- Genozid von Srebrenica
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Das Massaker von Srebrenica war ein Kriegsverbrechen während des Bosnienkriegs, das durch UN-Gerichte als Völkermord klassifiziert worden ist.[1]
In der Gegend von Srebrenica wurden im Juli 1995 bis zu 8000 Bosniaken – vor allem Männer und Jungen zwischen 12 und 77 Jahren – getötet.[2] Das Massaker wurde unter der Führung von Ratko Mladić von der Armee der Republika Srpska (Vojska Republike Srpske, VRS), der Polizei und serbischen Paramilitärs verübt. Es zog sich über mehrere Tage hin und verteilte sich auf eine Vielzahl von Tatorten in der Nähe von Srebrenica. Die Täter vergruben tausende Leichen in Massengräbern. Mehrfache Umbettungen in den darauf folgenden Wochen sollten die Taten verschleiern.
Die Ereignisse vom Juli 1995 gelten als das schlimmste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bereits abgeschlossene Prozesse vor internationalen Gerichten haben gezeigt, dass die Verbrechen nicht spontan erfolgten, sondern systematisch geplant und durchgeführt wurden. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (UN-Kriegsverbrechertribunal) in Den Haag bezeichnete das Massaker in den Urteilen gegen Radislav Krstić[3][4][5] sowie gegen Vidoje Blagojević und Dragan Jokić[6][7][8] als Völkermord. Ende Februar 2007 bewertete der Internationale Gerichtshof das Massaker ebenfalls als Genozid.[9]
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Militärische Auseinandersetzungen bis April 1993
Lage von Srebrenica in Bosnien und Herzegowina (dunkel gefärbt die Republika Srpska, hell gefärbt die Föderation Bosnien und Herzegowina)Im Bosnienkrieg fanden in der Region Ostbosnien, zu der auch die Stadt Srebrenica gehört, militärische Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Einheiten der bosnischen Serben und der Bosniaken statt. Zusammen mit Paramilitärs gelang es dem bosnisch-serbischen Militär im Frühjahr 1992 erstmals, die Kontrolle über Srebrenica zu gewinnen, deren Bevölkerung sich zu fast drei Vierteln aus Bosniaken zusammensetzte. Die Herrschaft der bosnischen Serben dauerte nur einige Wochen. Bosniakische Militäreinheiten unter der Führung von Naser Orić eroberten die Stadt Anfang Mai 1992 zurück.
Die umliegenden Regionen blieben in der Hand der bosnischen Serben, die Srebrenica erneut belagerten. Die bosniakischen Einheiten starteten aus der Stadt heraus Gegenoffensiven und Überfälle auf umliegende serbische Dörfer, die als Stützpunkte der Belagerer dienten. Es gelang den Bosniaken hierbei bis Januar 1993, das bosniakisch kontrollierte Gebiet um Srebrenica herum auf ein Maximum von ca. 900 Quadratkilometern auszudehnen. Die Belagerung konnten sie dadurch jedoch nicht durchbrechen. Insbesondere Truppen unter Naser Orić werden mit Bezug auf die Überfälle und Gegenoffensiven für Kriegsgräuel gegen bosnische Serben verantwortlich gemacht. Die Angaben über die Opferzahlen von 1992 bis 1995 schwanken dabei. In den letzten Jahren wurde in serbischen Medien von 1000 bis 3000 Opfern gesprochen. Die Dokumentation des niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation geht von mindestens 1000 serbischen Zivilisten aus. Das Research and Documentation Center in Sarajevo nennt eine Zahl von 424 bzw. 446 serbischen Soldaten und 119 serbischen Zivilisten.[10]
Im Frühjahr 1993 reorganisierte sich das bosnisch-serbische Militär unter Ratko Mladić. Seine erfolgreichen Offensiven reduzierten den Einflussbereich der Bosniaken bis März 1993 wieder auf ca. 150 Quadratkilometer. Bosniaken aus der Region um Srebrenica flüchteten im Zuge dieser Kampfhandlungen in die Stadt, deren Einwohnerzahl dadurch auf 50.000 bis 60.000 anstieg – 1991 hatte diese Zahl bei zirka 6000 gelegen. General Philippe Morillon, Kommandant der UNPROFOR in Bosnien, besuchte die von Flüchtlingen überfüllte Stadt vom 11. bis 13. März 1993. Die Lebensbedingungen in Srebrenica waren zu diesem Zeitpunkt kritisch: Die Trinkwasser- und Stromversorgung war weitgehend zusammengebrochen, Vorräte an Nahrung und Medikamenten waren sehr knapp, genauso wie Wohnraum. Vor seiner Abreise versprach Morillon den Einwohnern öffentlich, Srebrenica werde unter den Schutz der Vereinten Nationen gestellt; die UNO werde Srebrenica und seine Einwohner nicht im Stich lassen.
Im März und April 1993 wurden unter der Aufsicht des UNHCR Tausende Bosniaken aus Srebrenica evakuiert. Die bosnische Regierung in Sarajevo protestierte gegen diese Evakuierungen, weil diese Maßnahmen aus ihrer Sicht die Politik der ethnischen Säuberungen in Ostbosnien begünstigte.
Am 13. April 1993 teilten die bosnisch-serbischen Militärs Vertretern des UNHCR mit, sie würden Srebrenica angreifen, falls sich die Bosniaken nicht innerhalb von zwei Tagen ergeben würden.
Einrichtung der Schutzzone
Als Reaktion auf diese Bedrohungslage verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 16. April 1993 die Resolution 819. Sie forderte von allen Parteien, Srebrenica und die umliegende Region als safe area, als Schutzzone, zu betrachten. Jeder Angriff auf Srebrenica und jeder andere „unfreundliche Akt“ gegenüber dieser Schutzzone müsse unterbleiben. Am 18. April rückten die ersten 170 UNPROFOR-Soldaten, hauptsächlich Kanadier, in Srebrenica ein. Der Sicherheitsrat unterstrich den Status Srebrenicas als Sicherheitszone am 6. Mai 1993 durch Resolution 824 und am 4. Juni 1993 durch Resolution 836. Letztere gestattete dabei die Anwendung von Waffengewalt durch UNPROFOR-Soldaten für Zwecke der Selbstverteidigung. Das erste niederländische Bataillon, Dutchbat I, erreichte die Schutzzone Srebrenica im März 1994. Im Juli desselben Jahres wurde es von Dutchbat II abgelöst, dem im Januar 1995 Dutchbat III folgte.
Das Mandat und damit auch die Bewaffnung der Blauhelme blieben grundsätzlich umstritten. Staaten, die UNO-Truppen für Bosnien und für die Schutzzonen stellten, lehnten die Anwendung von militärischer Gewalt gegen die bosnischen Serben ab. Sie fürchteten um die Sicherheit ihrer Soldaten. Staaten, die keine Truppen vor Ort hatten, favorisierten zunehmend eine Erweiterung des Mandats; auch die Anwendung von militärischer Gewalt gegen die VRS sollte aus ihrer Sicht erwogen werden.[11] Das Mandat und die nur leichte Bewaffnung der UNPROFOR-Soldaten orientierten sich schließlich an klassischen friedenserhaltenden Missionen, nicht an Einsätzen, die den Frieden auch gegen eine Partei erzwingen.
Auf die Einrichtung der Schutzzone Srebrenica folgte eine Phase der relativen Stabilität. Anzahl und Schwere der Gefechte gingen zurück. Dennoch wurden die Befriedung der Schutzzone und ein Schutz ihrer Bewohner nicht vollständig erreicht. Nach Blauhelm-Angaben gelang die geforderte Demilitarisierung der bosniakischen Einheiten innerhalb der Enklave weitgehend. Die Bosniaken widersetzten sich aber einer vollständigen Entwaffnung. Während schweres Militärgerät bis auf einige Hubschrauber und wenige Minenwerfer abgeliefert wurde, weigerten sich viele Bosniaken, leichte Waffen herauszugeben. Die bosnisch-serbischen Einheiten verblieben ihrerseits in ihren Stellungen, von denen sie die Schutzzone fortgesetzt mit schweren Waffen bedrohten; sie verweigerten die Demilitarisierungsbestimmungen vollständig. Immer wieder beschwerten sich Bosniaken über Angriffe der bosnischen Serben. Die bosnisch-serbische Armee erschwerte und blockierte außerdem Hilfskonvois, die für Srebrenica vorgesehen waren. Die Lage der Bevölkerung in der Schutzzone blieb trotz der relativen Stabilität kritisch.
Am 14. Juni 1993 forderte UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali 34.000 UNO-Soldaten für die Sicherung der Schutzzonen. Der Sicherheitsrat bewilligte vier Tage später allerdings nur eine Erweiterung der Truppen um 7600 Mann. Diese Aufstockung der Truppen war erst im Sommer 1994 abgeschlossen.[12] Widerstand gegen die Bereitstellung weiterer Truppenkontingente resultierte aus spezifischen Sorgen um die Sicherheit der UNO-Blauhelme und aus allgemeinen Überlegungen zur Eindämmung von Kosten für solche Friedensmissionen.
Im Frühjahr 1995 verschlechterte sich die prekäre Lage für die Flüchtlinge und die Blauhelmsoldaten erneut deutlich. Immer mehr Hilfskonvois für Srebrenica wurden durch bosnisch-serbische Verbände blockiert. Davon waren sowohl die eingeschlossenen Flüchtlinge als auch die UN-Soldaten betroffen, deren Vorräte sich ebenfalls stark reduzierten. Wenn Angehörige der UNPROFOR die Schutzzone Srebrenica verließen, um Material- und Lebensmittelnachschub für ihre Truppe zu organisieren, wurde ihnen anschließend die Rückkehr in die Schutzzone durch bosnisch-serbische Einheiten verweigert. Auf diese Weise sank die Zahl der niederländischen Blauhelme in der Schutzzone von anfänglich 600 auf ca. 450 bis 400.
Die Bereitschaft der Entsendestaaten, weitere Truppen für den Einsatz in Bosnien und den Schutzzonen zu stellen, war in Anbetracht dieser Situation gering. Auch Luftangriffe auf Stellungen der VRS erschienen der UNO und den Truppen stellenden Staaten nicht opportun. Die UNO-Führung ging davon aus, dass die bosnisch-serbischen Einheiten NATO-Luftangriffe als Kriegshandlung der UNO gegen die VRS deuten würden. Man fürchtete eine Eskalation, aus der es für die Weltorganisation keinen einfachen Ausweg gäbe. Für jede Friedensmission sei solch eine Situation fatal. Auch humanitäre Hilfslieferungen für die Zivilbevölkerung seien dann kaum mehr durchführbar. Die UNO-Spitze befürchtete überdies weitere Angriffe auf die UNPROFOR-Einheiten, deren Sicherheit für die UNO und die Truppen stellenden Staaten von entscheidender Bedeutung war.[13]
Radovan Karadžić erließ Anfang März 1995 an die bosnisch-serbische Armee die „Direktive 7“. In ihr forderte der Präsident der Republika Srpska, durch gut geplante und durchdachte Militäroperationen eine unerträgliche Lage völliger Unsicherheit in der Schutzzone Srebrenica herbeizuführen. Den Eingeschlossenen sollte keine Hoffnung auf Überleben oder Leben in der Schutzzone gelassen werden. Mehrere drängende Appelle der Eingeschlossenen, einen Korridor für Hilfslieferungen zu öffnen, blieben erfolglos. Anfang Juli starben Einwohner Srebrenicas an Hunger und Entkräftung. Bereits seit März 1995 registrierten Blauhelme Vorbereitungen der bosnisch-serbischen Armee für Angriffe auf UN-Beobachtungsposten am Rand der Schutzzone.
Einmarsch der bosnisch-serbischen Einheiten in die Schutzzone
Die bosnisch-serbische Armee und die Paramilitärs marschierten im Juli 1995 aus südlicher Richtung in die Schutzzone ein. Am 9. Juli waren sie nur noch einen Kilometer von der Stadtgrenze entfernt. Widerstand von bosniakischen Truppen oder UNPROFOR-Einheiten blieb fast völlig aus. Das ermunterte Karadžić, den bosnisch-serbischen Verbänden die Erlaubnis zur Einnahme der Stadt zu erteilen.
In Anbetracht dieser Eskalation forderte der Kommandant der Blauhelme, Thomas Karremans, mehrfach NATO-Luftunterstützung an. Umfassende Luftunterstützung blieb jedoch aus. Zwei Flugzeuge der NATO bombardierten einen Panzer der bosnischen Serben und setzten diesen außer Gefecht. Sofort darauf drohten die bosnischen Serben, bei Fortsetzung von NATO-Luftangriffen würden sie die UNPROFOR-Soldaten, die sie bereits als Geiseln interniert hatten, ermorden. Ferner würden sie die zusammengedrängten Flüchtlingsmassen gezielt unter Beschuss nehmen. Daraufhin wurden alle Bemühungen eingestellt, die eindringenden bosnisch-serbischen Truppen durch Luftangriffe zu stoppen.
Das Massaker
Flucht der Bosniaken nach Potočari
Nachdem die bosnisch-serbischen Einheiten die Kontrolle in Srebrenica übernommen hatten, flohen tausende der bosniakischen Einwohner nach Potočari, einen nördlichen Nachbarort noch innerhalb der Schutzzone, um dort auf dem Gelände der Blauhelme Schutz zu suchen. Am Abend des 11. Juli 1995 befanden sich in Potočari ca. 20.000 bis 25.000 bosniakische Flüchtlinge. Mehrere Tausend drängten sich auf dem Blauhelm-Gelände, während der Rest sich auf benachbarte Fabriken und umliegende Felder verteilte. Obwohl die überwältigende Mehrheit Frauen, Kinder, Behinderte oder ältere Personen waren, schätzten Augenzeugen im Prozess gegen Krstić, dass auch ca. 300 Männer auf dem UN-Gelände und ca. 600 bis 900 weitere Männer in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Schutz gesucht hatten.[14]
Die humanitäre Krise in Potočari
Die Bedingungen in Potočari waren chaotisch. Am 12. Juli herrschte eine stickige Juli-Hitze. Nahrung und Wasser waren kaum vorhanden. Bosnisch-serbische Einheiten schossen auf Häuser in Sicht- und Hörweite der Flüchtlinge, sie feuerten ebenfalls gezielt auf die Menschenmenge in Potočari. Unter den Flüchtlingen breitete sich Angst, Entsetzen und Panik aus. In der Dämmerung spitzte sich diese Lage zu, weil bosnisch-serbische Soldaten Häuser und Felder in Brand setzten.
Bereits am Nachmittag hatten sich einzelne bosnisch-serbische Soldaten unter die Flüchtlinge gemischt, um diese mit massiven Drohungen und Gewalt unter Druck zu setzen. Zeugen im Verfahren gegen Krstić berichteten von vereinzelten Morden, die bereits am 12. Juli verübt wurden.
In den Abendstunden und in der Nacht intensivierte sich der Terror. Schüsse, Schreie und unheimliche Geräusche machten Schlaf unmöglich. Eine Reihe von Frauen und Mädchen wurde vergewaltigt. Bosnische Serben griffen einzelne Flüchtlinge aus der Menge heraus und führten sie ab. Manche tauchten danach nie wieder auf. Einige Flüchtlinge begingen angesichts dieser Situation Selbstmord. In der Nacht vom 12. auf den 13. Juli sowie am nächsten Morgen breiteten sich die Schreckensnachrichten über Vergewaltigungen und Morde in der Menge der Flüchtlinge aus.
Abtransport der Frauen, Kinder und Alten
Am 12. und 13. Juli wurden die Frauen, Kinder und Alten in zum Teil völlig überfüllten und überhitzten Bussen, die von bosnisch-serbischen Soldaten kontrolliert wurden, von Potočari auf bosniakisch kontrolliertes Gebiet in der Nähe von Kladanj verbracht. Obwohl viele nicht wussten, wohin die Busse fuhren, waren sie froh, den Zuständen in Potočari entkommen zu können. Nach dem Ende der Busfahrt mussten die Flüchtlinge zu Fuß noch einige Kilometer durch das Niemandsland zwischen den Linien gehen, bis sie Kladanj schließlich erreichten.
Die niederländischen Blauhelm-Soldaten versuchten die Busse zu eskortieren, was ihnen nur beim ersten Konvoi gelang. Bosnisch-serbische Einheiten hinderten sie bei den nachfolgenden Konvois daran. Die Fahrzeuge wurden den UN-Soldaten mit Waffengewalt abgenommen.
Am Abend des 13. Juli befand sich kein Bosniake mehr in Potočari. Am 14. Juli entdeckten die UN-Soldaten auf ihren Erkundungsgängen in der Stadt Srebrenica nicht einen lebenden Bosniaken.
Aussonderung der männlichen Bosniaken
Seit den Morgenstunden des 12. Juli begannen die bosnisch-serbischen Kräfte damit, Männer aus der Masse der Flüchtlinge auszusondern und an separaten Plätzen – eine Zink-Fabrik und ein Gebäude mit dem Namen „Weißes Haus“ – festzuhalten. Später wurden diese Männer mit Lastwagen und gesonderten Bussen von dort abtransportiert. Bosnisch-serbische Soldaten verwehrten männlichen Flüchtlingen im wehrfähigen Alter, gelegentlich auch Jüngeren und Älteren, das Besteigen der Busse. Die Art und Weise, wie die Selektionen durchgeführt wurden, war für die betroffenen Familien traumatisch, wie Zeugen im Krstić-Prozess in Den Haag berichteten. Die Busse, die die Frauen, Kinder und Älteren nach Kladanj transportierten, wurden auf dem Weg dorthin von bosnisch-serbischem Militär gestoppt und nach Männern durchsucht. Wurden dabei welche entdeckt, wurden diese abgeführt.
Durch die Selektion, die Internierung und den späteren Abtransport wurden die Ausgesonderten jedem Schutz durch UNPROFOR entzogen. Auf Fragen von Blauhelm-Soldaten nach dem Grund für die Selektionen antworteten bosnisch-serbische Soldaten mit dem Vorwand, man suche nach Personen, die Kriegsverbrechen begangen haben.[15]
Am 12. und 13. Juli wurden UN-Soldaten in Potočari Zeugen von Morden an Bosniaken. Diese Morde verübten bosnische Serben in und hinter dem „Weißen Haus“.
Die Marschkolonne
Bereits angesichts der Flüchtlingskrise in Potočari vom Abend des 11. Juli kamen unter den Bosniaken Überlegungen auf, einen gemeinsamen Fluchtversuch zu unternehmen. Dazu sollten sich die körperlich geeigneten Männer sammeln und zusammen mit Mitgliedern der 28. Division der Armee Bosnien-Herzegowinas (ABiH) eine Kolonne formen. Diese sollte versuchen, nordwestlich durch die Wälder in Richtung Tuzla bzw. bosniakisch kontrolliertes Gebiet durchzubrechen. Insbesondere die jüngeren Männer fürchteten ihre Ermordung, würden sie den bosnisch-serbischen Kräften in Potočari in die Hände fallen.
Der Zug formierte sich in der Nähe der Ortschaften Jaglici und Šušnjari. Zeugen schätzten seine Größe auf 10.000 bis 15.000 Mann. Rund ein Drittel bestand aus Mitgliedern der 28. Division. Nicht alle dieser Mitglieder waren bewaffnet. Waffen, militärische Disziplin und militärisches Training dieser Division waren armselig.[16] Einheiten der 28. Division bildeten die Spitze der Kolonne. Daran schlossen sich Zivilisten an, durchmischt mit Soldaten. Den Schluss bildete das Unabhängige Bataillon der 28. Division.
Wenige Frauen, Kinder und Alte gehörten ebenfalls zum Treck. Wenn sie später von bosnisch-serbischen Kräften gefangen wurden, wurden sie ebenfalls den Bussen zugeführt, die von Potočari in Richtung Kladanj unterwegs waren.
In der Nacht vom 11. auf den 12. Juli, gegen Mitternacht, setzte sich die Kolonne in Marsch. Am 12. Juli starteten bosnisch-serbische Militäreinheiten einen schweren Artillerie-Angriff auf die Flüchtenden, als diese versuchte, eine Asphaltstraße in der Nähe von Nova Kasaba zu überqueren. Die Kolonne wurde dadurch gespalten. Nur ca. einem Drittel gelang die Überquerung. Während des ganzen Tages und in der Nacht nahmen bosnisch-serbische Einheiten den blockierten Teil des Zuges unter Feuer. Überlebende aus diesem hinteren Teil bezeichneten diese Attacken als „Menschenjagd“.
Am Nachmittag und Frühabend des 12. Juli machten die bosnisch-serbischen Einheiten eine große Anzahl von Gefangenen unter denjenigen, die zum hinteren Teil des Flüchtlingszuges gehörten. Dazu nutzten sie unterschiedliche Taktiken. Zum Teil errichteten sie Hinterhalte. Oft feuerten die bosnisch-serbischen Einheiten mit Luftabwehr-Waffen und anderem schweren Gerät in die Wälder. In anderen Fällen riefen sie in den Wald und drängten die Bosniaken zur Kapitulation; als Gefangene würden diese gemäß der Genfer Konventionen behandelt werden. Auch wurden gestohlene UNPROFOR-Materialien und -Gerätschaften (Fahrzeuge, Helme, Westen etc.) verwendet, um den Bosniaken zu suggerieren, UN-Soldaten oder das Rote Kreuz seien vor Ort, um die adäquate Behandlung von Gefangenen zu überwachen. Tatsächlich stahlen die bosnischen Serben die persönlichen Habseligkeiten ihrer bosniakischen Gefangenen, in einigen Fällen wurden Gefangene an Ort und Stelle ermordet.
Die meisten Gefangenen machten die bosnisch-serbischen Einheiten am 13. Juli. Mehrere Tausend wurden auf einem Feld in der Nähe von Sandici sowie auf dem Fußballplatz von Nova Kasaba festgehalten.
Die Spitze der Marschkolonne, die die Straße überqueren konnte, wartete zunächst, was mit dem Rest des Trecks passieren würde. Der schwere Beschuss der blockierten zweiten Gruppe dauerte am 12. Juli bis in die Nacht, so dass in der Kolonnenspitze die Hoffnung sank, der Rest könne aufschließen. Am 13. Juli setzte die Spitze des Flüchtlingstrecks ihren Marsch in nordwestlicher Richtung fort. Auch sie geriet dabei in Hinterhalte und erlitt schwere Verluste. Am 15. Juli scheiterte der erste Versuch, auf bosniakisch kontrolliertes Gebiet durchzubrechen. Dies gelang erst am darauf folgenden Tag und mit Unterstützung von Einheiten der ABiH, die aus Richtung Tuzla herangeführt wurden, um einen Korridor für die auftauchenden Flüchtlinge freizukämpfen.
Exekutionen
Die bosniakischen Männer, die in Potočari von den Frauen, Kindern und Älteren getrennt worden waren, wurden nach Bratunac transportiert. Später kamen zu dieser Gruppe auch Männer, die mit der Kolonne den kollektiven Fluchtversuch durch die Wälder unternommen hatten, von den bosnischen Serben jedoch gefangen genommen worden waren. Bei der Internierung in Bratunac gab es keine Versuche, diese beiden Personengruppen voneinander getrennt zu halten.
Die bosnisch-serbischen Sicherheitskräfte nutzten für die Internierung verschiedene Gebäude, zum Beispiel ein verlassenes Warenhaus und eine alte Schule, aber auch die Busse und Lastwagen, mit denen sie die Gefangenen nach Bratunac beförderten. In der Nacht wurden einzelne Gefangene herausgerufen. Zeugen hörten Schmerzensschreie und Gewehrfeuer. Nach einem Zwischenaufenthalt in Bratunac von ein bis drei Tagen wurden die Bosniaken an andere Orte gebracht, als die Busse zur Verfügung standen, mit denen zuvor die Frauen, Kinder und Alten in Richtung des bosniakisch kontrollierten Gebiets gefahren worden waren.
Fast alle bosniakischen Gefangenen wurden getötet. Manche wurden einzeln ermordet, andere in kleinen Gruppen bei ihrer Gefangennahme, wieder andere wurden an den Orten ihrer Internierung umgebracht. Die meisten wurden in sorgfältig geplanten und durchgeführten Massenexekutionen getötet, die am 13. Juli in der Region nördlich von Srebrenica begannen. Gefangene, die am 13. Juli nicht getötet wurden, wurden an Exekutionsstätten nördlich von Bratunac transportiert. Die umfangreichen Massenexekutionen im Norden fanden zwischen dem 14. und 17. Juli statt.
Die meisten Massenexekutionen folgten einem einheitlichen Muster. Zunächst wurden die Opfer in leerstehenden Schulgebäuden oder Lagerhäusern interniert. Dort wurden ihnen Nahrung und Getränke verweigert. Nach einigen Stunden fuhren Busse oder Lastwagen vor und beförderten die Gefangenen an einen zur Exekution bestimmten, üblicherweise abgelegenen Platz. In einigen Fällen wurden zusätzlich Maßnahmen ergriffen, um mögliche Widerstände zu minimieren. Dazu gehörten das Verbinden der Augen und das Fesseln der Handgelenke hinter dem Rücken. Als die Busse oder Lastwagen an den Exekutionsstätten ankamen, mussten die Gefangenen sich aufreihen und wurden erschossen. Diejenigen, die die Salven überlebten, wurden mit weiteren Schüssen getötet. Schweres Erdräumgerät zum Vergraben der Leichen fuhr sofort im Anschluss an die Exekutionen auf, manchmal sogar schon während der Erschießungen. Die Massengräber wurden entweder direkt dort ausgehoben, wo die Erschossenen lagen, oder in unmittelbarer Nähe.
Primäre und sekundäre Massengräber
Bis 2001 identifizierten forensische Experten insgesamt 21 Massengräber, in denen sich nachweislich Opfer des Massakers von Srebrenica befanden. 14 von diesen Massengräbern sind so genannte primäre Massengräber, in denen die Getöteten direkt nach der Exekution vergraben wurden. Von diesen 14 wurden acht später zerstört. Die Leichen wurden dabei entfernt und an anderer Stelle erneut vergraben. Oft lagen diese so genannten sekundären Massengräber – bis 2001 wurden sieben entdeckt – in weiter entfernten Gegenden. Die Umbettungen erfolgten, weil die bosnisch-serbischen Täter die Massenmorde vertuschen wollten. Im Urteil gegen Krstić werden 18 weitere Massengräber erwähnt, die mit dem Massaker in Verbindung stehen, bis zum Ende des Prozesses gegen Krstić jedoch noch nicht untersucht werden konnten.
Die Überreste von zirka 8000 Opfern wurden seit Ende des Bosnienkrieges exhumiert. Etwa 3200 Leichen konnten bislang namentlich zugeordnet werden.[17]
Folgen
Politische Reaktionen
Unmittelbar nach dem Fall der Schutzzone Srebrenica kritisierte die Türkei mit scharfen Worten die UNO und ihren Sicherheitsrat. Der Einmarsch sei ein Schlag ins Gesicht des Sicherheitsrats, die UNO habe durch dieses Ereignis ihr Prestige verloren.[18] In den Wochen nach dem Einmarsch der bosnisch-serbischen Truppen gab es auch in der türkischen Öffentlichkeit Proteste: Demonstrationen, Geldsammlungen für Flüchtlinge und kritische Zeitungsberichte gehörten zu dieser Reaktion.
Wenige Tage nachdem die bosnisch-serbischen Einheiten Srebrenica eingenommen hatten, forderte Jacques Chirac die Wiedereroberung der Schutzzone. International wurde diese Forderung jedoch nur als eine symbolische Geste nachträglicher Entschlossenheit eingestuft, Verbündete für diese Idee fand der neu gewählte französische Präsident nicht.
Am 24. Juli 1995 schloss der UN-Menschenrechtsbeauftragte Tadeusz Mazowiecki eine einwöchige Untersuchung zum Fall Srebrenica ab. Er erklärte, von 40.000 Einwohnern der Enklave seien 7.000 offenbar „verschwunden“. Nachdem auch die Schutzzone Žepa gefallen war, trat er am 27. Juli von seinem Amt zurück.
In der zweiten Juli-Hälfte kamen erste Gerüchte über das Massaker auf. Diese Nachrichten verdichteten sich, als die wenigen Überlebenden des Massakers erste Zeugenaussagen machten, nachdem sie bosniakisch kontrolliertes Territorium erreicht hatten. Aussagen niederländischer Blauhelm-Soldaten wirkten in die gleiche Richtung.
Am 10. August legte die amerikanische UN-Botschafterin Madeleine Albright dem UNO-Sicherheitsrat Satellitenaufnahmen vor, die auf Gräueltaten bosnischer Serben in der Umgegend von Srebrenica schließen ließen. Zirka drei Monate später, am 18. November 1995, wurde am UN-Kriegsverbrechertribunal Anklage gegen Mladić und Karadžić wegen der Verbrechen von Srebrenica erhoben. Diese Klage war die zweite gegen die beiden, am 25. Juli 1995 waren sie bereits wegen Verbrechen angeklagt worden, die zeitlich vor dem Massaker von Srebrenica stattgefunden hatten.
Im Dezember 1995 verurteilte die Außenministerkonferenz der islamischen Staaten die Handlungen der bosnischen Serben und sprach von Völkermord.[19]
Im April 1996 untersuchte eine größere Ermittlungskommission des Haager Gerichts erstmals vor Ort Exekutionsorte und Massengräber. Die erste Öffnung eines Massengrabs erfolgte im Juli 1996. Die forensischen Untersuchungen ziehen sich aufgrund der Vielzahl der Ermordeten, der Tatorte und der Massengräber bis heute hin. Überdies erschweren die 1995 durchgeführten, groß angelegten Vertuschungsversuche die Arbeit der Kriminalisten und Gerichtsmediziner.[20]
Am 15. November 1999 legte Kofi Annan als amtierender UNO-Generalsekretär einen Bericht zum Fall der Schutzzone Srebrenica vor. Dieser Bericht kritisierte unter anderem die Fehlleistungen der UN-Institutionen deutlich. Zusammen mit den selbstkritischen Bewertungen zum Agieren der UNO im Angesicht des Völkermords in Ruanda (April bis Juli 1994) sollte dieser Bericht mit zu einer Neuausrichtung von UN-Friedensmissionen beitragen.
Im Juni 2004 räumten Vertreter der Republika Srpska erstmals offiziell die Verantwortung bosnisch-serbischer Sicherheitskräfte für das Massaker von Srebrenica ein. Dabei offenbarten sie weitere, bis dahin unbekannte Massengräber, die in Zusammenhang mit dem Massaker stehen. Im November 2004 entschuldigte sich die Regierung der Republika Srpska erstmalig für die Menschenrechtsverletzungen, die in und um Srebrenica herum im Juli 1995 begangen wurden.[21]
Am 2. Juni 2005 zeigte der Anklagevertreter im Prozess gegen den früheren jugoslawischen Staatspräsidenten Slobodan Milošević ein Videoband, das die Erschießung von vier männlichen Jugendlichen und zwei jungen Männern zeigt.[22] Sie sollen aus Srebrenica stammen, die Täter sind offenbar Angehörige der serbischen Sondereinheit „Skorpione“. Kurz darauf strahlten verschiedene serbische Fernsehsender diese Aufnahmen aus. Sie führten in der serbischen Öffentlichkeit zu einer intensiven Diskussion über das Verbrechen, das zuvor kaum thematisiert wurde. Der serbische Premierminister Vojislav Koštunica sprach von einem „brutalen, gnadenlosen und beschämenden Verbrechen“ an Zivilisten.[23] Rasch nach der Ausstrahlung verhaftete die Polizei einige der mutmaßlichen Täter.[24] Auch in westlichen Medien wurde über dieses Video und die Reaktionen in Serbien berichtet.[25] Am 10. April 2007 verhängte ein serbisches Gericht gegen vier Tatbeteiligte langjährige Haftstrafen, ein fünfter Angeklagter wurde freigesprochen.[26] In gegenteiligen Darstellungen werden die Erschießung und der Zusammenhang der Filmszenen mit dem Massaker bestritten.
Anfang Oktober 2005 legte eine Sonderarbeitsgruppe der bosnisch-serbischen Regierung dem UN-Kriegsverbrechertribunal eine Liste von etwa 19.500 Personen vor, die sich an dem Massaker auf die eine oder andere Art direkt beteiligt haben sollen.[27]
Debatte zur Rolle der Blauhelm-Soldaten
Das Agieren der Blauhelme ist international eingehend erörtert worden. Beispielsweise findet sich im UN-Bericht zu den Ereignissen von Srebrenica ein Abschnitt zu diesem Thema.[28] Auch das französische Parlament richtete fünfeinhalb Jahre nach dem Fall der Enklave einen Untersuchungsausschuss ein, der im November 2001 seinen Abschlussbericht zu diesen Vorgängen vorlegte.[29]
Vor allem wird in den Niederlanden eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion darüber geführt, ob die UN-Soldaten vor Ort Handlungsalternativen gehabt haben. Diese Debatte stützt sich inzwischen auf die Erkenntnisse einer Reihe größerer Untersuchungen, die zum Fall der Schutzzone und zum Verhalten von Dutchbat entstanden sind.
Die Einschätzungen sind sehr unterschiedlich. Kritiker werfen den niederländischen Blauhelmen vor, sie hätten Teile des Massakers mitbekommen und durch Nicht-Einschreiten geduldet. In diesem Zusammenhang wird auch von Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gesprochen. Diese Kritiker konstatieren ein Versagen des niederländischen Bataillons, dem sich gezielte Vertuschungsversuche niederländischer Militärs und Politiker anschlossen.[30]
Andere Stellungnahmen betonen dagegen, dass die Soldaten vor Ort kaum Kenntnis von den Gräueln gehabt haben, weil sie an entsprechenden Beobachtungen von den Einheiten der bosnischen Serben systematisch gehindert wurden. Außerdem seien sie im Stich gelassen worden, obwohl sie mehrfach eindringlich Luftunterstützung zum Schutz der Enklave und zu ihrer eigenen Sicherheit angefordert hatten. Dutchbat sei ferner durch die niederländische und internationale Politik mit dem Schutz der Bosniaken betraut worden, ohne dass ihnen dazu jemals adäquate Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Die Aufgabe sei eine „mission impossible“ gewesen.[31]
Handlungen, Unterlassungen und Schlussfolgerungen sind mittlerweile in symbolträchtigen Bildern verdichtet. Dazu gehört das bekannte Foto, das Ratko Mladić und Thomas Karremans am Abend des 12. Juli 1995 bei einem gemeinsamen Trinkspruch festhält. Dazu zählen die Videoaufnahmen von feiernden und tanzenden Dutchbat-Soldaten in Zagreb, unmittelbar nach ihrem Abzug aus Srebrenica. Auch der Rücktritt der niederländischen Regierung unter Wim Kok am 16. April 2002, wenige Tage nach Veröffentlichung der umfangreichen Srebrenica-Studie des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD), wurde als Symbol interpretiert, sieben Jahre nach den Ereignissen politische Verantwortung zu übernehmen.
Begleitet von Protesten von Srebrenica-Überlebenden ehrte am 4. Dezember 2006 die niederländische Regierung demonstrativ ungefähr 500 Soldaten. Sie hätten seinerzeit einen „außerordentlich schwierigen Auftrag“ gehabt, so der niederländische Verteidigungsminister Henk Kamp. Nach 1995 seien sie jahrelang falschen Anschuldigungen ausgesetzt gewesen, jedoch mittlerweile durch offizielle Untersuchungen entlastet. Bosnien und Herzegowina protestierte auf diplomatischer Ebene gegen diese Ehrung. Angehörige von Massaker-Opfern und Überlebende aus Srebrenica sprachen bei Protestkundgebungen von einem „Genozid-Orden“. An der Demonstration in Sarajevo gegen die Auszeichnung der Soldaten beteiligte sich die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und forderte in einem offenen Brief an Kamp und Ministerpräsident Jan Peter Balkenende eine Entschuldigung bei den Überlebenden von Srebrenica.[32][33][34]
Strafverfahren
Verfahren vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal
Eine Reihe von Personen ist vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal wegen des Massakers von Srebrenica angeklagt worden. Die Prozesse gegen Dražen Erdemović, Radislav Krstić und Dragan Obrenović sind abgeschlossen. Die Angeklagten wurden verurteilt. Das Verfahren gegen Vidoje Blagojević und Dragan Jokić befindet sich in der Berufungsinstanz, genauso wie das Verfahren gegen Momir Nikolić. Gegen neun weitere hohe bosnisch-serbische Militärs und Polizeiangehörige stehen die Verfahren am Anfang. Einer der bekanntesten Angeklagten, Mladić, ist immer noch flüchtig.[35] Zdravko Tolimir wurde am 31. Mai 2007 festgenommen.[36] Karadžić wurde nach jahrelanger Flucht am 18. Juli 2008 gefasst [37]. In den Urteilen gegen Krstić sowie gegen Blagojević und Jokić wird das Geschehen als Völkermord klassifiziert.
Verfahren gegen Serbien vor dem Internationalen Gerichtshof
Im Jahr 2006 verklagte Bosnien-Herzegowina beim Internationalen Gerichtshof seinen Nachbarstaat Serbien. Serbien sei für Völkermord verantwortlich und müsse darum Entschädigungszahlungen leisten. Der Internationale Gerichtshof hat Ende Februar 2007 dieser Klage nicht entsprochen. Serbien habe keine direkte Verantwortung für die Verbrechen, die im Bosnienkrieg begangen wurden. Aus diesem Grund könne es nicht zu Entschädigungszahlungen herangezogen werden. In seinem Urteil bewertete der Gerichtshof das Massaker von Srebrenica jedoch als Völkermord und bestätigte in dieser Hinsicht die Urteile des Kriegsverbrechertribunals. Serbien müsse sich nach dem Urteil des Gerichtshofs zudem eine indirekte Mitverantwortung für die Geschehnisse zurechnen lassen, denn es habe nicht alle seine Möglichkeiten genutzt, um Kriegsverbrechen und Völkermord zu unterbinden.[38] Auf dem Balkan fiel die Reaktion auf das Urteil unterschiedlich aus, insbesondere auf die Entscheidung, mit Ausnahme des Massakers von Srebrenica liege kein Fall von Völkermord vor.[39]
Klagen von Hinterbliebenen
Beinahe 8.000 Hinterbliebene der Massakeropfer haben sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen, die unter dem Namen Mütter von Srebrenica bekannt ist. Dieser Opferverband reichte am 4. Juni 2007 beim Landgericht in Den Haag eine Klage gegen die Vereinten Nationen ein. Nach Auffassung der Hinterbliebenen hatten die Vereinten Nationen keine ausreichende Maßnahmen für den Schutz der Menschen in der UN-Schutzzone ergriffen.[40] In seinem Urteil am 10. Juli 2008 billigte das Gericht den Vereinten Nationen jedoch Immunität zu. Dieser Schutz vor jeder gerichtlichen Verfolgung ergebe sich aus völkerrechtlichen Bestimmungen. Staatliche Gerichte könnten sich daher nicht mit Klagen gegen die UN befassen. Die Anwälte der Mütter von Srebrenica kündigten Berufung gegen die Entscheidung an.[41] Im September 2008 lehnte das Gericht eine weitere Klage von Hinterbliebenen gegen den niederländischen Staat ab. Dieser könne nicht für Taten verklagt werden, die niederländische Soldaten begangen oder unterlassen hätten, als diese unter UNO-Befehlen standen. Die Hinterbliebenen haben auch gegen dieses Urteil Revision angekündigt.[42]
Ermittlungen zur Beteiligung griechischer Söldner
2005 begannen in Griechenland staatsanwaltschaftliche Untersuchungen zur Frage, welche griechischen Söldner am Einmarsch der bosnisch-serbischen Truppen in Srebrenica teilnahmen und ob sie an den Massakern beteiligt waren. Es besteht der Verdacht, dass sie Teil des Drina-Korps gewesen sind. Greifbare Ergebnisse dazu liegen bislang jedoch nicht vor.[43]
Zweifel, Relativierung und Bestreiten des Massakers
Lange Zeit wurde in vielen serbischen Medien das Massaker von Srebrenica geleugnet. Auch in westlichen Print- oder Onlinepublikationen wurde gelegentlich die Behauptung aufgestellt, die Ereignisse hätten nicht stattgefunden oder seien in den Medien grob falsch und verzerrt dargestellt worden.
Im deutschsprachigen Raum relativierte vor allem Jürgen Elsässer in der Tageszeitung Junge Welt das Massaker, unter anderem durch Berufung auf serbische Kriegsopfer.[44] Die Klassifizierung des Geschehens als Völkermord nennt Elsässer eine „Lüge“[45] und einen „Mythos“.[46] Er behauptet, eine Reihe von muslimischen Toten seien im Sommer 1995 Opfer von Liquidationen geworden, die andere Muslime um Naser Orić verübt hätten.[47] Dem Haager Kriegsverbrechertribunal wirft Elsässer unter Bezugnahme auf dessen Urteil gegen Orić vor, es urteile einseitig zuungunsten serbischer Angeklagter.[48] George Pumphrey leugnet in der Zeitschrift konkret das Geschehen.[49] In der Wochenzeitung Junge Freiheit zweifelt Nikola Živković die Zahl der Todesopfer an.[50] Auch im englischsprachigen Raum werden die Geschehnisse gelegentlich sowohl von einigen Publizisten der Linken[51] als auch von Autoren aus dem konservativen Lager relativiert[52].
Der Begriff Völkermord zur Bezeichnung des Geschehens wird abgelehnt, denn nur männliche Personen seien dem Massaker zum Opfer gefallen, keinesfalls alle bosniakischen Flüchtlinge. Im Gerichtsurteil gegen Radislav Krstić wird allerdings betont, dass die systematischen Morde an der männlichen Bevölkerung einen katastrophalen Einfluss auf die stark patriarchalisch strukturierten Familien der Bosniaken Srebrenicas hatten und damit diese ethnische Gruppe zerstörten.[53]
Häufig wird die Gesamtzahl der ermordeten Bosniaken relativiert. Die Zweifler betonen, die hohen offiziellen Opferzahlen hätten den Zweck, die serbische Seite zu dämonisieren und von Verbrechen gegen Serben abzulenken, in der Region Srebrenica selbst oder zu anderen Gelegenheiten, wie etwa während der „Operation Sturm“. Statt von 7000 bis 8000 Opfern des Massakers von Srebrenica sei von einer deutlich niedrigeren Zahl auszugehen. Gestützt wird dies unter anderem mit der Behauptung, 1996 seien in Wählerverzeichnissen zu Wahlen in Bosnien-Herzegowina 3000 Vermisste und angeblich Tote wieder aufgetaucht.[54] Im Gerichtsverfahren gegen Radislav Krstić wies der norwegische Bevölkerungswissenschaftler Helge Brunborg nach, dass diese Behauptung, die im Jahr 1997 bereits von Radovan Karadžić gebraucht wurde[55], nicht den Tatsachen entspricht.[56] In einer Studie zur Zahl der Vermissten und Toten zeigte ein Team um Brunborg ferner, dass nicht 3000, sondern bestenfalls neun Überlebende in diesen Listen eingetragen waren. Es habe keine großangelegte Kampagne gegeben, Lebende als vermisst zu registrieren oder Identitäten von Toten und Vermissten bei Wahlen zu missbrauchen.[57]
Einige der zweifelnden Autoren streiten vereinzelte Massaker nicht ab, betonen jedoch, dass diese nicht gezielt und systematisch vorgenommen worden seien. Die Taten seien allein „von marodierenden serbischen Einheiten zu verantworten. Viele der Soldaten kamen aus der Region um Srebrenica und wollten den Tod von Angehörigen rächen, die zuvor bei moslemischen Überfällen getötet worden waren.“[58] Die Beweise für die systematische Planung und Durchführung der Verbrechen sind jedoch in den Prozessen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal aktenkundig.
Zweifel an der etablierten Darstellung der Ereignisse werden auch vorgebracht, weil seit Juli 1995 Tausende von Leichen nicht gefunden bzw. exhumiert wurden. Von den Exhumierten wiederum sind bislang viele nicht identifiziert. Entgegen gehalten werden muss solchen Zweifeln die bewusste Vertuschung der Tat durch mehrfache Umbettungen von Leichen. Die forensischen Untersuchungen sind dadurch komplex und zeitraubend.[59]
In vielen Fällen gehen Zweifel, Relativierung und Bestreiten des Massakers von Srebrenica mit Annahmen über eine groß angelegte politische und mediale Kampagne gegen Serben einher.
Literatur
- Hasan Nuhanovic, Under The UN Flag: The International Community and the Srebrenica Genocide, DES Sarajevo, 2007 ISBN-13: 978-9958728877
- Julija Bogoeva, Caroline Fetscher: Srebrenica. Dokumente aus dem Verfahren gegen General Radislav Krstić vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-7718-1075-2
- Eric Stover, Gilles Peress: Die Gräber − Srebrenica und Vukovar Scalo, Zürich 1998, ISBN 3-931141-75-6
- David Rohde: Die letzten Tage von Srebrenica. Was geschah und wie es möglich wurde. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-22122-5
- Jan Willem Honig, Norbert Both: Srebrenica: der größte Massenmord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Lichtenberg, München 1997, ISBN 3-7852-8409-8
Weblinks
- Dokumentation des „Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie“ (Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation) (englisch)
- UNO-Bericht zum Fall der Schutzzone und zum Massaker von Srebrenica, in fünf Sprachen zur Auswahl
- ICTY Anklage gegen Karadžić und Mladić (englisch)
- Zusammenfassung der forensischen Untersuchungen über Exekutionsstätten und Massengräber zum Massaker von Srebrenica („Manning Report“) (englisch)
- Dossier der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“
Einzelnachweise
- ↑ Sofern nicht anders angegeben, stützen sich die Aussagen dieses Artikels auf das erstinstanzliche Gerichtsurteil des UN-Kriegsverbrechertribunals gegen Radislav Krstić, die auszugsweise in Deutsch vorliegenden Prozessprotokolle dazu (siehe Bogoeva und Fetscher), den UN-Bericht zu Srebrenica von 1999, das Buch von D. Rohde (der für seine Berichte zum Thema den Pulitzerpreis erhielt) und in Teilen auch auf die NIOD-Untersuchung.
- ↑ Erstinstanzliches Urteil gegen Krstić, S.26 (Papierzählung)
- ↑ Bericht von TRIAL über das Verfahren gegen Krstić
- ↑ Erstinstanzliches Urteil gegen Krstić
- ↑ Urteil im Berufungsverfahren gegen Krstić
- ↑ Bericht von TRIAL über Blagojević
- ↑ Bericht von TRIAL über Jokić
- ↑ Erstinstanzliches Urteil gegen Blagojević und Jokić
- ↑ Völkermord in Srebrenica, ZEIT online, 26. Februar 2007
- ↑ Reasearch and Documentation Center Sarajevo zu den Opferzahlen unter den Serben in der Region Bratunac/Srebrenica zwischen April 1992 and Dezember 1995
- ↑ UNO-Bericht zum Fall der Schutzzone und zum Massaker von Srebrenica, Abschnitt 43
- ↑ Siehe Dokument S/1994/1389 1 December 1994, Report of the Secretary-General on Bosnia and Herzegovina, Abs. 2
- ↑ UNO-Bericht zum Fall der Schutzzone und zum Massaker von Srebrenica, Abschnitt 482 f
- ↑ Zum Ablauf des Massakers siehe: Erstinstanzliches Urteil gegen Krstić, S. 12–27
- ↑ David Rohde: Die letzten Tage von Srebrenica. Was geschah und wie es möglich wurde. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 237
- ↑ UNO-Bericht zum Fall der Schutzzone und zum Massaker von Srebrenica, Abschnitt 476
- ↑ Massaker von Srebrenica: Weitere Opfer exhumiert. Meldung auf n-tv.de vom 11. Oktober 2007; Ex-Jugoslawien: Massengrab mit Srebrenica-Opfern entdeckt, Meldung in ZEIT online vom 12. August 2008.
- ↑ Überblick über Meldungen in der türkischen Presse vom 14. Juli 1995
- ↑ Schlusskommunikee der 23. Außenministerkonferenz islamischer Staaten (9. bis 12. Dezember 1995)
- ↑ Siehe dazu „DIE ZEIT“, 52/2002
- ↑ Pressemeldung auf der Website von Amnesty International: Srebrenica zehn Jahre nach dem Massaker – Täter dürfen nicht straflos bleiben.
- ↑ Mitschnitt des Prozesstages, Srebrenica-Video beginnt bei 2:35:37
- ↑ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 2005
- ↑ ZDF heute-Sendung vom 13. Juni 2005
- ↑ Susanne Glass, ARD-Hörfunkkorrespondentin: Hinrichtungs-Video von Srebrenica im TV, Video stößt Debatte über Kriegsverbrechen an
- ↑ 58 Jahre Haft für die "Skorpione", Meldung auf tagesschau.de 10. April 2007
- ↑ „Die Welt“, 06. Oktober 2005, 19.500 Beteiligte am Massaker von Srebrenica
- ↑ UNO-Bericht zum Fall der Schutzzone und zum Massaker von Srebrenica, Abschnitt 470–474
- ↑ Srebrenica-Untersuchungsausschuss des französischen Parlaments, Abschlussbericht (französisch)
- ↑ Siehe dazu „DIE ZEIT“, 7. Juli 2005, „Abwiegeln in Den Haag“
- ↑ Siehe dazu die Dokumentation des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation
- ↑ Ehrung fürs Wegschauen, n-tv, 05. Dezember 2006
- ↑ Caroline Fetscher: Den Haag will den Ruf der Soldaten von Srebrenica wiederherstellen – und löst Proteste in Bosnien aus, in: „Der Tagesspiegel“ vom 06. Dezember 2006
- ↑ Ehrung für Srebrenica-Blauhelme in Den Haag, n-tv, 04. Dezember 2006
- ↑ Übersicht des ICTY zu den Srebrenica-Prozessen
- ↑ Bericht auf der Website der Deutschen Welle über die Festnahme Tolimirs.
- ↑ Tagesschau.de: "Kriegsverbrecher Karadzic gefasst"
- ↑ Völkermord in Srebrenica, ZEIT online, 26. Februar 2007.
- ↑ Balkan Investigative Reporting Network (BIRN): „Dismay and Jubilation Over Hague Court Judgment”, 26. Februar 2007.
- ↑ Meldung der Tagesschau vom 4. Juni 2007.
- ↑ Völkermord-Klage gegen UN abgewiesen, Deutsche Welle, 10. Juli 2008
- ↑ Karen Kleinwort: Überlebende von Srebrenica scheitern mit Klage, welt-online.de, 11. September 2008.
- ↑ Michael Martens: „Unerwünschtes Stochern in alten Geschichten“, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 4. Januar 2007
- ↑ Jürgen Elsässer: „3287 Tote klagen an“, in: „Junge Welt“, 11. Juli 2005, S. 3
- ↑ Jürgen Elsässer: “Die Rampe von Srebrenica“, in: Derselbe: Kriegsverbrechen. Die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Konflikt, Hamburg 2000, S. 14–36, hier S. 14.
- ↑ Jürgen Elsässer: „Neuer Streit um Srebrenica. Zwei Gerichtsurteile passen nicht ins Bild der westlichen Propaganda“, in: „Junge Welt“, 11. April 2007.
- ↑ Jürgen Elsässer: „Serbenmörder vor Gericht“, in: junge Welt, 16.und 17. April 2003.
- ↑ Jürgen Elsässer: „Serbenmörder auf freiem Fuß“, in: junge Welt, 3.7..2006
- ↑ George Pumphrey: Srebrenica, in: „konkret“, 08/1999
- ↑ Nikola Živković: „Die ganze Wahrheit muß ans Licht“, in: „Junge Freiheit“, 31/32 (2005)
- ↑ Siehe hierzu Marko Attila Hoare: The Guardian, Noam Chomsky and the Milosevic Lobby
- ↑ Siehe zum Beispiel den zweifelnden Bericht der US-amerikanischen International Strategic Studies Association
- ↑ Erstinstanzliches Urteil gegen Krstić, Seite 29–31.
- ↑ Siehe zum Beispiel den zweifelnden Bericht der „Srebrenica Research Group“
- ↑ Interview von Thomas Deichmann mit Radovan Karadžić, in: „Süddeutsche Zeitung“, 8. August 1997
- ↑ Aussage von Helge Brunborg über die Anzahl der nach dem Massaker von Srebrenica vermissten Personen und über Wählerlisten, Transkript der Aussage vom 1. Juni 2000 vor dem ICTY; insbesondere Seiten 4076-4083. Auf Seite 4082 stellt Brunborg fest, „[b]ut 7.475 should be considered a minimum number, a conservative number. The actual number is probably higher.“. Gefunden in englischer Sprache auf der Website der Vereinten Nationen am 5. September 2008.
- ↑ Helge Brunborg, Torkild Hovde Lyngstad and Henrik Urdal: Accounting for Genocide. How Many Were Killed in Srebrenica?, in: European Journal of Population, 19 (2003), S. 229–248. hier S. 236.
- ↑ Jürgen Elsässer, Mladićs letzter Kampf. Falsche Vorwürfe wegen der Eroberung Srebrenicas 1995, in „junge Welt“, 23. Februar 2006
- ↑ „Die Welt“, 11. Juli 2005 über die Schwierigkeiten forensischer Untersuchungen in Bosnien-Herzegowina
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