Krisenintervention im Rettungswesen

Krisenintervention im Rettungswesen

Die Krisenintervention im Rettungsdienst betreut unverletzte Beteiligte und Angehörige bei akut psychisch traumatisierenden Unfällen, Notfällen und Katastrophen.

Die Hilfe soll möglichst unmittelbar nach dem Ereignis (peritraumatische Phase) einsetzen oder spätestens dann, wenn eine akute Belastungsreaktion auftritt. Durch die frühzeitige Intervention wird den Betroffenen Raum für ihre Trauer verschafft, sie macht sie wieder handlungsfähig und beugt dadurch der Entstehung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) vor. Die psychiatrische Betreuung verwirrter oder psychotischer Personen gehört nicht zu den Aufgaben der Krisenintervention.

Die speziell zur Krisenintervention ausgebildeten Helfer sind erfahrene Einsatzkräfte des Rettungsdienstes, die in der Regel über die Rettungsleitstelle alarmiert werden.

Solche Dienste werden meist von Hilfsorganisationen, von Feuerwehren oder in der Form eigenständiger Vereine angeboten.

Inhaltsverzeichnis

Begriffe

Die Bezeichnung Krisenintervention im Rettungsdienst und die Abkürzung KIT sowie das KIT-Logo sind geschützte Warenzeichen bzw. Wortmarken des Arbeiter-Samariter-Bundes Regionalverband Oberbayern e.V.. Sie sind aber als pars pro toto mittlerweile ein feststehender Begriff im Rettungswesen.

Der Name Kriseninterventionsdienst (KID) dient als Oberbegriff für diese Tätigkeit im Sinne eines Fachdienstes beziehungsweise einer organisatorischen Einordnung in einer Hilfsorganisation. Das Kriseninterventionsteam (KIT) bezeichnet die ganze Einheit (und ist oft Bestandteil deren Namens, soweit durch den beschriebenen Markenschutz zugelassen), der Einsatz wird aber in der Regel mit "nur" zwei Helfern angegangen. Der Begriff der Notfallseelsorge (durch kirchliche/religiöse Organisationen) ist eng verwandt, wird aber nicht nur im Bereich der Betroffenenbetreuung sondern auch bei der Einsatzkräfte-Nachsorge verwendet.

Weitere übliche Bezeichnungen sind Krisenintervention im Einsatzdienst (KED), Notfallnachsorge und Notfall-Betreuung (NFB).

Als Bezeichnung der in Krisenintervention ausgebildeten Einsatzkräfte ist der Begriff Krisenhelfer geläufig, Theologen der Notfallseelsorge werden Notfallseelsorger genannt.

Die Stressbearbeitung nach belastenden Einsatzereignissen (SbE) ist dagegen für Einsatzkräfte gedacht, die in anderer Art und Weise betroffen sind und reagieren. Allerdings sind viele Krisenhelfer zusätzlich in SbE geschult, mancherorts werden beide Dienste gemeinsam angeboten.

Geschichte

Der notfallmedizinische Rettungsdienst hat die Aufgabe, Lebensfunktionen wieder herzustellen, diese zu erhalten und einen sachgerechten Transport von Verletzten oder Erkrankten in eine weiterversorgende Einrichtung zu gewährleisten. Die Betreuung von betroffenen Angehörigen gehört primär nicht dazu, obwohl die Mitarbeiter der Rettungsdienste sehr oft damit konfrontiert werden. Dennoch mussten sie früher die psychisch aufgewühlten Beteiligten, die nicht notfallmedizinisch behandlungsbedürftig waren, sich selbst überlassen, um ihrer eigenen Aufgabe gerecht zu werden.

Einen schweren Verkehrsunfall mit einer Straßenbahn, bei dem ein Kind getötet wurde und die unverletzten Eltern ohne fachliche Betreuung an der Einsatzstelle zurückbleiben mussten, nahm der Rettungsassistent und Diakon Andreas Müller-Cyran zum Anlass, am 9. März 1994 im Arbeiter-Samariter-Bund München das weltweit erste Kriseninterventionsteam zu gründen, um solchen Situationen organisiert begegnen zu können.

Der Stellenwert der Krisenintervention wird nach anfänglichen Zweifeln in der Fachwelt nicht mehr bestritten, mittlerweile ist sie in zahlreichen Bereichen ein fester Bestandteil des Rettungsdienstes, die Grundlagen wurden auch unter dem Schlagwort Basiskrisenintervention in das Curriculum der deutschen Rettungsassistenten-Ausbildung aufgenommen.

Das KIT München half in weiteren deutschen Städten und Landkreisen beim Aufbau, zum Beispiel beim KIT Leipzig, KIT Erding/Freising/Ebersberg/ Landkreis Traunstein, bald auch außerhalb Deutschlands in Luxemburg (Unité de Support Psychologique, USP) und Südtirol. Zu diesem Zweck wurde eine eigene Schulungs- und Fortbildungseinrichtung gegründet, die KIT-Akademie in München.

In Österreich ist eine Krisenintervention mittlerweile fast flächendeckend verfügbar, die derzeit letzte wurde im Sommer 2004 im Bundesland Kärnten installiert. Das einzige Bundesland in Österreich ohne Krisenintervention ist das Burgenland, wo sich noch keine Finanzierungshilfen gefunden haben.

In der Schweiz ist es geplant, nach dem deutschen und österreichischen Vorbild einen Kriseninterventionsdienst einzurichten.

Einsatz der Krisenintervention

Anlässe

Die häufigste Indikation ist die Betreuung von Angehörigen bei einem Todesfall, insbesondere bei besonderen Umständen, zum Beispiel in der belastenden Situation einer erfolglosen Reanimation, beim unerwarteten Tod eines relativ jungen Patienten, Suizid, Tod in der Öffentlichkeit oder bei (sozialer) Vereinsamung der Hinterbliebenen. Eine deutliche Indikation ist der Tod eines Kindes, sei es durch Unfall, akute Krankheit oder durch den plötzlichen Kindstod (SIDS).

In Zusammenarbeit mit der Polizei überbringt der Kriseninterventionsdienst auch Todesnachrichten. Für die Polizeibeamten bedeutet das häufig eine große Entlastung, die geschulten Krisenhelfer können auf die Bedürfnisse und Reaktionen der Angehörigen oft besser eingehen.

Bei schweren Verkehrs-, Schienen- oder Arbeitsunfällen ist der grundsätzliche Einsatz der Krisenintervention sinnvoll, da hier oft belastende Umstände zu erwarten sind. Betreut werden dann auch Augenzeugen, Arbeitskollegen oder der Führer des am Unfall beteiligten Fahrzeuges. Manche Verkehrsunternehmen halten hier sogar selbst Krisenhelfer vor (zum Beispiel die Deutsche Bahn AG). Eine häufige Ursache für Kriseninterventions-Einsätze sind in diesem Zusammenhang Suizidversuche durch Überrollen mit dem Zug. In Wien und München liefen hierzu Pilotstudien in Zusammenarbeit mit den Massenmedien, die über solche Suizide nicht mehr berichten sollen, um den Nachahmer-Effekt (Werther-Effekt) zu verringern. In Wien ging dadurch bereits die Häufigkeit dieser Suizidmethode insgesamt zurück, in München ist die Zahl zwar nicht sehr stark rückläufig, aber die Taten treten in größeren Zeitabständen auf.

Auch bei anderen Einsätzen, bei denen mit einer psychischen Traumatisierung körperlich Unverletzter zu rechnen ist, ist der Einsatz der organisierten Krisenintervention sinnvoll. Beispiele sind Brände mit Schwerverletzten oder Toten und Situationen mit massiver Gewalterfahrung oder persönlicher Bedrohung (Banküberfällen, Geiselnahmen oder Vergewaltigungen).

Über die Notwendigkeit, einen Kriseninterventionsdienst hinzu zu ziehen, entscheidet in der Regel das vor Ort eingesetzte Einsatzpersonal von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst. Bei bestimmten Meldebildern wird die Krisenintervention von den Rettungsleitstellen schon aufgrund des Notrufes parallel zum Rettungsdienst alarmiert, um gerade bei Unfällen im öffentlichen Bereich damit frühzeitig an der Einsatzstelle zu sein und auch Augenzeugen noch erreichen zu können.

Großschadenslagen

Die Krisenintervention hat auch bei Großschadenslagen und im Massenanfall von Verletzten ihren Stellenwert. Der erste Großeinsatz für die Krisenintervention und Notfallseelsorge mit großem Medieninteresse war 1998 beim ICE-Unglück von Eschede. Auch überregionale und internationale Einsätze lokaler Kriseninterventionsteams sind mittlerweile üblich (Beispiele sind der Concorde-Absturzes in Paris 2000, das Bergbahn-Unglück in Kaprun 2000, die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York City, der Amoklauf von Erfurt und Freising 2002, die Busunglücke des Jahres 2003 in Siófok/Ungarn, Lyon/Frankreich Vicenza/Italien, eine Geiselnahme am Flughafen München 2004, die Flutkatastrophe nach dem Seebeben im Indischen Ozean 2004 und der Eishalleneinsturz in Bad Reichenhall 2006).

Einsätze im Ausland werden dabei im Allgemeinen vom Auswärtigen Amt angefordert, die überregionalen Einsätze erfolgen im Auftrag des Innenministeriums oder der örtlich zuständigen Einsatzleitung. Das Bayerische Rote Kreuz hat die Krisenintervention als festen Bestandteil seiner überregionalen Einsatzverbände aufgenommen.

Bei entsprechenden Lagen wird eng mit dem Betreuungsdienst zusammengearbeitet.

Ablauf und Methoden

Der Einsatzablauf bei einer Krisenintervention im Rettungsdienst lässt sich in Phasen unterteilen, bei denen unterschiedliche Aspekte und Methoden im Vordergrund stehen:

  1. Vorbereitungs- und Organisationsphase: Diese Phase beginnt vor dem Kontakt zum Klienten mit der Informationssammlung zum Ereignis und ermöglicht es dem Mitarbeiter, dem Klienten gegenüber später auskunftfähig zu sein (Was ist passiert? Wer ist zu betreuen?).
  2. Sicherheit und Halt vermitteln: Bei Betreuungsbeginn sollte der KIT-Mitarbeiter dafür sorgen, dass der Betroffene sich in einem Umfeld (Setting) befindet, in dem er Emotionen zulassen kann und vor störenden Einflüssen der Umgebung geschützt ist. Ein wichtiger Grundsatz der Krisenintervention ist die Kontinuität der Betreuungssituation, um eine zusätzliche Belastung durch wiederholten Wechsel der Bezugsperson zu vermeiden.
  3. Struktur schaffen: Da der Betreute die belastende Situation meist aus einer passiven Opferrolle heraus erlebt hat, gilt die Wiedergewinnung der Handlungsfähigkeit als kurzfristiges Ziel der Krisenintervention. Dabei spielt gegebenenfalls die Möglichkeit einer Abschiednahme vom Verstorbenen eine essentielle Rolle, auch Informationen über organisatorische Abläufe der nächsten Stunden und Tage (Leichenschau, Bestattung, Standesamt) sollen den Betroffenen befähigen, die Opferrolle zu verlassen.
  4. Brückenfunktion: Am Ende der Krisenintervention sollte die Übergabe an das soziale Netz erfolgen. Eine Aktivierung von familiären oder freundschaftlichen Bezugspersonen des Klienten, möglichst durch diesen selbst, stellt eine weitere Betreuung des Betroffenen sicher, auch eine Information über professionelle Hilfsangebote (Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen) gehört zu diesem Punkt.

Die Intervention durch einen Krisenhelfer dauert üblicherweise wenige Stunden (Durchschnitt des KIT München: ca. zwei Stunden), allerdings gibt es, wenn auch selten, Einsätze, bei denen Mitarbeiter bis zu 8 Stunden vor Ort sind.

Im Unterschied zur Notfallseelsorge nehmen die Krisenhelfer keine liturgischen Handlungen vor. Sollte das von den Klienten gewünscht werden, besteht häufig eine Kooperation mit der örtlichen Notfallseelsorge oder den Glaubensgemeinschaften (Bereitschaftsseelsorge).

Grundsatz der Einmaligkeit

Nach der initialen und ambulanten Krisenintervention sind keine Wiederholungsbesuche üblich. Der Grund hierfür ist die veränderte Beziehungsstruktur zwischen Betreutem und Betreuer, zu der es bei einer erneuten Kontaktaufnahme kommt. Dadurch wären die Methoden der Krisenintervention im Rettungsdienst nicht mehr ohne Weiteres anwendbar und eine optimale Versorgung des Klienten somit nicht gewährleistet. Zudem soll diese zeitliche Begrenzung die Belastung des Mitarbeiters reduzieren.

Ausbildung

Die Ausbildung ist örtlich unterschiedlich geregelt. Das KIT München hat als erstes KIT und Berater und Aufbauhelfer zahlreicher weiterer KITs im In- und Ausland dabei Maßstäbe gesetzt. Daher wird die Ausbildung des KIT München exemplarisch für alle KITs vorgestellt, zumindest in Bayern wurde auf dieser Basis die Kriseninterventions-Ausbildung 2004 vereinheitlicht. Grundlage ist eine Arbeit von Andreas Müller-Cyran und Peter Zehentner, die bereits im Mai 2000 veröffentlicht wurde.

Eingangsvoraussetzung ist die langjährige Rettungsdiensterfahrung mit der Mindestqualifikation Rettungssanitäter. In Ausnahmefällen sind höhere Feuerwehrdienstgrade mit entsprechend langer Einsatzerfahrung denkbar. In einem Aufnahmegespräch werden die persönlichen Motivationen und Fähigkeiten geklärt. Erst danach ist ein Praktikum unter Anleitung erfahrener Mitarbeiter im Einsatzdienst möglich.

Nach dem Praktikum findet der Kriseninterventionskurs statt.

In einer anschließenden Praxisphase, deren Dauer individuell vereinbart wird, ist der Auszubildende nur mit einem erfahrenen Kollegen als Praxisanleiter im Dienst. Die Länge der Praxisphase richtet sich nach der individuellen Eingangsvoraussetzungen und den tatsächlich auftretenden Einsatzsituationen.

Nach Ende der Praxisphase wird ein Abschlussgespräch geführt, aufgrund dessen Ergebnisses dann entschieden wird, ob der Auszubildende als „voll einsatzfähiger“ Mitarbeiter eingesetzt wird. Für die ersten Einsatzmonate bekommt er dann einen Mentor zur Seite gestellt.

Finanzierung

Die Krisenintervention im Rettungsdienst kann in Deutschland derzeit nicht mit den Krankenkassen abgerechnet werden. Dem Klienten wird keine Rechnung gestellt. Die Finanzierung erfolgt aus Spenden, manchmal aus öffentlichen Zuschüssen und dem Etat des Trägers.

Einsatzfahrzeug

Für die Anfahrt zum Einsatzort verfügen viele Kriseninterventionsdienste über ein eigenes Einsatzfahrzeug, manche nutzen die Privatfahrzeuge der Helfer oder Fahrzeuge des Rettungsdienstes, der Feuerwehr oder der Polizei. Die Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerecht für einen Kriseninterventionseinsatz ist in Deutschland regional unterschiedlich geregelt.

Um eine ruhige Betreuungsatmosphäre (Setting) zu schaffen und die Klienten vor neugierigen Blicken, aber auch vor den Medien abschirmen zu können, werden als Einsatzfahrzeuge in der Regel Kleinbusse angestrebt.

Literatur

  • Carl-Heinz Daschner, Krisenintervention im Rettungsdienst (KIT), Stumpf & Kossendey, Edewecht, 2003, ISBN 3932750888
  • Carl-Heinz Daschner, Fallbeispiel. Krisenintervention im Rettungsdienst. in "Rettungsdienst" 1997, S. 17ff., Stumpf & Kossendey Verlag, Edewecht, 1997
  • Bernd Fertig, Hanjo von Wieterheim (Hrsg), Menschliche Begleitung und Krisenintervention im Rettungsdienst, Stumpf & Kossendey Verlag, Edewecht, 1997, ISBN 3923124686
  • Andreas Müller-Cyran; Birgit Benzin, Eine Urlaubsreise, die unendlich ist. Das KIT München im Einsatz, in: Rettungsdienst 07/2003, Stumpf & Kossendey Verlag, Edewecht, 2003
  • Birgit Richter, Regina Karl, Krisenintervention im Rettungsdienst. Das KIT München. Eine explorative Studie zur KIT-Arbeitsweise, Diplomarbeit, LMU München, München, 2000
  • Peter Zehentner, Wenn der Alptraum zur Realität wird, die undenkbare Katastrophe, in: Bevölkerungsschutz 4/2007, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe des Bundesinnenministeriums
  • Peter Jaeggi, Erste Hilfe für die Seele. Wie mit rascher Krisenintervention Leid gemildert wird in: Neue Zürcher Zeitung vom Dienstag, 13. Juli 2004, Seite 9, Zürich, 2004 ([1])
  • Annette Ramelsberger, Erste Hilfe für die Seele. Wenn der Tod nach Hause kommt - unterwegs mit Menschen, die furchtbare Nachrichten überbringen in Süddeutsche Zeitung vom Samstag, Sonntag, 27. / 28. März 2004, Seite 3, München, 2004
  • Peter Zehentner, Der Kurs zur Krise. Ein sozialpädagogisch orientierter Lehrgang zur Vorbereitung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf die Arbeit im Bereich der präklinischen Krisenintervention, Diplomarbeit, KSFH München, 2000
  • Peter Zehentner, Das Kriseninterventionsteam (KIT) München, in: Notfallpsychologie, Lehrbuch für die Praxis, Prof. Lasogga, Prof. Gasch (Hrsg) Springerverlag Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-71625-9
  • Sebastian Roth: Krisen-Bildung - Aus- und Weiterbildung von Kriseninter-ventionshelferInnen. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2008, ISBN 978-3-8300-3537-4. Link zum Buch

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