Indigene Völker des russischen Nordens

Indigene Völker des russischen Nordens
Nenzen sitzen auf Rentierschlitten in sibirischer Tundra bei Dudinka

Die zahlenmäßig kleinen indigenen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens (Коренные, малочисленные народы Севера, Сибири и Дальнего Востока) sind eine Untergruppe der indigenen Völker der Russischen Föderation.

Es handelt sich dabei um eine administrative Kategorie. Über die Zugehörigkeit einzelner ethnischer Gruppen zu dieser bestimmt das so genannte Einheitliche Register indigener kleiner Völker Russlands (Jedinyj peretschen' korennych malotschislennych narodow Rossii/Единый перечень коренных малочисленных народов России) vom 24. März 2000.

1926/27 unternahm die junge Sowjetunion den Versuch einen Überblick über die Bewohner und Kultur des Nordens von Sibirien zu gewinnen.[1]

Unter diese Sammelbezeichnung fallen 44 indigene Völker mit jeweils weniger als 50.000 Angehörigen von den Samen der Kola-Halbinsel im Westen bis zu den Tschuktschen, Yupik (Eskimo) und Ainu im äußersten Fernen Osten. Weitere große Ethnien sind die Nenzen und Chanten Westsibiriens sowie die zwischen Westsibirien und Nordchina siedelnden Ewenken. Eines der kleinsten indigenen Völker Sibiriens sind die Enzen mit weniger als 200 Angehörigen.

Die Gesamtzahl der Angehörigen dieser Völker beträgt etwa 200.000.

Weitere Völker im asiatischen Teil Russlands, die sowohl über mehr Angehörige als auch über eigene Teilrepubliken innerhalb der Russischen Föderation verfügen, werden häufig ebenso als indigen bezeichnet, wobei dieser Status innerhalb Russlands umstritten ist. Zu den letzteren gehören Tuwiner, Jakuten, Chakassen und Burjaten.

Inhaltsverzeichnis

Sprachen

Einige indigene Völker des russischen Nordens gehören der finnougrischen Sprachfamilie an, wobei Chanten und Mansen sprachlich die nächsten Verwandten der Ungarn sind.

Eine weitere Gruppe gehört der Familie der Turksprachen an, so etwa die Schoren, Teleuten, Kumandiner und Altaier.

Die Sprachen der Ewenen und Ewenken gehören zur tunguso-mandschurischen Sprachfamilie.

Die Sprachen der Tschuktschen, Itelmenen, Korjaken und einiger anderer Völker sind isolierte Sprachen, d. h. haben keinerlei Verwandtschaft mit anderen lebenden Sprachen, und werden gemeinsam als paläoasiatische Sprachen bezeichnet.[2]

Rechtliche und politische Stellung

Artikel 69 der Verfassung der Russischen Föderation sagt:

„Die Rußländische Föderation garantiert die Rechte der kleinen Urvölker in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und den völkerrechtliche Verträgen der Rußländischen Föderation.[3]

Das russische Gesetz ‚Über die Garantien der Rechte der kleinen indigenen Völker der russischen Föderation‘ vom 30. April 1999 definiert die Völker des Nordens als

„Völker, die in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren auf traditionelle Weise leben, ihrer traditionellen Wirtschaftsweise nachgehen, innerhalb der Russischen Föderation nicht mehr als 50.000 Angehörige aufweisen und sich selbst als eigenständige Gemeinschaften verstehen.“

Damit sind vier verschiedene Aspekte berührt:

  1. Das Siedlungsgebiet
  2. die Lebensweise
  3. die Gruppengröße und
  4. das Selbstverständnis

Besonders problematisch ist nach Donahoe/Halemba[4] der Umstand, dass die russische Gesetzesnorm die indigenen Völker auf eine ausschließlich ‚traditionelle‘ Lebensweise festlegt, ohne diesen Begriff in irgendeiner Weise zu bestimmen. Theoretisch wäre es demnach möglich, dass eine Person, indem sie einen urbanen Lebensstil annimmt, ihre Zugehörigkeit zu den indigenen Völkern des Nordens verliert. Ebenso könnte eine Auswanderung aus dem traditionellen Lebensraum dieselbe Konsequenz zeitigen. Klar im Widerspruch zur innerhalb der Vereinten Nationen anerkannten Definition des Begriffs ‚Indigene Völker‘ steht die zahlenmäßige Obergrenze von 50.000, die zwar Ergebnis historischer Entwicklungen ist, aber größere Ethnien, wie etwa Tuwiner, Burjaten und Jakuten willkürlich von der Anerkennung als „indigene Völker“ ausschließt.[4]

Während die russische Verfassung die speziellen Rechte und Privilegien indigener Völker nicht näher ausführt, ergibt sich aus den existierenden Bundesgesetzen eine Reihe von Privilegien für traditionell wirtschaftende indigene Gemeinschaften:

  • Befreiung von der Grundsteuer;
  • Recht auf Gründung von obschtschiny' also indigener familien- oder stammesbasierter Gemeinschaftsunternehmen;
  • Privilegierter Zugang zu natürlichen Ressourcen (Wald, Wildtiere, Fischvorkommen)
  • Möglichkeit der Entschädigung für die Förderung von Bodenschätzen in ihren Gebieten;
  • Möglichkeit, einen Zivilen Ersatzdienst anstelle von Militärdienst zu leisten
  • Möglichkeit der früheren Alterspension[4]

Diese Privilegien sind jedoch durch eine Vielzahl neuerer Gesetzesinitiativen bedroht. Besonders im Konflikt mit indigenen Rechten steht der von Finanzminister German Gref betriebene wirtschaftsliberale Kurs. Die Revisionen der Boden- (semel'ny kodex/земельный кодекс), Forst (lesnoi kodex / лесной кодекс) und Gewässerkodizes (Wodny kodex / водный кодекс) sehen langfristige Verpachtungen natürlicher Ressourcen und Ländereien an private Investoren vor und drohen indigene Kollektivwirtschaftsbetriebe in eine Lage zu bringen, in der sie dazu gezwungen sind, für die Nutzung ihrer traditionellen Lebensgrundlagen Marktpreise an den Staat zu bezahlen.[4][5][6]

Wichtigste politische Vertretung der Indigenen Völker Sibiriens ist RAIPON mit Sitz in Moskau. Nominell sind alle Angehörigen der indigenen Völker des Nordens Mitglied dieser Organisation.

Ihr politischer Einfluss hält sich in engen Grenzen. Während noch im letzten Obersten Sowjet der Sowjetunion sowie in den ersten Staatsdumas der Russischen Föderation mehrere Vertreter der Nordvölker zu finden waren, so ist seit der Parlamentswahl von 2004 weder im Föderationsrat noch in der Staatsduma ein Angehöriger dieser Ethnien zu finden.

Vertreter RAIPONs fordern die Einrichtung einer Bundesbehörde, also etwa eines Ministeriums für indigene Völker. Der Erfolg ihrer Forderung ist jedoch sehr ungewiss.

Liste der kleinen indigenen Völker

Indigene kleine Völker nach dem Einheitlichen Register der indigenen kleinen Völker Russlands von 2002[7]
Name Historischer Name Siedlungsgebiet (* = Ethnie siedelt nur in einzelnen Rayons) Russische Bezeichnung Umschrift Eigenbezeichnung (nach [4]) Bevölkerung (nach der Volkszählung von 2002)
Abasinen Karatschai-Tscherkessien абасины abassiny Abasa 37942
Alëuten Kamtschatka*, Autonomer Kreis der Korjaken алеуты aleuty Aleut, Unagan 540
Aljutoren Autonomer Kreis der Korjaken алюторы aljutory Alutal'u
Bessermenen (?) Udmurtien бесермяне bessermjane Beserman 3122
Chanten Ostjaken Autonomer Kreis der Chanten und Mansen, Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, Oblast Tjumen*, Oblast Tomsk, Republik Komi ханты chanty Chanty, Chande, Kantek 28678
Dolganen Autonomer Kreis Taimyr, Region Krasnojarsk*, Sacha долгане dolgane Dolgan, Tyakixi 7621
Ewenken Tungusen Sacha, Autonomer Kreis der Ewenken, Region Krasnojarsk, Region Chabarowsk, Oblast Amur, Oblast Sachalin, Burjatien, Oblast Irkutsk, Region Transbaikalien, Oblast Tomsk, Oblast Tjumen эвенки ewenki Ewenk 35527
Ewenen Lamuten Sacha, Region Chabarowsk, Oblast Magadan, Autonomer Kreis der Tschuktschen, Autonomer Kreis der Korjaken, Region Kamtschatka* эвены eweny Ewen 19071
Enzen Autonomer Kreis Taimyr энцы enzy 237
Inuit Eskimo Autonomer Kreis der Tschuktschen, Autonomer Kreis der Korjaken эскимосы eskimosy Inuit 1750
Ischoren Oblast Leningrad ижоры ižory Ižora, Kar'jaljajn, Isuri
Itelmenen Kamtschadalen Autonomer Kreis der Korjaken, Region Kamtschatka*, Oblast Magadan ительмены itel'meny Itel'men', Ienm'm'i 3180
Jukagiren Sacha, Oblast Magadan юкагиры jukagiry Odul, Wadul 1509
Kamtschadalen Region Kamtschatka*, Autonomer Kreis der Korjaken камчадалы kamtschadaly 2293
Kereken Autonomer Kreis der Tschuktschen кереки kereki 8
Keten Jenissei-Ostjaken Region Krasnojarsk кеты kety Ket 1494
Korjaken Autonomer Kreis der Korjaken, Region Kamtschatka*, Autonomer Kreis der Tschuktschen, Oblast Magadan коряки korjaki Verschiedene, u.a. Tschawtschyw, Tschaw'tschu (Rentierzüchter); нымылгын Nymylgyn (Bewohner); Nymylg - aremku (Nomade) 8743
Kumandiner Region Altai, Republik Altai кумандинцы kumandinzy 3114
Mansen Wogulen Autonomer Kreis der Chanten und Mansen, Oblast Tjumen*, Oblast Swerdlowsk, Republik Komi манси mansi Mansi 11432
Nagaibaken Oblast Tscheljabinsk нагайбаки nagajbaki
Nanai Golden Region Chabarowsk, Region Primorje нанайцы nanajzy Nanaj, Nani 12160
Negidalen Region Chabarowsk негидальцы negidal'zy 567
Nenzen Samojeden Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, Autonomer Kreis der Nenzen, Oblast Archangelsk*, Autonomer Kreis Taimyr, Autonomer Kreis der Chanten und Mansen, Republik Komi ненцы nenzy 41302
Nganasanen Tawgi-Samojeden Autonomer Kreis Taimyr, Region Krasnojarsk* нганасаны nganasany nja-nganasa (mask.), nja-ny (fem.), nja-tansa (Volk)[8] 834
Niwchen Giljaken Region Chabarowsk, Oblast Sachalin нивхи niwchi Niwch 5162
Oroken (Ulten) Oblast Sachalin ороки oroki Ul'ta 346
Orotschen Region Chabarowsk орочи orotschi 686
Samen Lappen Oblast Murmansk саами saami Sámi 1991
Schapsugen Region Krasnojarsk щапсуги schapsugi schapsyg
Schoren Oblast Kemerowo, Chakassien, Republik Altai шорцы schorzy schor 13975
Selkupen Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, Oblast Tjumen*, Oblast Tomsk, Region Krasnojarsk селькупы sel'kupy 4249
Sojoten Burjatien сойоты sojoty 2769
Tasen Region Primorje тазы tasy 276
Telengiten Republik Altai теленгиты telengity 2399
Teleuten Oblast Kemerowo телеуты teleuty 2650
Todscha-Tuwiner Tuwa тувинцы-тоджинцы tuwinzy-todschinzy 4442
Tofalaren Karagassen Oblast Irkutsk тофалары tofalary Tofa 837
Tschelkanen Republik Altai чельканцы tschel'kanzy 855
Tschuwanen Autonomer Kreis der Tschuktschen, Oblast Magadan чуванцы tschuwanzy 1087
Tschuktschen Autonomer Kreis der Tschuktschen, Autonomer Kreis der Korjaken чукчи tschuktschi Lyg'oravetl'an 15767
Tschulymer Oblast Tomsk, Region Krasnojarsk чулымцы tschulymzy Ijus Kižiler/pestyn Kižiler 656
Tubalaren Republik Altai тубалары tubalary 1565
Udehe Region Primorje, Region Chabarowsk удэгейцы udegejzy Udee, Uddee, Udehe 1657
Ultschen Region Chabarowsk ульчи ul'tschi
Wepsen Republik Karelien, Oblast Leningrad вепсы wepsy Weps', Wepsja, Ljudinkad, Tjagalažet

Völker, die nicht im Register eingetragen sind

  • Ingrier (Ingermanland)
  • Komi-Ishemzen
  • Woten
  • Ebenfalls nach Anerkennung als indigenes Volk des Nordens streben die Pomoren, Nachfahren russischer Altsiedler im europäischen hohen Norden, deren Lebensweise große Ähnlichkeit zu denen der "kleinen Völker" aufweist.

Siehe auch

Weblinks

Literatur

  • Yuri Slezkine: Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North. Ithaca, London (Cornell University Press) 1994. ISBN 0-8014-2976-5
  • James Forsyth: A History of the Peoples of Siberia. Russia's North Asian Colony 1581-1990. Cambridge (University Press) 1992. ISBN 0-521-40311-1
  • Erich Kasten (Hrsg): People and the Land. Pathways to Reform in Post-Soviet Siberia. Dietrich Reimer, Berlin 2002. ISBN 3-496-02743-6. Online-Ausgabe: http://www.siberian-studies.org/publications/peopleland.html
  • Rohr, Johannes: Anpassung und Selbstbehauptung. Die indigenen Völker in Russlands Norden. In: Osteuropa 2-3 2011 (61. Jahrgang), S. 387-416

Einzelnachweise

  1. Polar Census 1926-1927
  2. Eine knappe Übersicht findet sich in UNESCO red book of endangered languages: Northeast Asia[1]
  3. Die Verfassung der Russischen Föderation, Kap. 3: Föderativer Aufbau, Art. 69 [2]
  4. a b c d Brian Donahoe / Agnieszka Halemba: Die indigenen Völker Sibiriens: Landrechte, Legalismus und Lebensstil, in infoeMagazin Nr. 19, S. 18-21
  5. Gulwaira Schermatowa: Privatisierung der Wälder: Neue Gesetzgebung in Russland. Rechte indigener Völker werden beschnitten. in: infoeMagazin 19, S. 30-31
  6. Die Landrechte sind die Schlüsselfrage, Interview mit Michail Todyschew, RAIPON, in: infoeMagazin 19, S. 36-38
  7. Ergebnisse der Völkerzählung für die indigenen Völker des Nordens: Единый перечень коренных малочисленных народов Российской Федерации [3]
  8. В.А. Тураев, Р.В Суляндзига, П. В. Суляндзига, В.Н. Бочарников: Энцыклопедия коренных, малочисленных народов Севера, Сибири и Дальнего Востока Российской Федерации. Москва 2005, S. 143

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