Neue Bürgerlichkeit

Neue Bürgerlichkeit

Die Debatte um die Neue Bürgerlichkeit ist ein Thema der Massenmedien in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts. Es wird versucht, ein aktuelles verbreitetes Lebensgefühl zu definieren, zu benennen, und zu beschreiben. „Bürgerlichkeit“ oder „Bürgertum“ stand im Blickwinkel der Linken für eine konservative politische Mitte. Neu ist, dass fast 40 Jahre nach der 68er-Bewegung auch von links über eine solche Selbstbezeichnung nachgedacht wird.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Initiiert wurde die Debatte u.a. vom Trendforscher Matthias Horx, bereits 1983 gab er zusammen mit Cora Stephan und Albert Sellner das Buch Infrarot – Wider die Utopie des totalen Lebens heraus, das sich an 68er richtete, eine programmatische Absage an Lebensideale der 68er-Generation darstellte, und die Begriffe Vernunft, Pragmatismus und Realismus in den Mittelpunkt rückte.

Ebenso wurde in den 1980ern bei Trendforschern das Schlagwort Cocooning populär, es stand als Trend für einen allgemeinen Rückzug aus dem öffentlichen, u.a. politischen Raum, in private Lebenswelten.

Hinzu kam eine kritische Debatte um die 68er seit den 1990ern, es wurden vermehrt negative Folgen der Studentenbewegung zur Diskussion gestellt, und eine vermeintliche Hegemonie der 68er oder Linken in der öffentlichen Meinung kritisiert, z.B. in der Zuschreibung „Politische Korrektheit“. Von den 68ern noch bekämpfte Werte wie die Sekundärtugenden rückten allgemein in den Vordergrund: zunächst als spielerisch-ironischer popkultureller Tabubruch in den 80ern (etwa bei New Wave und Punk), dann aber zunehmend ernsthaft. Lange Haare wurden unmodisch. Feministinnen beklagten einen patriarchalen Backlash. Die Shell-Jugendstudie stellte mehrmals bei Jugendlichen ein neues Interesse an Bürgerlichkeit fest.

Helmut Kohl forderte zu Beginn seiner Amtszeit 1982/1983 eine geistig-moralische Wende. Die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder appellierte an die sog. Neue Mitte. Auch sie sollte von pragmatischem Handeln bestimmt sein. Die politische Richtung des Neokonservatismus steht international unter anderem auch für eine Renaissance bürgerlicher Werte.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde allgemein das Ende der Spaßgesellschaft der 90er wahrgenommen, so titelte die Welt am 31. Dezember 2001: Ade, Generation Golf. Die Neue Bürgerlichkeit stellt ein aktuelles seitdem breit diskutiertes Lebensgefühl dar, bzw. den Versuch, dieses in einen Begriff zu fassen.

Es erschienen dazu mehrere Artikel in verschiedenen Zeitungen, die taz publizierte eine ganze Serie zum Thema. Die Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltete Diskussionenrunden über die Neue Bürgerlichkeit und soziale Milieus in Großstädten. Auch der Spiegel (7. Juli 2003: „Nobel statt Nabel“), Focus (29. Dezember 2003: „Benimm ist in“), 'Vorgänge' (Nr. 170, Juni 2005: „Rückkehr der Bürgerlichkeit“) und Die Zeit (9. März 2006: „Sehnsucht nach dem Bürger“[1]) widmeten sich schwerpunktmäßig dem Phänomen neuer Bürgerlichkeit. In der Popkultur spiegelte sich die Diskussion in einer Feuilletondebatte zwischen verschiedenen profilierten Vertretern wie Diedrich Diederichsen, Klaus Walter und Mark Terkessidis auf der einen und Ulf Poschardt auf der anderen Seite wider, auch Autoren wie Matthias Matussek oder Peter Hahne vertraten medial eine Rückkehr zu konservativeren Positionen.

Diese Diskussion fand auch im Kontext der Möglichkeit einer schwarz-grünen Koalition bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg 2006, oder zuvor einer Jamaika-Koalition auf Bundesebene, statt, für die sich u.a. Grünen-Vordenker Ralf Fücks aussprach (Agenda-Setting). So äußerte Oswald Metzger nach der Wahl in Baden-Württemberg anlässlich informeller Koalitionsgespräche mit der CDU, dass er eine solche Koalition begrüßen würde, und sagte weiter: Die Grünen nähern sich habituell ihren Herkunftsfamilien an“.

Wichtige aktuelle publizistische Vertreter der These einer „Neuen Bürgerlichkeit“ sind außerdem z.B. Udo di Fabio, Paul Nolte, Arnulf Baring, Peter Sloterdijk[2] oder Frank Schirrmacher. Bezüglich neu/alter Erziehungsideale äußerte sich u.a Bernhard Bueb, bezüglich einer neuen/alten Geschlechterrollenverteilung u.a. Eva Herman.

Nach Paul Nolte sei die „Neue Bürgerlichkeit“ eine Reaktion auf die „Krise des Sozialstaates“ (siehe: Neue Unterschicht). [3]

Themen

Diskutiert werden dabei z.B. neokonservative Tendenzen im Mainstream wie eine Rückbesinnung auf Werte und eine neue Betonung von Sekundärtugenden oder eine (scheinbare) Rückkehr der Religion sowie eine nüchtern-pragmatische Weltsicht (Realpolitik). Ferner der Rückzug des Staates im Zuge des Neoliberalismus und der private Rückzug in Haus und Familie wie im Biedermeier und eine größere Beachtung nachfolgender Generationen (Generationengerechtigkeit). Weitere Themen sind zivilgesellschaftliches bürgerschaftliches Engagement und die Notwendigkeit guter Umgangsformen. Stichworte sind unter anderem auch der Begriff des Spießers, der Citoyen, etwa in der Märzrevolution von 1848, der Wohlstand einer Erbengeneration und das Älter- oder „Erwachsen“-werden einer Protestgeneration.

Verwandte Themen und Begriffe

Literatur

  • Matthias Horx, Albrecht Sellner, Cora Stephan (Hrsgb).: Infrarot – Wider die Utopie des totalen Lebens. Zur Auseinandersetzung mit Fundamentalopposition und ‚neuem Realismus‘., Rotbuch, Berlin, 1983
  • Matthias Horx: Das Zukunfts-Manifest. Aufbruch aus der Jammerkultur., 2000
  • Tilman Reitz: Bürgerlichkeit als Haltung, 2003
  • Joseph Heath, Andrew Potter: Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur., Rogner & Bernhard, 2005 (Absage an Kritische Theorie und linke Konsumkritik, Programmatik für eine Neue Mitte/Neue Bürgerlichkeit)
  • Joachim C. Fest, Wolf Jobst Siedler, Frank A. Meyer: Der lange Abschied vom Bürgertum, 2005 („Ist die bürgerliche Epoche mit dem Siegeszug der egalitären Gesellschaft in ganz Europa an ihr Ende gekommen?“)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.zeit.de/2006/11/Brger_2fReportage
  2. Peter Sloterdijk: „Aufbruch der Leistungsträger - Zeitdiagnostische Bemerkungen“, in Cicero, November 2009.
  3. Paul Nolte im Deutschlandradio: „nehmen Sie das Stichwort Vernachlässigung oder soziale Verwahrlosung, über das wir jetzt auch aus gegebenem Anlass häufig gesprochen haben. Da erkennen wir eigentlich, was ist das Antibürgerliche oder das, was die Konsequenz aus dem Verlust von Bürgerlichkeit.“ Das Comeback der Bürgerlichkeit, Historiker Nolte über den Wertewandel in Deutschland, Moderation: Jürgen König, 27. Dezember 2005 [1]

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