Marcel Deat

Marcel Deat

Marcel Déat (* 7. März 1894 Guérigny, Département Nièvre, Burgund; † 4. Januar 1955 in San Vito bei Turin, Italien) war ein französischer Politiker vor und während des Zweiten Weltkriegs.

Inhaltsverzeichnis

Frühes Leben und Politik

Déat besuchte ab 1914 die École normale supérieure, um ein Examen in Philosophie abzulegen, wo er Émile Chartier begegnete, einem politisch bei den Radikalen beheimateten Philosophielehrer, dessen Pazifismus ihn beeinflusste. Er trat mit 20 Jahren 1914 der sozialistischen Partei SFIO mehr aus philosophischem Idealismus, denn aus materialistischer Weltanschauung bei. Darüber brach der Erste Weltkrieg aus und er wurde zur französischen Armee eingezogen, in der er als Gefreiter diente, sich fünf Auszeichnungen für Tapferkeit erwarb und in die Ehrenlegion aufgenommen wurde. Bei Kriegsende hatte Déat den Rang eines Hauptmanns erreicht und kehrte 1918 zurück an die École Normale Superieure, an der er sein Examen ablegte, sich der Soziologie unter der Dominanz von Célestine Bouglé, einem radikalen Freund Chartiers zuwandte und in dessen Sekretariat des Dokumentationszentrums in der Rue d’Ulm arbeitete. Später begann er in Reims Philosophie zu unterrichten.

Unter dem Pseudonym Taëd veröffentlichte er »cadavres et maximes, philosophie d’un revenant« (= Leichen und Maximen, Philosophie eines Gespensts), in dem er seinem Entsetzen vor dem Krieg, den Schützengräben, seinen eingefleischten Pazifismus und seine Bewunderung für die Kameradschaft und kollektive Disziplin Ausdruck gab und die seine Entscheidungen seitdem beeinflussten.

Bei der Spaltung der SFIO 1920 in Tours schloss sich Déat der Groupe de la vie socialiste (= Gruppe sozialistisches Leben) um Pierre Renaudel an. 1925 wurde er in Reims zum Stadtrat gewählt und bereits ein Jahr später, 1926 erhielt er bei einer Nachwahl im Wahlkreis Marne ein Abgeordnetenmandat der SFIO für die französische Nationalversammlung, das er jedoch schon 1928 wieder verlor. Zu jener Zeit war der Aufstieg innerhalb der SFIO für junge Mitglieder schwierig, aber Déat erfreute sich der Förderung Léon Blums, der Déat zu seinem Kronprinzen machte. 1931 veröffentlichte Déat eine theoretische Schrift mit dem Titel Perspectives socialiste (= sozialistische Perspektiven), in der seiner Partei die Anpassung an den Kapitalismus empfohlen wurde, da dieser sich im Gegensatz zur marxistischen Doktrin nicht selbst zerstöre. Déat sprach dem Staat darin eine privilegierte Rolle hinsichtlich des Eigentums zu, das nach seiner Ansicht allerdings privat bleiben solle. Er trat gegen Kollektivismus und Revolution ein, weil nach seiner Überzeugung Chaos das Credo der Faschisten sei. Er widersprach den Marxisten heftig und schloss sich den Planisten an. Er wollte nicht auf den Sozialismus warten, sondern forderte ein Übergangsregime. Déats Verständnis von Sozialismus bedeutet vor allem Anti-Marxismus.

1932 wurde Déat im XX. Arrondissement von Paris im Wahlkreis von Jacques Duclos in die Nationalversammlung gewählt, den dieser 1928 selbst an Léon Blum verloren hatte. Über eine Auseinandersetzung mit Blums Politik in Bezug auf Premierminister Édouard Herriot zerstritt er sich mit seiner Partei und wurde 1933 offiziell ausgeschlossen. Déat verlor darüber seinen Sitz in der Nationalversammlung und gründete daraufhin zusammen mit anderen Neo-Sozialisten, wie Adrien Marquet oder Pierre Renaudel, eine neue Splitterpartei mit dem Namen Parti Socialiste de France (PSDF), deren Slogan lautete: „ordre, autorité et nation“ (= Ordnung, Autorität und Nation). Sie propagierte eine Öffnung zur Mittelschicht und eine Beteiligung an einer nichtsozialistischen Regierung. Auf ihrer Liste kehrte er 1936 als Abgeordneter von Angoulême in die Nationalversammlung zurück und wurde im gleichen Jahr Luftfahrtminister im Kabinett Albert Sarraut. Diesen Posten verlor er jedoch schnell wieder durch Meinungsverschiedenheiten mit dem Premierminister. Später verlor er auch sein Abgeordnetenmandat an einen Kommunisten. Mit allen Mitteln trat er gegen einen Kriegseintritt Frankreichs auf. Als strikter Antikommunist trat er der Front populaire jedoch nicht bei.

Faschismus und Kollaboration

Gründlich von seinem Verständnis des Sozialismus frustriert, wandte sich Déat dem Faschismus zu und wurde ein eifriger Verfechter rechtsextremer Politik. Zunächst schwärmte Déat von einem autoritären republikanischen Regime, wobei er eine starke autonome Exekutive zulasten der Legislative fördern wollte, um den von ihm inzwischen verachteten Parlamentarismus zu schwächen. Er forderte von seiner Regierung, Frankreich nach faschistischem Vorbild umzubauen. Als es 1938 schien, dass Frankreich gegen Nazi-Deutschland in den Krieg treten werde, veröffentlichte er einen höchst umstrittenen Artikel unter dem Titel „Faut-il mourir pour Dantzig?“ (= Muss man für Danzig sterben?) in der Zeitung L’Œuvre, deren Leitung er 1940 übernahm. In diesem Artikel argumentierte er, dass Frankreich einen Krieg mit Deutschland für das später überrannte Polen vermeiden solle. Damit löste er eine weitreichende Kontroverse aus und beförderte sich selbst in das nationale Abseits. Zusammen mit den späteren Kollaborateuren Pierre Laval und Jacques Doriot bildeten sie die Gruppe der »Pazifisten«, die, um der Konfrontation mit Deutschland aus dem Weg zu gehen, die Appeasement-Politik des Premierministers Édouard Daladier unterstützten, die im Münchener Abkommen mündete. Sie sahen die sozialen Brüche und Konflikte im demokratischen Frankreich als Ursache einer angeblich rückständigen politischen Entwicklung ihres Landes gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien an.

Déat, der ein starker Befürworter der deutschen Besetzung Nordfrankreichs 1940 wurde, zog in die vom Vichy-Regime beherrschte Südzone um und wurde anfangs Unterstützer von Marschall Philippe Pétain. Doch als er erkannte, dass das konservative Vichy kein faschistischer Staat nach deutschem Vorbild werden würde, kehrte er nach Paris in die besetzte Nordzone zurück, wo er durch die deutschen Besatzungsbehörden Unterstützung fand. Im Februar 1941 gründete er den Rassemblement national populaire (RNP, nationale Volkssammlung), eine kollaborationistische Partei, die Antisemitismus und Totalitarismus unterstützte. Er beabsichtigte mit dem RNP, ehemalige Sozialisten und Gewerkschafter, aber auch die rechtsaußen stehende Union nationale des combattants (= nationale Kriegsveteranenvereinigung) und den Mouvement social révolutionnaire (MSR, sozialrevolutionäre Bewegung) Eugène Deloncles integrieren.

Laval, ein ehemaliger Sozialist, der vom erzkonservativen Pétain zum ersten Ministerpräsidenten des Vichy-Regimes berufen worden war, sah nach seiner Entlassung im Dezember 1940 im RNP eine willkommene Möglichkeit, das Vichy-Regime politisch zu schwächen und sich zu rächen. Der RNP warb nachhaltig für Lavals Rückkehr und Deloncle plante zeitweilig sogar nach dem Vorbild von Mussolinis Marsch auf Rom 1922 einen Marsch auf Vichy, den die deutschen Okupationsbehörden aus Sorge um Pétains Reaktion ablehnten.

Zusammen mit anderen faschistischen Kollaborateuren, wie Doriot und Marcel Bucard, gründete er die Légion des volontaires français contre le bolchévisme (LVF; Legion französischer Freiwilliger gegen den Bolschewismus) oder Légion anti-bolchévique bzw. Légion tricolore, in der sich französische Freiwillige in Uniformen der Wehrmacht am Kampf gegen die Sowjetunion beteiligten. Später wurden die Reste dieser Legion, genauso wie niederländische, wallonische, flämische, norwegische, spanische, rumänische, ungarischer, lettische und kroatische Freiwilligenverbände in die Waffen-SS integriert.

Als Laval am 27. August 1941 in Versailles der LVF einen Truppenbesuch abstattete, wurde Déat bei einem Anschlagsversuch durch das Résistancemitglied Paul Collette verwundet. Nach seiner Genesung wurde er zu einem Unterstützer von Laval, der ihn seit seiner Rückkehr zur Macht 1942 bis 1943 mit staatlichen Mitteln subventionierte.

Um die von Déat geforderte Auflösung des MSR entstand im Mai 1941 ein Konflikt zwischen Déat und Deloncle, der unvorsichtigerweise erklärte, alleiniger Führer des RNP werden zu wollen. Deloncle heckte fieberhaft einen Plan zur Beseitigung Déats von der Spitze des RNP durch einen fingierten „Autounfall“ aus. Vom Krankenhausbett aus befahl daraufhin Déat die Beseitigung Deloncles aus allen Parteiämtern und betrieb seinen Ausschluss aus dem RNP. Mit dem Ausschluss Deloncles aus dem RNP verlor diese Kollaborationspartei ihre politische Spitzenstellung und repräsentierte fast nur noch die Mittelschicht.

Déat übte mit seinem RNP jedoch großen Einfluss insbesondere über eine Organisation aus, die sich Union de l’enseignement (= Bildungsvereinigung) nannte und der Lehrer und Angehörige des Bildungswesens angehörten. Sie trat für erhöhte Bezüge der Lehrer, Beseitigung des katholischen Einflusses auf das Bildungswesen und stärkere nationalsozialistische Erziehung der französischen Jugendlichen ein. Obwohl Déat gegen das Frauenwahlrecht war (das Charles de Gaulle erst einführte), protestierte er gegen die Versuche Vichys, die Bildungsrechte für Frauen einzuschränken und sie auf die Rolle der Hausfrau und Mutter zu beschränken.

Zudem waren sich die deutschen Besatzungsbehörden bei ihrer Besatzungspolitik keineswegs einig, verfügten sie doch über drei Schnittstellen zu den französischen Kollaborateuren: Da war der Militärbefehlshaber für das besetzte Frankreich (MBF), der mit seinem knapp 1.000 Mann starken Stab aus Wehrmachtspersonal und zivilen, eilends in Uniform gesteckten Experten im Pariser Hotel Majestic residierte, dem Oberkommandierenden des Heeres unterstellt und der neben militärischen auch für wirtschaftliche und lange Zeit sicherheitspolitische Fragen verantwortlich war. Vorwiegend politische Fragen wurden vom Botschafter Otto Abetz geregelt, der dem deutschen Auswärtigen Amt und damit dem Außenminister Joachim von Ribbentrop unterstand. Der Botschaft gehörten neben Bürokraten und Juristen aller Ebenen in wachsendem Maße auch Wissenschaftler, vor allem Romanisten an, die sich in dem von ihnen beabsichtigten faschistischen Gesamteuropa (SS-Europa) Karrieren ausrechneten. Der dritte Machtbereich auf deutscher Seite bestand aus der Sicherheitspolizei (Gestapo, Juden- und Résistance-Jäger) und dem Sicherheitsdienst (SD), die zusammen mit der SS Heinrich Himmler unterstanden. Zwischen allen drei deutschen Machtbereichen, insbesondere zwischen der Botschaft und der SS bestand eine gewisse Rivalität, die durch eine mangelnde Abgrenzung der genauen Verantwortlichkeiten gefördert wurde. Abetz und die Botschaft favorisierte Laval und Déat, während die SS Jacques Doriot förderte. So war es kein Wunder, dass der RNP bereits im Februar 1941 in der nördlichen Zone einen autorisierten Status erlangte, den der PPF erst ab Oktober 1941 erhielt. Gemeinsam war den deutschen Besatzungsbehörden, dass sie gar nicht daran dachten, Pétains Ziel eines geeinten Frankreich zu fördern, sondern ihn nach Kräften daran hinderten, einen Einparteienstaat nach deutschem oder italienischem Vorbild aufzubauen und die parteipolitischen, religiösen, regionalen und sonstigen innerfranzösischen Gegensätze förderten, um so Frankreich leichter überwachen und ausbeuten zu können. So zielte auch die Förderung der rivalisierenden RNP und PPF auf eine Spaltung der französischen Politik ab.

Als Déats vergleichsweise kleiner RNP mit ca. 20.000 Anhängern nach der von ihnen betriebenen Rückkehr Lavals zwar mit finanziellen Mitteln unterstützt wurde, jedoch die erhoffte Regierungsbeteiligung ausblieb und Déat klar wurde, dass Laval überhaupt nicht beabsichtigte, Frankreich zu einem Einparteienstaat zu formieren, strebte er in Verkennung der tatsächlichen Machtverhältnisse mit der Gründung des Front révolutionnaire nationale (FRN, revolutionäre nationale Front) an, erneut eine föderative Einheitspartei unter Einbeziehung von Doriots sehr viel größerem Parti populaire français (PPF, französische Volkspartei) zu bilden, um gemeinsam Druck auf das Vichy-Regime ausüben zu können. Während Déat die Bildung einer Einheitspartei vorantrieb, versuchte Doriot die gemeinsamen Hoffnungen und Befürchtungen der kleinen Kollaborateure zu nutzen, um genau dies durch die Einheit aller Kollaborateure an der Basis systematisch zu verhindern.

Nach dem Scheitern von Déats Versuch zur Bildung einer Einheitspartei bemühte er sich im Sommer 1943 gemeinsam mit anderen enttäuschten Kollaborateuren, wie Joseph Darnand und Jean Luchaire, einen Plan de redressement nationale français (= nationaler französischer Sanierungsplan) vorzulegen. Gleichzeitig wurden die deutschen Besatzungsbehörden gewarnt, dass Laval indirekt für ein Frankreich an der Seite der Alliierten eintreten könne, falls Lavals Regierung nicht durch ein Einparteiensystem unter Führung Darnands und hoher Funktionäre der Milice zur „Macht“ gelange. Pétain wollte daraufhin die seit drei Jahren nicht mehr tagende Nationalversammlung zur Legitimation einberufen, was von deutscher Seite verhindert wurde. Statt dessen bestanden die Deutschen auf die Berufung Déats, Doriots und Philippe Henriots zu Ministern, woraufhin Laval Déat im März 1944 zum Minister für Arbeit und nationale Solidarität seiner Marinettenregierung machte. Dies war nicht ohne Hintersinn, denn die Relève war alles andere als ein Erfolg und die deutschen Forderungen nach französischen Arbeitskräften immer unerbittlicher. Während Déats Amtszeit gelangten nur vergleichsweise wenige französische Arbeitskräfte in das Dritte Reich. Gleichzeitig bemühte sich Déat, die von Vichy einseitig den Arbeitgebern in den angeblich paritätisch besetzten Betriebsräten gewährten Vorteile zugunsten der Arbeitnehmer zu verbessern. Nach der erfolgreichen Landung der Alliierten in der Normandie veranstalteten Doriot und Déat im Juli 1944 noch einmal in Paris eine Großdemonstration, bei der sie ihren Plan de redressement bekräftigten.

Exil

1944 floh Déat zusammen mit der Regierungskommission nach Sigmaringen in Süddeutschland. Am 1. September 1944 erwähnte Hitler seine Absicht, Doriot zum Führer der französischen Exilregierung zu machen, während Darnand und Déat in Sigmaringen fortwährend gegeneinander intrigierten.

Bei der Befreiung Deutschlands 1945 floh Déat nach Italien, wo er unter einen neuen Namen zeitweilig in Mailand und Turin unterrichtete. Später wurde er von einem religiösen Orden aufgenommen, der ihn bis zu seinem Tode 1955 in einem Kloster unentdeckt verbarg. Déat schrieb dort seine Memoiren. In Frankreich wurde er durch ein Gericht in Abwesenheit wegen Landesverrat angeklagt und zum Tode verurteilt.

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