Maria Leitner

Maria Leitner

Maria Leitner (* 19. Januar 1892 in Varaždin, Ungarn; † vermutlich 1941 in Südfrankreich) war eine deutschsprachige ungarische Journalistin und Schriftstellerin.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Maria Leitner entstammte einer deutschsprachigen Familie. Sie wuchs in Budapest auf. Dort besuchte sie von 1902 bis 1910 die ‚Ungarische Königliche Höhere Mädchenschule‘. Ihre Studienjahre von 1910 bis 1913 liegen im Dunkeln. Es wird vermutet, dass sie im Ausland Kunstgeschichte und Sanskrit studierte, worauf die Übersetzungen ‚Tibetanische Märchen‘ und ‚William Hogarths Aufzeichnungen‘ schließen lassen. Ab 1913 arbeitete sie in der Redaktion der Budapester Boulevardzeitung ‚Az Est‘. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges berichtete sie als Auslandskorrespondentin aus Stockholm für Budapester Zeitungen.

Während des Krieges schlossen sich große Teil der revolutionär gesinnten ungarischen Jugend der anti­militaristischen Bewegung an. Maria Leitner und ihre Brüder, János (auch: John/Johann Lassen, 1895-1925) und Miksa (auch: Max/Maximilian 1892-1940?), beteiligten sich aktiv beim sozialistisch ausgerichteten ‚Galilei-Zirkel‘. János Lékai wurde zum Leiter des Ungarischen Verbands der Kommunistischen Jungarbeiter ernannt. Mitgerissen von der avantgardistischen Begeisterung traten die Geschwister 1919 in die Kommunistische Partei Ungarns ein. Dem entsprechend mussten sie, als Linke und Juden doppelt gefährdet, mit dem Fall der Räterepublik unter Béla Kun ihr Heimatland für immer verlassen. Sie emigrierten über Wien nach Berlin.

Von Wien aus reiste Maria Leitner im Sommer 1920 als Jugend-Delegierte Ungarns zum II. Kongress der Kommunistischen Jugend-Internationale (KJI). Vermutlich lernte sie bei diesem Treffen Willi Münzenberg kennen, der zu dieser Zeit dem Exekutivkomitee der KJI als Vertreter des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands angehörte. Durch ihn erhielt sie eine Stelle in Berlin beim Verlag der Jugendinternationale. Die sprachenbegabte Ungarin arbeitete dort im englischen Büro als Übersetzerin. 1923 erschien ihre erste Übersetzung, die Sammlung ‚Tibetanische Märchen‘ von ihr ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen, im Axel Juncker Verlag.

1925 reiste sie im Auftrag des Ullstein Verlages in die USA. Drei Jahre lang durchquerte sie den amerikanischen Kontinent von New York über Massachusetts, Pennsylvania, Virginia, Georgia, Alabama, Florida, bis hin zu Venezuela, Britisch- und Französisch-Guayana und den karibischen Inseln Haїti, Curaçao, sowie Aruba. Allerdings schrieb sie ihre Artikel nicht wie eine Journalistin mit dem Blick von außen auf das Geschehen, sondern sie lieferte eine Innenansicht: Sie nahm 80 verschiedene Stellen an, um aus eigener Erfahrung über die Arbeitsbedingungen der Menschen zu informieren. Sie arbeitete als Dienstmädchen und Zigarrendreherin, besuchte Zuchthäuser und südamerikanische Diamantenminen. Im Mittelpunkt ihrer sozialkritischen Reportagen stand das Amerika der kleinen Leute auf der Kehrseite des American Dream.

Zurück in Berlin veröffentlichte Maria Leitner 1929 zum zehnten Jahrestag des Falles der Ungarischen Räterepublik die Novelle ‚Sandkorn im Sturm‘ in der ‚Welt am Abend‘. In der Erzählung schilderte sie die tragischen Erlebnisse einer Dorfgemeinschaft zu der Zeit, als die Konterrevolution die Räterepublik zerschlug.

1930 trat die Schriftstellerin in den Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller ein, zu dessen Mitgliedern auch Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Andor Gábor, Erich Mühsam, Erich Weinert und Anna Seghers gehörten. Im gleichen Jahr erschien ihr erster sozialkritischer Roman ‚Hotel Amerika‘ im Neuen Deutschen Verlag. Eingebettet in eine Kriminalhandlung, wird die Geschichte des irischen Wäschemädchens Shirley O’Brien thematisiert, ähnlich wie in den Reportagen die sozialen Missstände der Arbeiter in einem amerikanischen Luxushotel. Auch im Ausland fand „Hotel Amerika“ einen großen Leserkreis. Der Roman erschien in polnischer und spanischer Übersetzung. 1933 kam das Buch auf die Liste der zu verbrennenden Bücher.

Maria Leitners Sozialreportagen aus Amerika sind in der Reportagesammlung ‚Eine Frau reist durch die Welt‘ zusammengefasst, die 1932 im Berliner Agis-Verlag herausgebracht wurde. Erschienen ist das Buch in mehreren Sprachen und in einer Auflage von 100.110 Stück. 1934 wurde der Band ins Polnische übersetzt und zwei Jahre später in Russland als Sprachübungstext herausgegeben.

Nachdem die KPD die Anti­faschistische Aktion ins Leben gerufen hatte, um alle demokratischen Kräfte zum Kampf gegen die faschistische Gefahr zu vereinen, ging Maria Leitner 1932 auf ‚Entdeckungsfahrt durch Deutschland‘ und berichtete für die Welt am Abend und die Arbeiter Illustrierte Zeitung über die soziale und politische Situation in kleinen Städten und Dörfern, in denen Naziminister regierten. In der Reportage ‚Im Krug eines Hitler Dorfes‘, suchte sie beispielsweise Antworten darauf, wie es Hitler bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 gelingen konnte, in den abgelegenen Dörfern die Mehrheit der Stimmen zu gewinnen.

Die Probleme der Frauen lagen Maria Leitner besonders am Herzen. Häufig berichtete sie über Arbeiterinnen, die um das Überleben ihrer Familien kämpfen müssen. Im Januar und Februar 1933 erschien die Artikelfolge ‚Frauen im Sturm der Zeit‘, worin die Reporterin das schwere Leben von acht Berlinerinnen „zwischen Arbeitsstätte und Stempelstelle“, wie es im Untertitel heißt, festhält.

Bis 1933 veröffentlichte sie Beiträge in verschiedenen, nicht nur linken, Presseorganen der Weimarer Republik. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Januar 1933 lebte Maria Leitner noch eine Zeitlang illegal in Deutschland, bevor sie ins Exil ging. Ihr Weg führte sie über Prag und das Saarland 1934 nach Paris, wo sie sich bis April 1940 aufhielt.

Nachweislich kehrte sie mehrfach, vielleicht im Auftrag der Exil-KPD, illegal nach Nazi-Deutschland zurück und berichtete über die Kriegsvorbereitungen. Die Reportagen der Jahre 1936 bis 1939, die in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort, der Pariser Tageszeitung und in der Prager Zeitschrift Die Neue Weltbühne erschienen, beruhen auf gründlichen Recherchen, die offenbar überwiegend an Ort und Stelle erfolgten. Maria Leitner muss Verbindungen zu Kontaktpersonen in Wissenschaft und Wirtschaft Hitlerdeutschlands – z. B. direkt bei den I. G. Farben – gehabt haben. Vermutlich leistete sie in dieser Zeit auch Widerstands- und Aufklärerarbeit mit einer Gruppe oder Organisation. Durch ihre Publikationen vermittelte sie dem Ausland wesentliche Tatsachen über die Verhältnisse im faschistischen Deutschland. Mit ihren sozialkritischen Reportagen über die Ausbeutung der Arbeiter bei den I. G. Farben oder die totgeschwiegene Explosion in der Sprengstofffabrik Reinsdorf bei Wittenberg setzte sie ihre „Entdeckungsfahrt aus Deutschland“ von 1932 fort. Sie reiste illegal, wahrscheinlich mit gefälschtem Pass. 1938 ließ sie sich in Düsseldorf das Heinrich-Heine-Zimmer aufschließen. Ihre Erfahrungen in dem Zimmer des Dichters, der zu den verbotenen Schriftstellern gehörte, beschreibt sie in der Reportage Besuch bei Heinrich Heine.

Der 1937 in der Pariser Tageszeitung als Fortsetzungendruck erschienene Roman Elisabeth ein Hitlermädchen zeugt davon, dass es Maria Leitner in erster Linie um den anti­faschistischen Kampf geht. Die Schriftstellerin erzählt darin die Liebesgeschichte eines Hitlermädchens und eines SA-Manns, der zum Offizier avanciert. Die Protagonistin Elisabeth, erlebt das alltägliche Schicksal eines jungen Mädchens in Nazi-Deutschland. Sie ist Mitglied der Hitlerjugend, wird zum Arbeitsdienst geschickt und macht Gasschutzübungen in dem Kaufhaus, in dem sie als Schuhverkäuferin angestellt ist. Sie träumt von romantischen Nachmittagen am Waldsee, doch die Hitlerjugend will nur Geländeübungen und Nachtmärsche gelten lassen. Der Roman kann dem in der Weimarer Republik weit verbreiteten Genre des Angestelltenromans zugeordnet werden und stellt gleichzeitig ein Pendant zu den Jugendromanen nationalsozialistischer Prägung dar.

Im Mai 1940 wurde sie von den französischen Behörden zusammen mit anderen deutschen Exilanten im Lager Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen interniert. Ihr gelang die Flucht über Toulouse nach Marseille, wo sie in extrem ärmlichen Verhältnissen im Untergrund lebte. Sie versuchte, durch Bittbriefe an die amerikanische Hilfsorganisation ‚American Guild for Cultural Freedom‘ und Vermittlung Theodore Dreisers ein Visum für die Vereinigten Staaten zu erlangen; da sie jedoch von den amerikanischen Behörden als Ungarin und somit als weniger gefährdet angesehen wurde, schlugen diese Versuche fehl. Am 4. März 1941 schrieb Maria Leitner ihren letzten Hilferuf. Sie wurde zuletzt im Frühjahr 1941 von Anna Seghers, Alexander Abusch und Luise Kraushaar in Marseille gesehen.[1] Über ihr weiteres Schicksal ist nichts Näheres bekannt.

Maria Leitner ist eine frühe Vertreterin der Reportageliteratur. Das zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Autorin bei ihrer Beschreibung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft nicht auf den Blick von außen verlässt, sondern sich zeitweise in das zu beschreibende Milieu begibt und z. B. selbst als niedere Arbeitskraft Erfahrungen sammelt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass trotz ihrer beachtlichen Leistungen wenig von ihrem Leben und Werk bekannt ist. Maria Leitner hat es sich als Sozialistin zur Aufgabe gemacht, die Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsschicht und der sozialen Randgruppen mit ihrer Sprache darzustellen und zu verändern. Darum sind ihre Texte, die zur Revolution aufrufen, zur proletarisch-revolutionären Literatur zu zählen. Ihre ‚Waffe‘ im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und Ausbeutung ist ihre Literatur.

Werksauswahl

  • Hotel Amerika , Berlin 1930
  • Eine Frau reist durch die Welt, Erstauflage. Berlin, Wien: Agis, 1932
  • Elisabeth, ein Hitlermädchen. Roman der deutschen Jugend. In: Pariser Tageszeitung, 2. Jg., Nr. 315, 22. April 1937, bis Nr. 367, 21. Juni 1937.
  • Elisabeth, ein Hitlermädchen. Erzählende Prosa, Reportagen und Berichte. Berlin und Weimar, Aufbau-Verlag 1985

Übersetzungen

  • William Hogarth: William Hogarths Aufzeichnungen, Berlin 1914
  • Tibetanische Märchen, Berlin 1923

Literatur

  • Wolfgang Emmerich: Leitner, Maria. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 14, Duncker & Humblot, Berlin 1985, S. 171 f.
  • Elisabeth, ein Hitlermädchen. Erzählende Prosa, Reportagen und Berichte. In: Schwarz, Helga W. (Hg.), Berlin, Weimar: Aufbau, mit Bibliografie.
  • Maria Leitner: Reportagen aus Amerika. Eine Frauenreise durch die Welt der Arbeit in den 1920er Jahren. Habinger, Gabriele (Hg.) Wien: Promedia, 1999.
  • Schwarz, Helga W.: Internationalistinnen: Sechs Lebensbilder. 1. Aufl. Berlin: Militärverlag der DDR, 1989.
  • Schwarz, Helga W. : Maria Leitner – eine Verschollene des Exils? In: Claus-Dieter Krohn (Hg.) / Thomas Koebner / Wulf Köpke: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 5: Fluchtpunkte des Exils und andere Themen. München: 1987, S. 123–134.
  • Schwarz, Helga W. (1998): Maria Leitner – eine Verschollene des Exils? In: Zieharmonika. Literatur, Widerstand, Exil, Jg. 15, Nr. 3, , S. 27–30.
  • Eva-Maria Siegel: Jugend, Frauen, Drittes Reich, Pfaffenweiler 1993.
  • Anja Schmidt-Ott: Young love - Negotiations of the Self and Society in Selected German Novels of the 1930s (Hans Fallada, Aloys Schenzinger, Maria Leitner, Irmgard Keun, Marie Luise Kaschnitz, Anna Gmeyner and Ödön von Horvath) , Frankfurt am Main [u.a.] 2002.
  • Volker Weidermann: Das Buch der verbrannten Bücher. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2008; ISBN 978-3-462-03962-7. (Zu Leitner Seite 69-71)

Übersetzungen in andere Sprachen

Russisch:

  • Лейтнер, Мария. Женщина путешествует по свету: Пер. с нем./ Мария Лейтнер; Обраб. Е.К. Чаплиной. 2-е изд., испр. Москва : Изд-во лит. на иностр. яз., 1937.
  • Лейтнер, Мария. Женщина путешествует по свету: (по очеркам М. Лейтнер): немецкий язык со словарем и грамматическими комментариями / М. Лейтнер ; обработка Е. К. Чаплина. 4-е испр. изд. Москва : Издательство литературы на иностранных языках, 1940.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Flucht aus Paris und letzte Lebenszeichen

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