Valentin Faltlhauser

Valentin Faltlhauser
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren während der Zeit des Nationalsozialismus
Kloster Irsee bei Kaufbeuren

Valentin Faltlhauser (* 28. November 1876 in Wiesenfelden; † 8. Januar 1961 in München) war deutscher Psychiater und zur Zeit des Nationalsozialismus als T4-Gutachter und Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren sowie der Zweigstelle Irsee an Euthanasieverbrechen beteiligt. Neben Erwachsenen wurden dort in der Kinderfachabteilung auch Minderjährige ermordet. Faltlhauser gehörte zu den Ärzten, die ihre wissenschaftlichen Kenntnisse unter Vernachlässigung menschlicher und ärztlicher Grundwerte der NS-Rassen- und Gesundheitspolitik und vermeintlicher Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen unterordneten und damit zu Verbrechern wurden. Faltlhauser wurde nach Kriegsende zwar angeklagt und zu drei Jahren Haft verurteilt, die Strafvollstreckung wurde jedoch aufgeschoben und Faltlhauser 1954 begnadigt.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Schule, Studium, Regimentsarzt

Faltlhauser, Sohn eines Gutsverwalters, beendete seine gymnasiale Schullaufbahn in Amberg mit dem Abitur. Danach begann er an der Universität München ein Studium der Rechtswissenschaften, das er nach einem Semester wieder aufgab. Neigungsbedingt wechselte Faltlhauser zum Fach Medizin und studierte zunächst zwei Jahre in München, bevor er 1899 an die Universität Erlangen wechselte. Dort beschäftigte er sich im Schwerpunkt mit dem medizinischen Fachgebiet Nervenkrankheiten. Nach Studienende wurde Faltlhauser zunächst Hilfs- und schließlich ab Februar 1904 Assistenzarzt an der Kreisirrenanstalt Erlangen. Faltlhauser promovierte an der Universität Erlangen zum Dr. med., seine Dissertation erschien 1906. Als sogenannter Einjährig-Freiwilliger leistete er seinen Wehrdienst ab, zuletzt im Rang eines Sanitätsoffiziers. Von Oktober 1914 bis Mitte Juni 1918 nahm Faltlhauser als Regimentsarzt des bayerischen Reserve-Infanterie-Regiments 20 am Ersten Weltkrieg teil.[1][2]

Reformpsychiater

Nach Kriegsende wurde Faltlhauser an der Kreisirrenanstalt Erlangen enger Mitarbeiter Gustav Kolbs. Kolb initiierte mit seinem Konzept der „Offenen Fürsorge“ eine international beachtete Psychiatriereform. Das Konzept der „Offenen Fürsorge“ basierte auf ambulanter Betreuung und dem Aufbau eines sozialen Unterstützernetzwerkes für chronisch psychisch kranke Menschen.[3] Inzwischen zum Oberarzt der Anstalt Erlangen aufgestiegen, übernahm Faltlhauser die Funktion des Fürsorgearztes, ab 1920 zunächst nebenamtlich und ab Mai 1922 hauptamtlich.[4] Faltlhauser gehörte schließlich zu den führenden Reformpsychiatern und wurde im November 1929 Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, wo er ebenfalls mit dem Aufbau einer „Offenen Fürsorge“ begann.[5] Gemeinsam mit Kolb und Hans Roemer veröffentlichte er 1927 die Schrift Die offene Fürsorge in der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten.[6] Noch 1932 präferierte er in einem Lehrbuch der Psychiatrischen Krankenpflege die Behandlung chronisch Kranker und lehnte Euthanasiemaßnahmen ab. Faltlhauser, der als Vertreter der Offenen Psychiatrie galt, verfolgte jedoch auch von Anfang an die Aussonderung der so genannten „Psychopathen“:[5]

„[…] Mit eine der schwierigsten Fragen, welche die offene Fürsorge in der Psychopathenbehandlung zu lösen hat, ist die Frage der Psychopathenehen. Es ist kaum zu hoch gegriffen, wenn ich behaupte, dass 80 vH der Psychopathen wieder eine Psychopathin heiraten. Es wird Pflicht einer Fürsorge sein, solche beabsichtigte Ehen, wenn sie zu ihrer Kenntnis kommen, nach Möglichkeit zu verhindern.[…][Da selbst] unermüdliche Aufklärung [hier nichts nütze,] kann vielleicht auch die Anregung der Entmündigung von Erfolg sein.“[7]

NSDAP-Propaganda zur sogenannten Euthanasie
Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus in Kaufbeuren
Stolpersteine für 3 Opfer der NS-Euthanasie vor dem Kloster Irsee

Gefolgsmann der NS-Ideologie - T4-Gutachter und Erfinder der Hungerkost

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verlor das Konzept der „Offenen Fürsorge“ an Bedeutung. Kontrolle war vor Behandlung primäres Ziel, die postulierte „Volksgesundheit“ war gegenüber den individuellen Bedürfnissen der Patienten vorrangig. Faltlhauser übernahm schließlich die rassen- und gesundheitspolitischen Zielsetzungen der Nationalsozialisten. Er gründete eine Ortsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene und wurde Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP. Zudem war Faltlhauser Beisitzer beim sogenannten „Erbgesundheitsgericht“ in Kempten und entschied über die Zwangssterilisationen von Menschen.[8]

Falthauser wurde in den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten Leiden“ berufen, einer Einrichtung, welche die Kinder-Euthanasie vorbereitete. Ab dem 6. September 1940 war Faltlhauser als T4-Gutachter tätig. Dabei bearbeitete er Meldebögen von Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten und entschied darüber, welcher der Patienten als „Euthanasiefall“ einzustufen war. So war Faltlhauser an den Euthanasieverbrechen unmittelbar beteiligt. Faltlhauser arbeitete zudem an einem Euthanasiegesetz („Gesetz über Sterbehilfe bei unheilbar Kranken“) mit. Dieses Gesetz wurde im Oktober 1940 verabschiedet, erlangte aber keine Rechtsgültigkeit.[9]

Bis August 1941 wurden über 600 als „Euthanasiefall“ eingestufte Patienten aus der Anstalt Kaufbeuren in den Gaskammern der NS-Tötungsanstalten Grafeneck und Hartheim ermordet. Falthauser bevorzugte nach dem offiziellen Ende der Aktion T4 eine andere Tötungsmethode, indem er seine Patienten zu Tode hungern oder mittels Luminaltabletten und in Einzelfällen bei Kindern durch Morphin-Scopolamin-Injektionen ermorden ließ. Von 1939 bis 1945 starben unter diesen Umständen in der Anstalt Kaufbeuren zwischen 1.200 und 1.600 Patienten, darunter etwa 210 Kinder.[10]

Auf einer Konferenz der bayrischen Anstaltsdirektoren am 17. November 1942 im bayrischen Innenministerium referierte Faltlhauser über seine Erfahrungen bei der Verabreichung einer fettlosen Sonderkost, durch die „arbeitsunfähige“ Patienten innerhalb von drei Monaten verhungerten. Während dieser Tagung forderte der bayrische Staatskommissar Walter Schultze die anwesenden Anstaltsdirektoren auf, die Verpflegung nicht „arbeitsfähiger“ Patienten zu reduzieren. Am 30. November 1942 erging schließlich der durch Schultze verfügte „Hungererlass“, durch den die Anstaltsdirektoren verpflichtet wurden entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Faltlhauser, der die fettlose Sonderkost bereits zuvor in Kaufbeuren eingeführt hatte, und auch Hermann Pfannmüller, inzwischen Leiter der Anstalt Eglfing-Haar und bereits 1930 Oberarzt und stellvertretender Direktor in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren unter Valentin Faltlhauser, waren die Protagonisten dieser Maßnahme.[11]

Nach Kriegsende sagte eine Schwester der Anstalt Kaufbeuren aus, dass sie Kinder auf Anordnung Faltlhausers euthanasieren musste. In der Regel wurden Luminaltabletten in Tee aufgelöst verabreicht, nur in Einzelfällen durch Injektionen. Nach zwei bis drei Tagen verstarben die Patienten. Morphin-Scopolamin-Injektionen sollen nur in Einzelfällen besonders unruhigen Kindern verabreicht worden sein. Die Dosis wurde von Faltlhauser selbst festgelegt.[12] Ernst Lossa gehörte zu den Kindern, die auf Anordnung Faltlhausers am 9. August 1944 durch zwei Morphin-Scopolamin-Injektionen ermordet wurden. Sein Schicksal wurde durch Robert Domes Buch Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa bekannt.[13][14]

Nach Kriegsende

Faltlhauser wurde bei Kriegsende durch Angehörige der US-Army festgenommen. Dennoch gingen nach Kriegsende in der Anstalt Kaufbeuren unter Faltlhausers Vertreter Lothar Gärtner die Tötungen von Patienten weiter. Erst durch einen deutschen Arzt, der bereits aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, erfuhren die Amerikaner, dass die Tötungen in der Anstalt Kaufbeuren unvermindert fortgeführt wurden. Zwei amerikanische Offiziere inspizierten daraufhin am 2. Juli 1945 die Anstalt. Sie fanden Faltlhausers Stellvertreter erhängt vor. Der dritte ärztliche Leiter informierte die beiden Offiziere, dass noch am 29. Mai 1945 ein vierjähriger behinderter Junge namens Richard umgebracht worden war. Der letzte erwachsene Patient starb zwölf Stunden vor der Ankunft der beiden Offiziere.[15]

Gemeinsam mit vier weiteren Angehörigen des Kaufbeurer Anstaltpersonals wurde Faltlhauser vor dem Landgericht Augsburg wegen der Beteiligung an Euthanasieverbrechen angeklagt. Der Verfahrensgegenstand beinhaltete die „Mitwirkung am ‚Euthanasieprogramm‘ durch den Transport von Geisteskranken in die Tötungsanstalten, sowie durch Teilnahme an der Tötung erwachsener und jugendlicher Patienten mittels Luminaltabletten, Morphium-Scopolamin-Injektionen und unzureichender Ernährung“. Faltlhauser wurde wegen Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt.[16] Nach wiederholtem Aufschieben der Vollstreckung der Gefängnisstrafe wegen Haftunfähigkeit erfolgte im Dezember 1954 die Begnadigung durch den bayerischen Justizminister.[3]

„Mein Handeln geschah jedenfalls nicht in der Absicht eines Verbrechens, sondern im Gegenteil von dem Bewußtsein durchdrungen, barmherzig gegen die unglücklichen Geschöpfe zu handeln, in der Absicht, sie von einem Leiden zu befreien, für das es mit den heute bekannten Mitteln keine Rettung gibt, also als wahrhaft und gewissenhafter Arzt zu handeln.“[17]

Faltlhauser starb 1961 im hohen Alter von 84 Lebensjahren in München.

Publikationen

Quellen

Literatur

  • Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie. Lambertus-Verlag, Freiburg 1998, ISBN 3-7841-0987-X.
  • Astrid Ley: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945. Campus, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-593-37465-X.
  • Ulrich Pötzl: Reformpsychiatrie, Erbbiologie und Lebensvernichtung. Valentin Faltlhauser, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, 75, Matthiesen Verlag, Husum 1995, ISBN 978-3-7868-4075-6
  • Ulrich Pötzl: Dr. Valentin Faltlhauser – Reformpsychiatrie, Erbbiologie und Lebensvernichtung, in: Michael von Cranach, Hans-Ludwig Siemen (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus – Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, Oldenbourg Verlag, München 1999; ISBN 3-486-56371-8, S. 385–403. Online-Auszug
  • Robert Domes: Nebel im August; Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa, 1. Aufl., cbt-Verlag, München 2008, ISBN 978-3-570-30475-4.
  • Ernst Klee (Hrsg.): Dokumente zur "Euthanasie". Fischer, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3596243270.
  • Ernst T. Mader: Das erzwungene Sterben von Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee zwischen 1940 und 1945 nach Dokumenten und Berichten von Augenzeugen, in Heimatkunde, Verlag an der Säge, ISBN 3-923710-02-X.
  • Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945?, S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-10-039309-0 (Aktualisierte Ausg., Fischer Taschenbuch Verlag, 2005 (Fischer Tb.; 16048), ISBN 978-3-596-16048-8).
  • Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1983; ISBN 3-10-039303-1.
  • Ernst Klee: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1986 (Fischer Tb.; 4364), ISBN 3-596-24364-5

Weblinks

Hinweis zur Quellensuche: Auffällig oft wird in der Literatur – mehr noch bei Weblinks – der Name fälschlicherweise mit Falthauser und nicht FaltLhauser angegeben.

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. Ulrich Pötzl: Dr. Valentin Faltlhauser – Reformpsychiatrie, Erbbiologie und Lebensvernichtung, in: Michael von Cranach, Hans-Ludwig Siemen (Hrsg.): Psychiatrie im Nationalsozialismus – Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, München 1999, S. 385f.
  2. Bayerisches Kriegsarchiv, Kriegsrangliste Nr. 3279
  3. a b Euthanasie in Kaufbeuren, in: Antifaschistische Nachrichten 12/2003
  4. Astrid Ley: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945, Frankfurt am Main 2004, S. 193
  5. a b Astrid Ley: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945, Frankfurt am Main 2004, S. 211f.
  6. Astrid Ley: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945, Frankfurt am Main 2004, S. 185
  7. Valentin Faltlhauser: Die offene Irrenfürsorge, Berlin 1927, S. 275
  8. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 144.
  9. Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; Frankfurt am Main, 1983, S. 241f.
    Heinz Schott und Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006, S. 543
  10. Petra Schweizer-Martinschek: Medizinversuche an behinderten Kindern im Rahmen des NS-„Euthanasie-Programms“: Die TBC-Versuche in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee (1942–1944), in: Pädagogischer Rundbrief, II. Quartal 2005, Landesverbands katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen in Bayern e.V. (LVkE) - Herausgeber, Pädagogischer Rundbrief, II. Quartal 2005, S. 8ff. (pdf)
  11. Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; Frankfurt am Main, 1983, S. 227f., 429f.
  12. Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; Frankfurt am Main, 1983, S. 227f., 306f.
  13. Jenische Opfer der Euthanasie am Beispiel des jungen Ernst Lossa!, auf www.jenischer-bund.org
  14. Online-Auftritt Robert Domes
  15. Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“; Frankfurt am Main, 1983, S. 227f., 452f.
  16. Verfahren Lfd. Nr. 162 - Justiz- und NS-Verbrechen
  17. Faltlhauser zu seiner Verteidigung 1948, zitiert bei: Doris Nauer: Kirchliche Seelsorgerinnen und Seelsorger im Psychiatrischen Krankenhaus?. Kritische Reflexionen zu Theorie, Praxis und Methodik von KrankenhausseelsorgerInnen aus pastoraltheologischer Perspektive, Lit.-Verlag, Münster 1999, S. 45

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