschene Amt des „Maphrians“, d. h. des „Katholikos des Ostens“ (ehemals zweithöchster Würdenträger der syrisch-orthodoxen Kirche), in Malankara wieder aufleben ließ. 1932 nahm ein Teil der syrisch-orthodoxen Thomaschristen die Kirchengemeinschaft mit Rom auf und begründete die Malankarisch-katholische Kirche (Gruppe V). Der auf Unabhängigkeit vom antiochenischen Patriarchen bestehende indische Zweig der syrisch-orthodoxen Kirche um den einheimischen Metropoliten errichtete 1934 die Malankara Orthodox-Syrische Kirche. Somit standen in Indien zwei syrisch-orthodoxe Jurisdiktionen einander gegenüber, die Partei des Patriarchen (Gruppe IIa: „Patriarchisten“) und die des „Katholikos“ genannten Metropoliten von Malankara (Gruppe IIb). Das Schisma wurde 1964 vorläufig beendet und eine gemeinsame Hierarchie unter dem vom antiochenischen Patriarchen Ignatius Jakob III. geweihten Katholikos Mar Basilios Augen I. (1965-1975) eingerichtet. Unter Basilios Augen, der den Titel „Nachfolger auf dem Thron des Apostels Thomas“ annahm, lebten die Spannungen jedoch wieder auf. Die damit beanspruchte eigenständige Apostolizität wurde vom Patriarchat als Beeinträchtigung der Rechte des apostolischen Stuhles von Antiochien verstanden. Der Konflikt verstärkte sich, als der antiochenische Patriarch 1972 einen für die auf Unabhängigkeit und Gleichberechtigung bedachten Inder nicht akzeptablen Patriarchatsassistenten entsandte. Als die syrisch-orthodoxe Synode in Damaskus 1975 Katholikos Basilios Augen des Amtes enthob und Mor Paulose Philoxenos als Basilios Paulos II. (1975-1996) zum Maphrian (Katholikos) bestellte, wurde der Bruch vollzogen. Die Anhänger des zurücktretenden Basilios Augen wählten an seiner Stelle Mor Basilios Marthoma Mathews I. zum Katholikos und errichteten die autokephale Malankara Orthodox-Syrische Kirche, während der Rest als autonome Malankara Syrisch-Orthodoxe Kirche unter der Oberhoheit des antiochenischen Patriarchats verblieb.

Auch unter den mit Rom unierten Thomaschristen setzte sich der Wunsch nach Bischöfen des eigenen (ostsyrischen) Ritus durch.

Ein kleiner Teil schloss sich infolge des Wirkens des 1874 vom Patriarchen Joseph VI. Audo der Chaldäisch-katholischen Kirche nach Indien entsandten Bischofs Elias Mellus 1907 der Assyrischen Kirche des Ostens als deren indische Diözese an (Gruppe VI). Unter Mar Thomas Darmo spaltete sie sich 1964 in Anhänger des Julianischen und solche des Gregorianischen Kalenders, deren Gruppen danach in Indien die Spaltung der Mutterkirche abbildeten. Bislang nur dort gelang 1995 die Versöhnung von Neu- und Altkalendariern unter Katholikos-Patriarch Mar Dinkha IV.

Die übrigen Thomaschristen des ostsyrischen Ritus (Gruppe I) erhielten 1896 einheimische Bischöfe des eigenen Ritus und wurden ab 1923 innerhalb der römisch-katholischen Kirche, doch unabhängig von der Chaldäisch-katholischen Kirche, als Syro-Malabarische Kirche organisiert, die seit 1992 durch den Großerzbischof von Ernakulam-Angamali geleitet wird.

Die meisten Gruppen der Thomaschristen sind kirchenintern noch einmal strikt geteilt in die sogenannten Südchristen (Knananiten) und die sonstigen Kirchenangehörigen.

Heutige Kirchen

Mit ostsyrischem Ritus

Mit westsyrischem Ritus

Literatur

  • Albrecht Dihle: Art. Indien. In: Reallexikon für Antike und Christentum 18 (1998)1-56.
  • Heinzgerd Brakmann: Art. Thomaschristen. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl. 10 (2001) 1-5 (mit weiterer Lit.)
  • Jean Étèvenaux : Histoire des missions chrétiennes, Éd. Saint-Augustin, Paris, 2004, ISBN 2880113334 (Chap. IV : l'ancienneté du christianisme indien)
  • Jean-Pierre Valognes : Vie et mort des Chrétiens d'Orient, Fayard, Paris, 1994, ISBN 2213030642
  • István Perczel: Language of religion, language of the people, languages of the documents: the legendary history of the Saint Thomas Christians of Kerala. In: Ernst Bremer [u.a.] (Hrsg.): Language of Religion - Language of the People. Medieval Judaism, Christianity and Islam. Fink, München 2006 (MittelalterStudien 11) 387-428.
  • Robert Wallisch: Die Entdeckung der indischen Thomas-Christen. Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften, Wien 2008. ISBN 978-3-7001-3952-2

Weblinks


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