Postmoderner Roman

Postmoderner Roman

Der postmoderne Roman ist die literarische Erscheinungsform der Postmoderne, einer intellektuellen Strömung, die sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ausgehend von den USA und Frankreich überall in der westlichen Welt als Gegenbewegung gegen eine zunehmend als steril und totalitär empfundene Moderne manifestiert hat, zuerst in der Architektur und dann auf dem Wege der Übertragung dieses Begriffs in der Philosophie und der Literatur.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Der Begriff entzieht sich zunächst einer genaueren Definition, da er keine Selbstbeschreibung darstellt und keine Trennschärfe besitzt: Welcher Roman nun dazuzuzählen ist, wird weder vom Autor selbst entschieden, noch gibt es eindeutige Kriterien, die den postmodernen Roman klar von Romanen anderer Epochen unterscheiden. Als vorläufige Definition mag daher gelten, dass der postmoderne Roman zeitgenössisch ist und sich inhaltlich oder formal bewusst vom modernen Roman absetzt. Dieser wird von dem deutsch-neuseeländischen Literaturwissenschaftler Gero von Wilpert im „Sachwörterbuch der Literatur“ folgendermaßen definiert: Er sei eine „dichterische Erzählung, die den Blick richte

„auf die einmalig geprägte Einzelpersönlichkeit oder eine Gruppe von Individuen mit ihren Sonderschicksalen in einer … Welt, in der nach Verlust der alten Ordnungen und Geborgenheiten die Problematik, Zwiespältigkeit, Gefahr und die ständigen Entscheidungsfragen des Daseins an sie herantreten und die ewige Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit. … Das in das Weltgeschehen eingebettete Schicksal spielt sich in ständig erneuter Auseinandersetzung mit den äußeren Formen und Mächten ab, ist ständige individuelle Reaktion auf die Welteindrücke und –einflüsse und damit ständige eigene Schicksalsgestaltung“

Konstitutiv für den modernen Roman sind demnach Narrativität, Subjektivität und eine jeweils für verbindlich gehaltene Vorstellung von Welt („Wirklichkeit“), mit der sich das individuelle Subjekt auseinanderzusetzen hat, um so den Sinn seines Schicksals zu erkennen (oder ihn ihm abzugewinnen).

Daraus folgt, dass im postmodernen Roman eben diese drei Bestimmungsfaktoren des modernen Romans geleugnet oder vernachlässigt werden (wobei es zur Zugehörigkeit reichen mag, wenn nur ein Merkmal zutrifft):

  • Der postmoderne Roman verweigert sich einer linearen Erzählweise; erzählt wird stattdessen häufig fragmentarisch oder unchronologisch, sodass der Leser sich selbst das Geschehen konstruieren muss. Diese Methode der unchronologischen Darstellungsweise hatte allerdings bereits Horaz in seiner Epistula ad Pisones (1. Jahrhundert v. Chr.) dem Dichter empfohlen, sodass Zweifel angebracht sind, ob unchronologisches Erzählen als Charakteristikum des postmodernen Romans beansprucht werden kann.
  • Der postmoderne Roman dekonstruiert die Möglichkeit seiner Protagonisten, zu selbstbestimmten Subjekten zu werden. Die Möglichkeit einer Entwicklung wird geleugnet, die Protagonisten bleiben also gleich oder degenerieren; sie erfahren ihr Leben auch nicht als Ergebnis eigener, frei gewählter Entscheidungen, sondern werden als fremdgesteuert und konditioniert geschildert. Freilich gibt es hier zu bedenken, ob Protagonisten eines Sprachkunstwerks überhaupt als Subjekte aufgefasst werden können, denn sie sind nichts anderes als Textfiguren aus der Feder eines Künstlers. Vielmehr sind Romangestalten als Textfiguren aufzufassen, welche es dem Autor gestatten, sein eigenes Wissen und Material in der Form einer handelnden Figur im Text zu präsentieren.
  • Vor allem geht der postmoderne Roman nicht mehr von einer verbindlichen Weltsicht (sogenannte „postmoderne Beliebigkeit“) und einem erkennbaren Sinn des Lebens aus. Konkreter gefasst verlieren in diesem Sinne nach Jean-François Lyotard die sogenannten „Großen Erzählungen“ - wie etwa 'Fortschritt', 'Mehrung des Wohlstands', 'Konsensus durch anhaltende Diskussion' - ihre Gültigkeit und werden zunehmend durch „Kleine Erzählung“, die nur lokale oder provisorische Gültigkeit besitzen oder im Sinne eines radikalen Konstruktivismus spontan und situationsgebunden zu erschaffen sind, ersetzt. Auch der Sinn des geschriebenen Wortes wird, wenn nicht überhaupt geleugnet, als etwas betrachtet, das nicht einfach ab initio vorhanden ist. Ausgehend von der Theorie des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure, nach der das einzelne Wort seine Bedeutung nicht durch eine feste Verknüpfung von Lautbild (Signifikant) mit einem festen Wortsinn (Signifikat) erhält, sondern aus der Differenz zu allen anderen Zeichen des Systems, verweist der Kritiker Jacques Derrida auf das Fehlen eines zentralen Signifikanten, der das Sinnsystem zu strukturieren in der Lage wäre. In der Abwesenheit eines solchen stabilisierenden Zeichens ist die Bedeutung in der Sprache demnach dehnbar, verhandelbar, und nicht eindeutig festgelegt. Postmoderne Autoren nutzen diese Einsicht zur Kritik an politischen oder gesellschaftlichen Ideologieträgern, die (eine grundsätzlich formbare) Sprache und Geschichtsschreibung in ihrem Interesse zu manipulieren suchen.

Weitere Kennzeichen des postmodernen Romans

Intertextualität

Postmoderne Autoren beziehen sich in ihren Romanen oft auf ältere, bekannte Texte, die sie zitieren, collagieren und persiflieren. Durch diese Intertextualität, die auch der Erkenntnis geschuldet ist, dass sich, wie die Moderne glaubte, substanziell Neues ohnehin nicht mehr generieren ließe, wird spielerisch ein „Sinn“ konstruiert, von dem nicht sicher ist, ob er außerhalb des Referenzrahmens des Romans existiert. Problematisch aber wird die Analyse von Intertextualität dann, wenn Autoren zwar intertextuell arbeiten, ein Hinweis auf das verwendete Material jedoch ausbleibt. In einem solchen Fall kann dann die Grenze zum Plagiat verfließen.[1]

Metafiktionalität

Der postmoderne Zweifel an einer univokalen, durch Autoritäten vordefinierten Weltsicht äußert sich neben der Aufgabe der „Grossen Erzählungen“ auch in einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber der übergeordneten Stellung des Autors als eine das Romangefüge definierende Größe. Konkret schlägt sich dieser Zweifel im Gebrauch metafiktionaler Techniken nieder, d.h. der Thematisierung des Schreibprozesses im oder aus dem geschriebenen Werk heraus. Die Fiktionalität einer Romanwelt rückt so systematisch in den Vordergrund zahlreicher Geschichten. Dies mag explizit geschehen - Autoren treten als Romanfiguren auf, Figuren thematisieren ihre Fiktionalität im Dialog miteinander oder mit dem Erzähler - oder implizit - eine lineare narrative Abfolge der Handlungselemente wird verweigert und durch parallele, sich überschneidende Handlungsstränge ersetzt (z.B. Coover, The Babysitter).

Wurzeln

Der postmoderne Roman hat vielfältige Wurzeln. Die wichtigsten sind:

  • Der moderne Roman. Wichtige Merkmale des postmodernen Romans zeigten sich bereits in der klassischen Moderne. So ist Intertextualität zum Beispiel eine zentrale Kategorie in den Werken von Thomas Mann und James Joyce. Freilich ist das Verfahren der Intertextualität massenhaft im Don Quijote von Miguel de Cervantes und in anderen Romanen der frühen Neuzeit nachzuweisen. Mit Odysseus und dem Faust nutzen Joyce und Mann berühmte Stoffe der Weltliteratur als Folien ihrer in der Gegenwart angesiedelten Romane Ulysses und Doktor Faustus. Auch der radikale Nihilismus etwa in Samuel Becketts Roman Murphy („Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues“), kann als Vorform postmoderner Zweifel an den sinnhaften „großen Erzählungen“ (Jean-François Lyotard) der Moderne gelten.
  • Die Beat Generation. Die US-amerikanische Gruppe junger Avantgarde-Literaten um Jack Kerouac und Allen Ginsberg zeichnete sich in den 1940er und 1950er Jahren durch möglichst große Unmittelbarkeit aus, die zum Teil an die écriture automatique der Surrealisten erinnert. Intensive Erlebnisse und Emotionen, Räusche und sexuelle Phantasien werden bunt, drastisch und scheinbar kunstlos und in einem radikalen Individualismus geschildert, der der Gesellschaft und ihren Ansprüchen eine schroffe Absage erteilt.
  • Die Oulipiens (abgeleitet vom Akronym „Oulipo“ für Ouvroir de Littérature Potentielle, „Werkstatt für Potentielle Literatur) waren ein Kreis vor allem französischer Autoren der sechziger Jahre, die ihrerseits vom Surrealismus und den Pataphysikern beeinflusst waren. Ihre Romane transportieren keinen außerhalb des Romans existierenden „Sinn“, sondern spielen ein Sprachspiel nach zum Teil sehr strengen formalen Regeln: In Georges Perecs Buch La Disparition, (dt. „Anton Voyls Fortgang“) durfte zum Beispiel kein „e“ im Text vorkommen, sein Roman La Vie. Mode d’emploi (dt. „Das Leben. Gebrauchsanweisung“) gliedert seine vielfältigen Erzählstränge nicht chronologisch, sondern nach den einzelnen Wohnungen und Räumen in einem Pariser Mietshaus. Erstaunlicherweise funktionieren diese formalistisch wirkenden Experimente bei der Lektüre reibungslos und verifizieren damit die oulipistische Prämisse, dass Sinn ein Konstrukt ist, das bei der Lektüre (und nicht bei der Abfassung) hergestellt wird.
  • Jorge Luis Borges. Der 1986 verstorbene argentinische Schriftsteller schuf in seinen Büchern ein intertextuelles Universum aus Texten, wie es am eindrucksvollsten in seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel zum Ausdruck kommt. Die 1941 veröffentlichte Erzählung ist eine Spekulation über eine mögliche Welt, welche als eine Bibliothek aller möglichen Bücher dargestellt ist. Diese Bücher, zufällig in der Bibliothek angeordnet, enthalten in der Mehrzahl für die Bewohner der Bibliothek unverständliche Texte. Sinn in einem Text ist hier also nicht die Folge einer sinnhaften Welt oder der Aussageabsicht eines Autors, sondern von blindem Zufall. Eines der Lieblingsstilmittel Borges’ ist die Täuschung, das Spielen mit dem Leser, die Vermischung von Realität und Surrealität.

Beispiele

  • William S. Burroughs1959 erschienenes Buch „Naked Lunch“ ist im Grunde kein Roman. Es handelt sich um disparate, teils im Drogenrausch, teils unter schweren Entzugserscheinungen entstandene Kurzerzählungen (sogenannte routines), Erinnerungsfetzen, Phantasien und Albträume. Einige Passagen schildern noch ganz im Stil der Beat Generation das Leben eines Heroinsüchtigen im New York der frühen fünfziger Jahre mit seinem coolen Slang und seiner willenlosen Suche nach dem Junk, gleiten dann über in die fiktive Großstadt Interzone, einen Archetyp aller Megacitys der Welt, in dem Außerirdische Rauschmittel von beliebiger Suchtpotenz und Qualität verkaufen. Mehrfach taucht ein bösartiger, in seinem Zynismus jedoch rasend komischer Doktor Benway auf, der bei Herzoperationen schon mal zum Pömpel greift („Desinfizieren? Wozu das denn?“) – offenkundig eine Angstprojektion des Autors auf die seinen Entzug überwachenden Ärzte. In ähnlich drastischen Assoziationen polemisiert der Autor gegen die Todesstrafe, als deren einzigen Zweck er in komischem Zynismus die spontane Ejakulation des Gehenkten schildert. Das Buch „denkt“ sozusagen in drastisch ausgemalten Bildern, Chronologie oder Identität des Protagonisten (zumeist Lee genannt) spielen keine oder nur eine untergeordnete Rolle.
  • Thomas Pynchons 1963 erschienener Roman „V“ schildert in einer unübersichtlichen Ansammlung von Schauplätzen, Handlungssträngen und Themen (von der blutigen Niederschlagung des Aufstandes der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika über die Jagd auf Alligatoren in der New Yorker Kanalisation bis zu den unappetitlichen Folgen einer Liebesbeziehung zu einem perfektionistischen Gesichtschirurgen) in der Hauptsache zwei Protagonisten. Benny Profane und Henry Stencil. Profane, ein Schlemihl und „menschliches Jo-Jo“, wie er sich selbst bezeichnet, lässt sich nach seiner Entlassung aus der US-amerikanischen Marine willenlos durch die dekadente New Yorker Intellektuellenszene der 1950er Jahre treiben. Herbert Stencil, Sohn des britischen Geheimagent Sidney Stencil, arbeitet als Gegenbild Profanes aktiv und intensiv daran, seinem Leben einen Sinn zu verleihen, indem er hinter die Bedeutung der (oder des) titelgebenden „V“ zu kommen sucht, auf die er in einem Tagebuch seines verstorbenen Vaters stieß. Das führt ihn zu immer neuen Verschwörungstheorien und Spekulationen, die ihn (und den amüsierten Leser) zu den verschiedensten Plätzen der Erde führen, vom Ägypten des Jahres 1898 über Florenz ein Jahr später, Paris im Jahr 1913, Namibia 1922 und Malta im Zweiten Weltkrieg, und immer steht eine Frau im Mittelpunkt, deren Vorname mit V beginnt. Beide Protagonisten scheitern natürlich in ihren Versuchen, ihrer Existenz so etwas wie einen Sinn abzuringen.
  • Intertextuelles Spiel und Selbstreferenz kommen in Italo Calvinos Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ (1979) zu schönsten Blüten. Er beginnt mit den Worten: „Du schickst dich an, Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen“, und tatsächlich ist der Protagonist der Leser selbst. Der versucht darin Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht zu lesen, doch muss er feststellen, einen Fehldruck in Händen zu haben. Seine Versuche, ein korrektes Exemplar zu erhalten, scheitern alle – stattdessen gerät er in ein Labyrinth immer neuer Romananfänge und Geschichten angeblich ganz unterschiedlicher Autoren in ganz unterschiedlichen Stilen und Genres in die Hand (die einzelnen Kapitel des Romans), die dem Leser dennoch gefallen, aber ihrerseits abbrechen. Das liegt unter anderem daran, dass er bei seiner Suche nach der Fortsetzung einer Leserin begegnet, mit ihr eine Liebesaffäre beginnt und sie am Ende gar heiratet. Am Schluss liegen Leserin und Leser im Bett, sie bittet ihn, das Licht auszumachen, woraufhin der Leser erwidert: „Einen Moment noch. Ich beende gerade Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino“. Damit endet der Roman, dessen intellektuelles Spiel offenkundig von nichts anderem handelt als vom Lesen selbst und dem Genuss, den es bereitet, selbst wenn die behandelten Autoren und Bücher sämtlich fiktiv sind. Im Leseerlebnis des Lesers werden sie dennoch ein Ganzes.
  • Don DeLillos 1985 erschienener Roman „Weißes Rauschen“ ist zwar recht konventionell erzählt, verbindet aber viele Motive der postmodernen Diskussion. Es beginnt als Satire auf das Universitätsleben an der amerikanischen Ostküste: Ein Professor, der die selbst erfundene akademische Nische der „Hitler-Studien“ füllt, ohne selber Deutsch zu können, beneidet einen Kollegen, der es mit Elvis-Presley-Studien viel leichter hat. Sein Leben mit Patchworkfamilie, akademischen Diskussionen und den Freuden des Konsumismus bleibt eigentümlich unernst sinnlos (das titelgebende Weiße Rauschen bezeichnet das Geräusch, das man hört, wenn sämtliche Radiofrequenzen gleichzeitig abgehört werden), bis eine Umweltkatastrophe die Familie zur Flucht zwingt. Diese Flucht lässt ihn die tief sitzende Furcht vor dem Tod endlich unmittelbar spüren, weshalb er sie als Befreiung empfindet.

Vertreter des postmodernen Romans

Weitere Vertreter des postmodernen Romans sind:

Literatur

  • Falsche Dokumente. Postmoderne Texte aus den USA, hg. von Utz Riese, Reclam: Leipzig 1993, 512 S. – Sehr lesenswerte Anthologie
  • Uwe Wittstock: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Reclam, Leipzig 1994, ISBN 3-379-01516-4
  • Reinhard Kacianka (Hrsg.): Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Francke, Tübingen u.a. 2004, ISBN 3-7720-8055-3
  • Herbert Grabes: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne. Die Ästhetik des Fremden. Francke, Tübingen u.a. 2004, ISBN 3-8252-2611-5, ISBN 3-7720-3361-X
  • Michaela Kopp-Marx: Zwischen Petrarca und Madonna. Der Roman der Postmoderne. C.H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-52968-2

Einzelnachweise

  1. Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2009; siehe dazu auch die Besprechung von Thomas Kupka, Seelenraub und Selbsterschaffung, in: literaturkritik.de, Jg. 11, Oktober 2009 [1]

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