Tiberius Sempronius Gracchus

Tiberius Sempronius Gracchus

Tiberius Sempronius Gracchus (* 162 v. Chr.; † 133 v. Chr.) war ein römischer Politiker, der als Volkstribun weitgehende Reformen durchsetzen wollte, jedoch am gewaltsamen Widerstand der Senatsmehrheit scheiterte und zusammen mit seinen Anhängern ermordet wurde. Mit dem Scheitern seiner Reformen begann das Zeitalter der Römischen Bürgerkriege. Nach seinem Tod wurde der aus der vornehmen plebejischen Familie der Gracchen stammende Politiker zur Symbolfigur für den Kampf gegen die Willkür der Oberschicht stilisiert.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft

Die Familie der Gracchen war eine der mächtigsten und angesehensten der römischen Nobilität. Der jüngere Tiberius war der älteste Sohn des älteren Tiberius Sempronius Gracchus, des Konsuls der Jahre 177 v. Chr. und 163 v. Chr., und der Cornelia, einer Tochter des Publius Cornelius Scipio Africanus, des Siegers über Hannibal. Tiberius war mit Claudia Pulchra verheiratet, die beiden hatten keine Kinder.

Politische Anfänge

Der junge Tiberius Gracchus begleitete im Alter von fünfzehn Jahren den damaligen Konsul Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus in den Dritten Punischen Krieg (147 v. Chr.) und ging im Jahre 137 v. Chr. mit dem Konsul Gaius Hostilius Mancinus als Quaestor in die Provinz Hispania citerior. Seit die Römer nach ihrem Sieg im 2. Punischen Krieg große Teile der iberischen Halbinsel als Provinz von Karthago erbeutet hatten, sahen sich die römischen Truppen mit dem hartnäckigen Widerstand der iberischen Stämme konfrontiert, der zu einem jahrzehntelangen Krieg führte.

Gracchus erlebte dort die Kapitulation des römischen Heeres vor Numantia, eine der bis dahin schwersten Niederlagen einer römischen Armee. Er hatte die Kapitulation mit zu verantworten und war an der Formulierung des Vertrages maßgeblich beteiligt; er wäre, als der Senat die Ratifizierung des Abkommens ablehnte, beinahe an die Feinde ausgeliefert worden. Nur seine vornehme Herkunft und mächtige Freunde bewahrten ihn vor der schmachvollen Auslieferung an die Numantiner, wie sie Mancinus widerfuhr. Dieser wurde nackt und mit gefesselten Händen zu den Feinden geschickt, die ihn wiederum nicht aufnehmen wollten, um ihrerseits nicht die Nichtigkeit des Vertrages anerkennen zu müssen.

Seine Erlebnisse auf der iberischen Halbinsel und die Reaktion des römischen Senats brachten ihn zum ersten Mal in einen Konflikt mit Teilen des Senats und deren Politik. Tiberius stand nun, wie Jochen Bleicken herausarbeiten konnte, politisch mit dem Rücken zur Wand und brauchte dringend einen spektakulären Erfolg. Schon bei seiner Reise nach Numantia durchreiste er Etrurien und erkannte dort angeblich die Missstände, welche die Sklavenwirtschaft und die Belastung der bäuerlichen Bevölkerung durch den Kriegsdienst verursacht hatten.[1] In ihm reifte Plutarch zufolge ein erster Plan zur Reformierung des römischen Staates. Ob dieser romantische Blick auf Gracchus der Realität entspricht, ist fraglich. Plutarch berichtet aber auch über andere Motive, die Tiberius zu seinem politischen Vorhaben beeinflusst haben sollen. So schreibt Plutarch, dass Tiberius von seinen beiden griechischen Beratern Diophanes von Mitylene und Blossius von Kyme dazu überredet wurde, das Ackergesetz wieder aufzugreifen. Als weitere mögliche Motive führt Plutarch zum einen Cornelia, die Mutter des Tiberius, an, die durch ihre Klagen ihren Sohn zu maßlosem Ehrgeiz angestachelt haben soll, und zum anderen habe Tiberius feststellen müssen, dass ein etwa gleichaltriger Konkurrent ihn an Ansehen und Ruhm weit überholt habe und Tiberius sich deshalb auf ein gewagtes, aber vielversprechendes politisches Unternehmen eingelassen habe. Als Hauptmotiv für das Ackergesetz sieht Plutarch allerdings das Volk an, das Tiberius in Inschriften an öffentlichen Gebäuden und Denkmälern aufforderte, der armen Bevölkerung den Staatsgrund zurückgeben.[1]

Dass sein politisches Projekt jedoch nicht neu war, sondern schon von anderen Mitgliedern der Nobilität verfolgt wurde, zeigt der Versuch des Konsuls Gaius Laelius, der 140 v. Chr. ein Ackergesetz verabschieden wollte. Aber aufgrund des Widerstandes vieler Senatoren ließ er sein Vorhaben wieder fallen. Dennoch erhellt es, dass zum einen die Idee einer Ackerreform des Tiberius Gracchus nicht unbekannt in Rom war, aber zum anderen verdeutlicht der vorige Fehlversuch des Gaius Laelius, dass Tiberius mit starkem Widerstand von Seiten des Senates rechnen musste.

Mächtige Senatoren, die offenbar selbst durch eine Ackerreform wenig zu verlieren hatten, wählten den ehrgeizigen jungen Gracchus als ihr Instrument. Hätte Gracchus Erfolg gehabt, wäre er politisch rehabilitiert gewesen; andererseits hätte ein Scheitern Schande über seine Familie gebracht und seine Karriere definitiv beendet. Er musste alles auf das Gelingen seines Vorhabens setzen. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich die folgenden Ereignisse richtig einordnen.

Der Reformkreis

Wieder nach Rom zurückgekehrt, schloss sich Tiberius Gracchus dem Reformkreis um den princeps senatus Appius Claudius Pulcher an, welcher auch sein Schwiegervater wurde. Trotz seiner jungen Jahre wurde Tiberius schon bald zu dessen aktivstem Mitglied. Dem Kreis gehörten angesehene Mitglieder der römischen Nobilität an, so etwa Publius Mucius Scaevola und Publius Licinius Crassus Dives Mucianus. Die Reformer hatten sich vor allem zum Ziel gesetzt, den ager publicus, den im Eigentum des römischen Staates befindlichen Landbesitz, neu zu verteilen. Während Bernstein die drei Männer als die ursprünglichen Urheber des Gesetzes sieht, die Tiberius für ihre Sache gewinnen konnten,[2] geben die beiden Hauptquellen von Plutarch und Appian nur her, dass sie lediglich als Berater des Tiberius zur Seite standen.[3][4] Diese Ansicht vertritt auch David Stockton, der Tiberius als vorausschauenden Politiker bezeichnet, der sich des Widerstandes der Großgrundbesitzer sicher war und deshalb im Voraus bewusst einflussreiche Männer aus der Nobilität für sich zu gewinnen suchte.[5] Über die Größe des Reformerkreises können aus den Berichten Plutarchs und Appians keine Rückschlüsse gezogen werden. Klaus Meister geht, ähnlich wie P. A. Brunt und Christian Meier, von einem kleinen Kreis isolierter Adliger aus,[6] während Donald C. Earl den Kreis der Unterstützer erheblich größer fasst und dies mit der Verbindung des Tiberius mit den anderen einflussreichen Familienmitglieder der Claudii, Pulchrii, und Mucii Scaevolae begründet.[7]

Die Agrarwirtschaft als Reformobjekt

Der ager publicus war durch die Kriege Roms in Italien enorm gewachsen, denn die Römer annektierten bis zu einem Drittel der Fläche der von ihnen besiegten italischen Stämme und verleibten diesen Boden ihrem Staatsgebiet ein. Wurden diese Böden zu Beginn der italischen Expansion noch in einzelnen Bauernstellen an die eigenen Bürger als Kolonisten abgegeben, setzte sich bald nach 180 v. Chr. die Praxis der Okkupation dieser Ländereien durch. Dies bedeutete, dass der ager publicus – gegen Erstattung einer festgesetzten, einmalig zahlbaren Grundgebühr – von jedermann zur Bewirtschaftung in Besitz genommen werden konnte. Hiervon profitierten vor allem die vermögenden Klassen der römischen Bevölkerung, also die Senatoren und Ritter und die obersten Census-Klassen. Dem einfachen Volk war eine Okkupation meist schon aus Mangel an den nötigen finanziellen und sachlichen Mitteln unmöglich. Zwar war eine Obergrenze für die Landinbesitznahme gesetzt worden, diese war aber überaus großzügig bemessen und führte eher dazu, dass den Mitgliedern der herrschenden und vermögenden Klassen ein Teil des ager publicus bereitstand, als dass hierdurch die unteren Schichten zum Zuge kamen. Aber auch die reichsten Mitglieder der Nobilität waren auf die Nutzung des ager publicus nicht angewiesen und scheinen - anders, als man früher glaubte - kaum auf ihn zurückgegriffen zu haben.

Die derart vergebenen öffentlichen Ländereien gingen somit praktisch in Privatbesitz über, und alsbald verfestigte sich dieser Zustand derart, dass der ager occupatorius vererbt, beliehen und verschenkt wurde wie privates Eigentum.

Viele Historiker folgen der Interpretation der antiken Quellen und bieten daher folgende Rekonstruktion: Eine neue und faire Aufteilung des ager publicus sollte demnach nach dem Willen der Reformer zweierlei erreichen. Zum einen sollte sie weite Teile der römischen Bevölkerung aus Armut und Besitzlosigkeit befreien, die sie zu Abhängigen von staatlichen Kornlieferungen machte und sie in die übervölkerten Armenviertel der Stadt zog, zum anderen sollte so der existenzbedrohende Mangel an wehrfähigen Männern behoben werden. Seit dem Ende des 3. Punischen Krieges war die Zahl der im Census erfassten römischen Bürger von 337.000 auf unter 318.000 gesunken, mit der Folge, dass nicht mehr ausreichend Soldaten für die Legionen zur Verfügung standen, um die kräftezehrenden und zermürbenden Kriege gegen die Aufstände in den Provinzen (vor allem in Spanien) zu führen. Da nach der damaligen Wehrverfassung nur solche Bürger zum Dienste in der Legion eingezogen wurden, die über ausreichend Vermögen verfügten, um ihre Ausrüstung und Bewaffnung selbst zu stellen, konnte man hierzu auch nicht auf die besitzlosen Bürger (capite censi) zurückgreifen, welche in Massen in die Stadt Rom zogen. Eine entsprechende Änderung der Wehrverfassung sollte erst gut dreißig Jahre später durch die Heeresreform des homo novus Marius eingeführt werden.

In jüngerer Zeit haben allerdings Althistoriker wie Klaus Bringmann Zweifel an dieser Version geäußert: Kaum 50 Jahre vor Tiberius Gracchus gab es so viel ager publicus und so wenig landlose Interessenten, dass man die Möglichkeit, das Land einfach zu besetzen, überhaupt erst eingeräumt und zugleich die Gründung von Bürgerkolonien zunächst eingestellt hatte. Auch seien in der Regel nicht Bauern, sondern nur deren jüngere Söhne eingezogen worden; die Kriege könnten also kaum zu einer Agrarkrise geführt haben, da im Gegenteil tendenziell gerade jene im Feld starben, die auf dem Hof überzählig waren. Die Menschen hätten ihre Höfe meist freiwillig aufgegeben, da sie in der rasant wachsenden Großstadt Rom auf ein besseres Leben hofften; eine Landreform hätte daran wenig ändern können. Und drittens werden die scheinbar so edlen Motive der Reformer heute vermehrt in Frage gestellt: Nach Ansicht einiger Forscher wie Ulrich Gotter wollten diese die Reform dazu nutzen, jene Rivalen, die in den vergangenen Jahren viel vom ager publicus besetzt hatten, zu schwächen, da sie selbst - durchgängig Mitglieder der reichsten Familien - offenbar über andere Formen von Besitz verfügten. Es ging, folgt man dieser Hypothese, also in Wahrheit nie um eine Entlastung der Armen, sondern um aristokratische Streitigkeiten innerhalb der Nobilität. Dies könnte die überraschende Kompromisslosigkeit beider Seiten erklären. Der Ausgang der Forschungsdiskussion ist offen.

Das Volkstribunat 133 v.Chr.

Den Reformern jedenfalls gelang es, für das Jahr 133 v. Chr. einige ihrer Mitglieder in einflussreiche Ämter wählen zu lassen. Tiberius Gracchus wurde für dieses Jahr zum Volkstribun gewählt, Publius Mucius Scaevola gar zum Konsul. Man kam überein, dass die erfolgversprechendste Vorgehensweise bei der Durchsetzung der Reform der Weg über die Volksversammlung (concilium plebis) sei. Obwohl sich im Senat keine Mehrheit für die gracchischen Pläne fand, brachte der Tribun das Gesetz, welches wohl ein älteres aufgriff (lex Licinia), entgegen dem Herkommen direkt vor das Volk. Dies war höchst unüblich, da normalerweise innerhalb der Aristokratie ein Konsens erzielt worden sein musste, bevor man das Volk um Zustimmung bat: Da die römische Verfassung zahlreiche Instrumente bereit hielt, mit denen eine Minderheit Beschlüsse verhindern konnte, war man im Grunde darauf angewiesen, sich zu einigen. Gracchus ignorierte dies - mit fatalen Folgen.

Die lex Sempronia agraria

Ursprünglich sah das zur Umsetzung der Reformen ausgearbeitete Gesetz, die lex Sempronia agraria, vor, dass der ager publicus neu zu vergeben sei. Die derzeitigen Besitzer des ager publicus sollten 500 iugera Land als Eigentum für sich behalten dürfen, der Rest sollte aber zur Einziehung und Neuverteilung an die besitzlosen Bürger herangezogen werden. Die zu vergebenden neuen Bauernstellen sollten je 30 iugera umfassen und gegen eine an den Staat zu zahlende Gebühr vergeben werden. Die Veräußerung des Landes war den Neubauern untersagt, hiermit sollte gewährleistet werden, dass das Land nicht binnen kurzer Zeit von Großgrundbesitzern zurückgekauft wurde.

Zur Umsetzung dieser Vorgaben sollte eine Dreimännerkommission eingesetzt werden, welche die Reformer aus ihren Reihen zu besetzen gedachten. Da die Arbeit der Kommission eine beträchtliche Menge an Geldmitteln erfordern würde, nutzten sie die Gelegenheit der Stunde, welche sich durch den Tod des Königs Attalos von Pergamon bot. Dieser hatte sein Reich dem römischen Staat vermacht, das Erbe sollte nach dem Willen der Reformer nun zur Finanzierung der Arbeit der Kommission dienen.

Das Gesetzeswerk ist noch während des Verfahrens verändert worden, um den Bedenken und Einwendungen der betroffenen Landbesitzer zu begegnen und größere Ungerechtigkeiten zu vermeiden. So wurde den Okkupatoren laut Appian gestattet, bis zu 1000 iugera Land (500 iugera für den pater familias und jeweils 250 iugera für die ersten beiden Söhne) als privates Eigentum behalten zu dürfen. Aufwendungen oder Investitionen, welche sie in das zurückzugebende Land getätigt hätten, sollten dem Wert nach ersetzt werden.

Der Kampf in der Volksversammlung

Das übliche Gesetzgebungsverfahren dieser Zeit sah, wie erwähnt, vor, zunächst die - theoretisch nicht bindende, faktisch aber unverzichtbare - Zustimmung des Senats einzuholen, bevor man den Entwurf dem Volk zur Abstimmung vorlegte. Gracchus nun provozierte seine Gegner unter den Senatoren, indem er das Gesetz ohne vorherige Zustimmung des Senats vor das Volk brachte. Das Ackergesetz, welches Tiberius Gracchus der Volksversammlung (concilium plebis) zur Beratung und Verabschiedung vorlegte, verteidigte und begründete er mit großer Beredsamkeit und Verve. Plutarch lässt ihn in seinen Doppelbiographien wie folgt zu Worte kommen:

Die wilden Tiere, die Italien bevölkern, haben ihre Höhlen, und für jedes von ihnen gibt es eine Lagerstätte, einen Schlupfwinkel. Die Männer aber, die für Italien kämpfen und sterben, haben nichts als Luft und Licht; unstet, ohne Haus und Heim ziehen sie mit Kindern und Frauen im Land umher. Die Feldherren lügen, wenn sie in der Schlacht ihre Soldaten aufrufen, Gräber und Heiligtümer gegen die Feinde zu verteidigen: Keiner dieser armen Römern hat ja einen väterlichen Altar, keiner ein Grab seiner Ahnen. Für Wohlleben und Reichtum anderer kämpfen und sterben sie. Herren der Welt werden sie genannt – in Wirklichkeit gehört ihnen aber kein Krümel Erde.

Es ist nicht nur umstritten, ob Plutarch hier wirklich Gracchus zitiert, sondern auch, ob derlei oder ähnliche Argumente, die sicherlich vorgebracht wurden, nicht die eigentlichen Intentionen des Volkstribuns verschleierten. Das Gesetz traf jedenfalls auf den erbitterten Widerstand weiter Kreise des Senats. Die Gegner der Reform griffen daher zu einem jener Verhinderungsmittel, die die Verfassung ihnen für solche Fälle an die Hand gab: Ein Kollege des Tiberius Gracchus im Amt des Volkstribuns, Marcus Octavius, verhinderte im Auftrag der Gegner die Verabschiedung des Reformgesetzes durch die Volksversammlung durch Einlegung seines Vetos (Interzession). Dieser Schritt war kaum überraschend. Doch damit war Gracchus gescheitert. Eben dies konnte er sich aber, wie gesagt, unmöglich erlauben, da es seine Karriere beendet und Schande über seine Familie gebracht hätte. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und konnte jetzt nicht aufgeben.

Was folgte, war daher der erste offene Verfassungsbruch. Tiberius Gracchus und seine Anhänger ließen sich nun zu dem einmaligen und verfassungswidrigen Schritt hinreißen, den Volkstribun Octavius durch Plebiszit (Beschluss des concilium plebis) abzusetzen. Ein Volkstribun, der seine ihm durch das Volk und zum Wohle des Volkes verliehene Macht gegen den erklärten Willen des Volkes einsetze, müsse auch durch die Volksversammlung abgesetzt werden können, argumentierte Gracchus. Damit stellte er aber das lange Zeit so selbstverständliche Konsensprinzip der römischen Innenpolitik radikal in Frage, da er ja das Vetorecht aushebelte. Es ging nun nicht mehr nur um die Bodenreform, es ging nun um die Frage, wie in Rom künftig Politik gemacht werden solle.

Kurzfristig hatte Gracchus Erfolg. Nachdem das Plebiszit über die Absetzung des Octavius erfolgreich war, konnten die Reformer ihr Ackergesetz durchsetzen, und die zu bestellende Ackerkommission wurde zunächst mit Tiberius Gracchus, dem princeps senatus Appius Claudius Pulcher (einem der reichsten Männer seiner Zeit und die treibende Kraft hinter Gracchus) und einem dritten Reformer besetzt. Jahre später rückte der jüngere Bruder des Tiberius nach, Gaius Sempronius Gracchus. Die Umsetzung des Reformgesetzes wurde zunächst durch die Senatsmehrheit dadurch erschwert, dass man sich weigerte, die zur Bildung der Ackerkommission notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Tiberius Gracchus umging diesen Widerstand durch einen ebenfalls rechtswidrigen Akt, indem er das kurz zuvor dem römischen Staat vermachte Attalosvermögen per Plebiszit eigenmächtig zur Heranziehung freigab - hierüber hätte eigentlich der Senat zu entscheiden gehabt. Gracchus brach also ein weiteres Mal die Verfassung und provozierte seine Gegner noch mehr.

Das Scheitern der Reformbewegung

Auf der Wahlversammlung Mitte des Jahres 133 v. Chr. stellte sich Tiberius Gracchus schließlich für eine zweite Amtszeit als Volkstribun zur Wahl, da er befürchtete, ohne dieses Amt werde die Arbeit der Ackerkommission durch deren Gegner unmöglich gemacht werden und - wichtiger - er selbst schutzlos den Anklagen wegen des von ihm begangenen Verfassungsbruchs gegenüber stehen (nach römischem Recht verlieh ein Amt Immunität gegen Strafverfolgung). Dies stellte einen dritten schweren Rechtsbruch dar, da zwischen zwei Ämtern oder Amtszeiten üblicherweise immer eine ämterlose Zeit zu liegen hatte, um überhaupt rechtliche Schritte gegen Magistrate zu ermöglichen. Es schien seinen Feinden, als wolle Gracchus eine Gewaltherrschaft, gestützt auf die Volksmenge, errichten. Die Reformgegner im Senat verlangten daher vom Konsul, Gracchus zu inhaftieren. Als dieser sich weigerte, beschlossen sie, unter Führung seines Cousins Publius Cornelius Scipio Nasica Serapio dem Treiben des Volkstribuns selbst gewaltsam ein Ende zu setzen, da über die eigentliche Reform hinaus eine dauerhafte Verlagerung der Macht vom Senat auf die Volksversammlung bzw. den Volkstribun befürchtet wurde. Als Zeichen, dass der Senat die Republik in Gefahr sah, legten seine Mitglieder Trauergewänder an. Tiberius hingegen zeigte sich als Antwort darauf nur noch bewaffnet in der Öffentlichkeit. Eine weitere Eskalation der Situation war somit bereits vorbestimmt. Eine friedliche Lösung war längst ausgeschlossen.

Die bei Volksversammlungen nicht unüblichen handgreiflichen und tumultartigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Parteien und Gruppen wurden durch das gezielt verbreitete Gerücht, Tiberius Gracchus strebe nach der Königskrone, derart gesteigert, dass es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der Senatsmehrheit und denen der Reformer kam. Scipio Nasica und seine Anhänger bewaffneten sich mit Stuhlbeinen und stürmten die Volksversammlung; Tiberius Gracchus und etwa 300 seiner Anhänger wurden erschlagen. Die Leiche des Tiberius Gracchus wurde in den Tiber geworfen. Die Reformgegner hatten gesiegt. Überlebende Anhänger des Tiberius Gracchus wurden später durch ein Sondergericht belangt.

Damit waren die Reformen des Tiberius Gracchus mittelfristig zum Scheitern verurteilt. Zwar wurde der Großteil seiner Gesetze nicht sofort rückgängig gemacht, sie wurden aber nicht mehr in seinem Sinne vorangetrieben. In den folgenden Jahren wurde die Parzellierung von ager publicus beendet, die dafür eingesetzte Ackerkommission verlor ihre Zuständigkeit und wurde schließlich 111 v. Chr. durch eine weitere lex agraria aufgelöst. Im Übrigen enthielt der Plan des Tiberius einen gewichtigen Fehler, der sich im Verlauf der Verwirklichung des Gesetzes offenbarte: Tiberius hatte stets darauf gedrungen, die Parzellen nur an römische Bürger zu verteilen. Dies schürte einen Konflikt zwischen Rom und seinen Bundesgenossen in Italien, die im Krieg Seite an Seite mit den römischen Legionären kämpften. Dass Gracchus sie nicht berücksichtigt, sondern nur an die in der Volksversammlung stimmberechtigten Römer, die seine Machtbasis gegenüber dem Senat bildeten, gedacht hatte, verdeutlicht wohl die Eigennützigkeit und den innenpolitischen Fokus seines Handelns.

Tiberius’ jüngerer Bruder Gaius Gracchus griff die Pläne des Ermordeten im Jahr 123 v. Chr. wieder auf, wurde aber 121 v. Chr. gewaltsam aus Rom vertrieben und ließ sich in aussichtsloser Lage auf der Flucht durch einen Sklaven töten. Zehn Jahre nach dem Tod seines Bruders waren die von den beiden errungenen Teilerfolge damit gänzlich zunichte gemacht; stattdessen hatten mit den Gracchen Verfassungsbruch und Gewalt Einzug in Rom gehalten, und ein unheilbarer Riss innerhalb der Nobilität war entstanden.

Nachwirken und Bedeutung

Das kurze politische Wirken des Tiberius Gracchus, welches stets im Gesamtzusammenhang mit der Politik seines Bruders Gaius bewertet werden muss, ist von enormer Bedeutung für die weitere Entwicklung der römischen Republik, führte es doch, wie Cicero bemerkte, zur Spaltung der römischen Gesellschaft. Die erstmals in diesem Zusammenhang auftauchenden Begriffe Optimaten und Popularen, als Bezeichnung für die Anhänger und Vertreter einer Politik der Senatsmehrheit bzw. einer Politik durch Plebiszite der concilia plebis, sollten in den nächsten Jahrzehnten das bestimmende Gegensatzpaar in der innerrömischen Politik bilden. Im Gedächtnis der römischen Bevölkerung kam den Gracchen, dem charismatischen Tiberius mehr noch als seinem jüngeren Bruder, ein ehrendes Andenken zu. Hierzu trug auch die nach dem Tod der Söhne vorbildliche Haltung und Lebensführung der Cornelia bei, welche alsbald als Musterbild einer Matrona verehrt wurde. Auch gelang es zeitweise einem Hochstapler, der sich als Sohn des Tiberius Gracchus ausgab, den Ruf der Gracchen zu benützen, um politischen Einfluss bei der Plebs zu gewinnen und Unruhe zu schüren (Volkstribun im Jahre 99 v. Chr.).

Die ältere Altertumswissenschaft (so etwa Theodor Mommsen) hat das Jahr 133 v. Chr., in dem Tiberius Gracchus das Volkstribunat bekleidete, als Epochenjahr bewertet und mit ihm den Beginn der Römischen Revolution datiert. In der neueren Forschung (so etwa Karl Christ) wird diese Auffassung wegen ihrer Begrifflichkeit (Revolution) und scheinbaren Außerachtlassung der gesellschaftlichen und sozialen Vorbedingungen oft abgelehnt. Die gescheiterten Reformen der Gracchen bilden aber unbestritten den ersten offenen Ausbruch der Krise (so Christ), welche oft als Zeitalter der römischen Bürgerkriege bezeichnet wird und die über die Diktatur des Sulla, die großen außerordentlichen Kommandos (Imperien) des Pompeius, des Caesar und des Crassus zum offenen Kampf und dem Ende der Republik und Übergang ins Prinzipat des Augustus führte.

Einzelnachweise

  1. a b Plutarch, Tiberius Gracchus 8
  2. Alvin Bernstein: Tiberius Sempronius Gracchus. Tradition and apostasy, Ithaca 1978, S. 119.
  3. Plutarch, Tiberius Gracchus 9
  4. Appian, Bellum civile I, 13, 55.
  5. David Stockton: The Gracchi, Oxford 1979, S. 40f.
  6. Klaus Meister: Einführung in die Interpretation historischer Quellen, Schwerpunkt Antike, Bd. 2 Rom, Paderborn 1999, S. 134
  7. Donald C. Earl: Tiberius Gracchus. A study in politics, Brüssel-Berchem 1963, S. 7-15.

Quelle

  • Plutarch: Große Griechen und Römer. Band 6, Tiberius Gracchus, S. 237-259.
  • Appian: Bellum Civile I, 7-17, in: Appian von Alexandria. Römische Geschichte, zweiter Teil, Die Bürgerkriege (Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 27), Übers. von Otto Vehl, Stuttgart 1989, S. 17-24.

Literatur

  • Jochen Bleicken: Überlegungen zum Volkstribunat des Tiberius Sempronius Gracchus. In: Historische Zeitschrift. 247, 1988, S. 165–293.
  • Klaus Bringmann: Die Agrarreform des Tiberius Gracchus. Legende und Wirklichkeit. Steiner-Verlag-Wiesbaden-GmbH, Stuttgart 1985, ISBN 3-515-04418-3 (Frankfurter historische Vorträge 10).
  • Karl Christ: Krise und Untergang der römischen Republik. 4. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, ISBN 3-534-14518-6.
  • Herbert Heftner: Von den Gracchen bis Sulla. Die römische Republik am Scheideweg 133–78 v. Chr. Pustet, Regensburg 2006, ISBN 3-7917-2003-1.
  • Karl-Joachim Hölkeskamp, Elke Stein-Hölkeskamp (Hrsg.): Von Romulus zu Augustus. Große Gestalten der römischen Republik. Beck, München 2000, ISBN 3-406-46697-4.
  • Claude Nicolet (Hrsg.): Les Gracques ou Crise agraire et révolution à Rome. Gallimard/Juillard, Paris 1990, ISBN 2-07-022917-3 (Collection Archives 33).
  • Raimund Ottow: Die Gracchen und ihre Rezeption im politischen Denken der frühen Neuzeit. In: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches Öffentliches Recht. 42. Bd., 2003, S. 557–581.
  • Hermann Rieger: Das Nachleben des Tiberius Gracchus in der lateinischen Literatur. Habelt, Bonn 1991, ISBN 3-7749-2510-0 (Zugleich: Münster, Univ., Diss., 1990).
  • David Stockton: The Gracchi. Clarendon Press, Oxford 1979, ISBN 0-19-872105-6 (Auch Nachdrucke).
  • Fritz Taeger: Untersuchungen zur römischen Geschichte und Quellenkunde. Tiberius Gracchus. Kohlhammer, Stuttgart 1928.

Weblinks


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