Demjanjuk

Demjanjuk
Demjanjuk als Angeklagter 1988

John Demjanjuk, geboren Iwan Mykolajowytsch Demjanjuk (ukrainisch Іван Миколайович Демьянюк, wiss. Transliteration Ivan Mykolajovyč Dem'janjuk; * 3. April 1920 in Kosjatyn Rajon), ist ein mutmaßlicher ehemaliger KZ-Wächter.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Demjanjuk arbeitete als Traktorfahrer auf einem Gemeinschaftsbauernhof. 1940 wurde er von der Roten Armee eingezogen und geriet im Mai 1942 in deutsche Gefangenschaft. Nach seiner Entscheidung, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten, wurde er im SS-Außenlager Trawniki ausgebildet und anschließend von der SS vereidigt.[1] Demjanjuks weiterer Verbleib während des Zweiten Weltkriegs ist umstritten. Er soll in mehreren Konzentrationslagern als Aufseher gearbeitet haben, was die israelischen Gerichte in ihren Entscheidungen 1988 als erwiesen ansahen (siehe unten); ob er zudem auch ein als „Iwan der Schreckliche“ bekannter Aufseher gewesen sei, habe man nicht abschließend nachweisen können. Demjanjuk bestreitet beides.

Im Mai 1945 stellte sich Demjanjuk im Lager für Displaced Persons in Landshut vor. Im Juli 1947 war er Lastwagenfahrer für die US Truck Company 1049 in Regensburg, wo er die Ukrainerin Wera heiratete. Über Bad Reichenhall und Feldafing kam er am 14. September 1949 nach Ulm. Am 7. April 1950 wurde seine Tochter Lydia dort laut Geburtsurkunde in der Sedankaserne Block G geboren.

Auswanderung nach Amerika

Im Oktober 1950 versuchte er, über das Resettlement Center in Ludwigsburg in die USA auszuwandern, kehrte aber wegen Tuberkulose-Verdachtes nach Ulm zurück. Am 29. Januar 1952 ist die Familie über Bremerhaven in die USA ausgereist. Seitdem lebte Demjanjuk in den Vereinigten Staaten. Dort änderte er seinen Vornamen von Iwan auf John. Im November 1958 erhielt er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Er lebte mit seiner Frau, die er in einem DP-Lager kennengelernt hatte, in Indiana, später in Seven Hills, Cuyahoga County, Ohio, wo er als Automechaniker arbeitete. Ende der 1970er-Jahre wurde er beschuldigt, der von den Häftlingen „Iwan der Schreckliche“ genannte Aufseher im Vernichtungslager Treblinka gewesen zu sein, „die Vergasungsanlage betrieben und über hunderttausend Juden ermordet sowie sadistische Folterungen an Häftlingen begangen“ zu haben.[2]

Prozess in Israel

Im Oktober 1983 stellte Israel ein Auslieferungsersuchen, dem 1986 entsprochen wurde. Am 25. April 1988 wurde Demjanjuk in Jerusalem zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde jedoch am 29. Juli 1993 vom israelischen Obersten Gerichtshof einstimmig aufgehoben, da es nach Auffassung der Richter nicht ausreichend Beweise gab, um sicher feststellen zu können, dass Demjanjuk mit „Iwan dem Schrecklichen“ identisch sei. Grundlage dafür waren Akten des KGB, aus denen hervorging, dass der Nachname von „Iwan dem Schrecklichen“ nicht Demjanjuk, sondern Marchenko gewesen sei.[3] Obwohl 18 verschiedene Zeugen Demjanjuk als „Iwan den Schrecklichen“ identifiziert hatten, wertete das Gericht die Zweifel, die durch die KGB-Akten aufgetaucht waren, als ausreichend für den Freispruch. Gleichzeitig stellte das Gericht fest, dass kein Zweifel bestehe, dass Demjanjuk als Wächter in einem Konzentrationslager gearbeitet hatte. Demjanjuk kam nach siebenjähriger Haft zurück in die USA und wurde vorerst wieder US-amerikanischer Staatsbürger, nachdem ihm die Staatsbürgerschaft vor seiner Auslieferung nach Israel aberkannt worden war.

Demjanjuk hatte prominente Fürsprecher. Patrick Buchanan nannte bereits 1986 das Verfahren gegen Demjanjuk eine neue Dreyfuß-Affaire. Anfang 1990 ging Buchanan in seiner Verteidigung noch weiter, als er zum Fall Demjanjuk schrieb: „Das Problem ist: Dieselmotoren geben nicht genügend Kohlenmonoxid ab, um irgendjemanden damit zu töten. Die Umweltschutzbehörde verlangt keinerlei Emissionskontrollen für Diesel-PKWs und LKWs. 1988 waren im District Columbia 97 Jugendliche in einem Tunnel 130 Meter unter der Erde eingeschlossen, während zwei Diesellokomotiven ihre Abgase in die Waggons bliesen. Nach 45 Minuten konnten alle ohne jegliche Schäden befreit werden. Demjanjuks Waffe für den Massenmord kann nicht töten.“[4]

Prozess in den USA und Ausweisungsanordnung

2001 begann in den USA ein neuer Prozess gegen Demjanjuk, in dem OSI-Chefermittler Edward Stutman Archivunterlagen vorlegte, die das Gericht überzeugten, dass Demjanjuk während des Zweiten Weltkriegs in verschiedenen Vernichtungslagern als Wächter gedient hatte. Bis heute hat Demjanjuk keine glaubhaften anderslautenden Angaben über seinen Aufenthaltsort während des Krieges machen können, deswegen gilt es mittlerweile als gesichert, dass er zumindest in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibór und Majdanek sowie dem Konzentrationslager Flossenbürg und dem Zwangsarbeitslager Trawniki Dienst versehen hat. Im Juni 2004 entschied ein US-amerikanisches Gericht, dass Demjanjuk die US-Staatsbürgerschaft entzogen wird. Im Dezember 2005 wurde die Abschiebung Demjanjuks in die Ukraine angeordnet.

Im Dezember 2006 bestätigten ein Berufungsausschuss der amerikanischen Einwanderungsbehörde (Board of Immigration Appeals) die Ausweisungsanordnung, da die Aussagen des Angeklagten, ihm drohe Folter bei einer möglichen Abschiebung in die Ukraine, nicht haltbar seien.[5] Am 30. Januar 2008 hatte das Berufungsgericht in Cincinnati (U.S. Sixth Circuit Court of Appeals) eine Beschwerde gegen die im Jahre 2005 erlassene Anordnung zu Demjanjuks Ausweisung verworfen.[6] Der 88-Jährige Demjanjuk beantragte in der Folge beim Obersten Gerichtshof in Washington, die Anordnung der Einwanderungsbehörde zur Ausweisung für ungültig zu erklären.[7] Nachdem verschiedene Bundesbehörden sich nunmehr schon seit drei Jahrzehnten um die Abschiebung Demjanjuks bemühten, lehnte es der Oberste Gerichtshof am 18. Mai 2008 ab, sich mit dem Fall des 88-Jährigen zu befassen. Damit ist der mutmaßliche ehemalige KZ-Aufseher John Demjanjuk mit allen seinen rechtlichen Möglichkeiten gegen seine Abschiebung aus den USA gescheitert. Das Justizministerium erklärte, dass die Regierung an der geplanten Abschiebung festhalte.[8] Am 24. März 2009 gab die Einwanderungsbehörde bekannt, Kontakt mit der deutschen Bundesregierung aufgenommen zu haben, um die für die Auslieferung notwendigen Dokumente zu erhalten. Die Staatsanwaltschaft München I wirft dem gebürtigen Ukrainer nach neuestem Ermittlungsstand Beihilfe zum Mord an 29.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor vor.[9] Die Anklage wird beim Schwurgericht des Landgerichts München II erhoben. In einer eigenen Erklärung bezeichnete Demjanjuk seine für den 6. April 2009 geplante Abschiebung nach Deutschland erneut als eine Behandlung, „die unter einer vernünftigen Definition dieses Ausdrucks eindeutig auf Folter hinausläuft“.[10] Einem Eilantrag Demjanjuks auf Aufschiebung der Auslieferung aus gesundheitlichen Gründen wurde nicht stattgegeben.[11] Stattdessen hob derselbe Einwanderungsrichter aus Arlington im Bundesstaat Virginia seinen verhängten Abschiebestopp mit Wirkung zum 8. April wieder auf.[12] Demjanjuks Anwalt kündigte für den 7. April 2009 Berufung gegen diese Entscheidung an.[13] Drei Tage später lehnte ein Berufungsausschuss der Einwanderungsbehörde es ab, Demjanjuks Auslieferung nach Deutschland auszusetzen.[14] Demjanjuks Anwalt legte Rechtsmittel zum Bundesgericht ein. Demjanjuk war bereits auf dem Weg nach Deutschland, nachdem amerikanische Beamte ihn aus seinem Haus in Cincinnati abgeholt und zum Flughafen gebracht hatten. Er sollte am 15. April 2009 in München ankommen. Sein Einspruch gegen die drohende Abschiebung hatte jedoch im allerletzten Moment Erfolg. Das Berufungsgericht stoppte die Abschiebung eine Stunde, nachdem Demjanjuk abgeholt wurde, bis auf weiteres.[15]

In den Niederlanden formierte sich im April 2009 eine Gruppe von Ehepartnern, Geschwistern und Kindern der Opfer, die in Erwartung des Prozesses in Deutschland als Nebenkläger auftreten wollen. Cornelius Nestler, Professor für Strafrecht in Köln und Anwalt der Opferangehörigen, sagte, „nicht Rache, sondern Gerechtigkeit“ sei das Ziel der Gruppe. „So wie das Leid und das Leiden der Angehörigen und der Überlebenden bis zu ihrem Tod andauert, so dauert auch die Verantwortung derer, die für dieses Leid verantwortlich sind, bis zu ihrem Tod an.[16]

Prozess in Deutschland

Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen führte ein Vorermittlungsverfahren gegen Demjanjuk durch, bei dem umfangreiches Material gesichtet wurde. Die Akten wurden dann an die Staatsanwaltschaft in München abgegeben.[17] Sie sah es als erwiesen an, dass er als Aufseher im Vernichtungslager Sobibór zwischen März und September 1943 an der Ermordung von „mindestens 29.000 Menschen jüdischen Glaubens“ mitgewirkt hat, darunter an 1939 Deutschen.[18] Die Generalstaatsanwaltschaft München lehnte die Zuständigkeit gegenüber der Zentralen Stelle für den Fall ab.[19] Daraufhin beantragte die Zentrale Stelle nach §13a StPO beim Bundesgerichtshof die Bestimmung des Gerichtsstandes. Das Verfahren gegen Demjanjuk wurde daraufhin durch Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 9. Dezember 2008[20] an das Landgericht München II verwiesen. Im Februar 2009 wurde von deutscher Seite die bisher in Deutschland angezweifelte Echtheit des in den USA archivierten SS-Dienstausweises Demjanjuks bestätigt. Die Münchner Staatsanwaltschaft I beantragte daraufhin am 11. März 2009 einen internationalen Haftbefehl gegen Demjanjuk. Sobald er in Deutschland sei, solle Anklage erhoben werden. Das weitere Vorgehen erfolge in enger Abstimmung mit der Bundesregierung.[18]

Demjanjuk geht gegen seine Ausweisung juristisch vor. Seine amerikanischen Anwälte brachten vor, die Ausweisung sei aufgrund Demjanjuks Alter und schlechten Gesundheits- und psychischen Zustands Folter[21] oder, mit Verweis auf die UN-Antifolterkonvention, ein „inhuman act“ („unmenschlicher Akt“). Der von Demjanjuks Anwälten angerufene zuständige Berufungsausschuss der US-Einwanderungsbehörde lehnte den Antrag auf Aussetzung der Abschiebung nach Deutschland ab.[14]

Am 14. April 2009 wurde Demjanjuk in Ohio in Auslieferungshaft genommen und sollte am 15. April 2009 in München ankommen und in der Krankenstation der Justizvollzugsanstalt München in Untersuchungshaft kommen. „Alter allein kann und darf vor einer Anklageerhebung nicht schützen“, forderte der Holocaustüberlebende und Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, Max Mannheimer.[22] Eine weitere Wende im Fall Demjanjuk kündigte sich kurz vor dem geplanten Abflug am 14. April 2009 an, als seine Auslieferung nach Deutschland in letzter Minute durch ein Berufungsgericht vorläufig ausgesetzt wurde.[23]

Demjanjuks deutscher Anwalt Ulrich Busch erhob im April 2009 eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium der Justiz. Die Klage verfolgt das Ziel, die Zustimmung der deutschen Bundesregierung zur Aufnahme Demjanjuks in Deutschland für unwirksam zu erklären. Ein Sprecher des US-Justizministeriums kommentierte die zahlreichen rechtlichen Schritte Demjanjuks gegen seine Abschiebung aus den USA mit den Worten: Demjanjuk wolle „im Endeffekt der Welt zeigen, dass trotz des Willens und der Pflicht der USA, jemanden abzuschieben, der geholfen hat, tödliche Naziverbrechen zu begehen, unser Rechtssystem so voller Schlupflöcher und Lücken ist, dass er am Ende mit dem Erfolg haben könnte, was er wirklich will: In Amerika zu sterben.[24] [25]

Demjanjuk in Roman und Film

Demjanjuks Fall wurde im Film Music Box (1989) des Filmregisseurs und Drehbuchautors Constantin Costa-Gavras aufgegriffen. Der Demjanjuk-Prozess diente dem US-amerikanischen Schriftsteller Philip Roth als Material für seinen 1993 erschienenen Roman Operation Shylock. Ein Bekenntnis.[26]

Einzelnachweise

  1. Thomas „Toivi“ Blatt: Sobibór – der vergessene Aufstand. Münster/Hamburg, 2004. Seite 139. Zu Sobibor vgl. auch: Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór, Münster / Hamburg, 2003
  2. Beleg/Quelle der Zitate?
  3. Mörderische Augen Der Spiegel vom 2. August 1993
  4. The New Republic, 22. Oktober 1990
  5. US 'Nazi guard' faces deportation - BBC News, 22. Dezember 2006
  6. Appeals court rules against Demjanjuk 30. Januar 2008
  7. John Demjanjuk's lawyer files appeal of deportation with U.S. Supreme Court, 25. April 2008
  8. USA schieben KZ-Aufseher ab, 20 Minutes, 19. Mai 2008
  9. Erste Schritte zur Demjanjuk-Ausweisung, Reuters, 25. März 2009
  10. Demjanjuk wehrt sich gegen Abschiebung Süddeutsche 3. April 2009
  11. Mutmaßlicher KZ-Wächter Demjanjuk darf doch ausgeliefert werden Spiegel Online, 6. April 2009
  12. Demjanjuk kann ausgeliefert werden Tagesschau 6. April 2009 ntv
  13. Demjanjuks Auslieferung weiter ungewiss, Friedrich Schmidt in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. April 2009
  14. a b Verfahren zur Auslieferung Demjanjuks kann weitergehen bei Spiegel Online, 10. April 2009
  15. US-Berufungsgericht stoppt Demjanjuks Auslieferung. Spiegel Online, 15. April 2009.
  16. Demjanjuks Auslieferungsaufschub abgelehnt. RP Online, 10. April 2009.
  17. Mutmaßlichem Massenmörder Demjanjuk droht Anklage in Deutschland Spiegel Online, 10. November 2008
  18. a b Deutsche Staatsanwälte erwirken Haftbefehl gegen Demjanjuk, Spiegel Online, 11. März 2009
  19. München lehnt Verfahren gegen Nazi-Schergen Demjanjuk ab, Spiegel Online, 26. November 2008
  20. Bundesgerichtshof Beschluss vom 9. Dezember 2008 Pressemitteilung
  21. Demjanjuk to be deported during weekend. (3. April 2009). United Press International (engl.; abgerufen 8. April 2009)
  22. US-Berufungsgericht stoppt Demjanjuks Auslieferung. Spiegel Online, 14. April 2009.
  23. Berufungsgericht stoppt Auslieferung Demjanjuks. Berliner Morgenpost, 15. April 2009.
  24. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,622330,00.html
  25. http://www.welt.de/wams_print/article3665710/Demjanjuks-Abschiebung-aus-den-USA-rueckt-naeher.html
  26. 1993 Operation Shylock. A Confession (deutsche Übersetzung:Operation Shylock. Ein Bekenntnis, dt. von Jörg Trobitius, Hanser München 1994, ISBN 3-446-17693-4)

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