Trutzhain

Trutzhain
Trutzhain
Koordinaten: 50° 54′ N, 9° 16′ O50.9027777777789.2738888888889230Koordinaten: 50° 54′ 10″ N, 9° 16′ 26″ O
Höhe: 230 m ü. NN
Einwohner: 827 (2001)
Eingemeindung: 1951
Postleitzahl: 34613
Vorwahl: 06691
Trutzhain von Osten

Das hessische Dorf Trutzhain ist seit dem 31. Dezember 1970 Stadtteil von Schwalmstadt im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis. 1948 wurde aus dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager Stammlager Ziegenhain die Flüchtlingssiedlung Trutzhain. Am 1. April 1951 wurde Trutzhain die damals jüngste hessische Gemeinde.

Inhaltsverzeichnis

Ursprung als Gefangenenlager

Während des Zweiten Weltkrieges errichtete das NS-Regime auf dem Gebiet des heutigen Trutzhain das Stammlager StaLag IX A für Kriegsgefangene (September 1939 bis März 1945). Das Lager bestand zunächst nur aus Zelten, ab Ende 1940 dann aus festen Fachwerk-Baracken für 6000–8000 Gefangene. Unter diesen war von 1940 bis 1941 der spätere französische Staatspräsident François Mitterrand.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen im StaLag IX A hatten geringe Überlebenschancen. Die meisten starben an Unterernährung und Infektionen. Die Leichen wurden zum Teil im naheliegenden Wald verscharrt. Auf dem später angelegten Waldfriedhof, an der ungefähren Stelle der im Mittelalter wüst gefallenen Siedlung Trutzhain (Wüstung), befindet sich ein Denkmal für die Toten des Lagers.

Nach der Befreiung des Lagers am 30. März 1945 diente das ehemalige StaLag der US-Army zunächst als Civil Internment Camp 95 (CIC 95) zur Unterbringung von Mitgliedern der Waffen-SS, der NSDAP, SA und SS, Wehrmachtssoldaten sowie Frauen. Das Lager bestand bis zum Sommer 1946.

Anfang August 1946 richtete die US-Army in den leerstehenden Baracken das DP-Lager 95-443 Ziegenhain ein. Für die Displaced Persons (DP) wurde es zur Durchgangsstation für die ersehnte Ausreise nach Palästina, Großbritannien, Kanada, Australien, Südamerika oder in die USA. Durchschnittlich belief sich die Belegzahl des DP-Lagers, das Ende November 1947 aufgelöst wurde, auf 2000 Personen. Dem Lager angeschlossen war ein TBC-Sanatorium in Steinatal (1946-1947).

Gründung des Orts Trutzhain

Im Januar 1948 pachtete der damalige Kreis Ziegenhain das Gelände des ehemaligen STALAG IX A für fünf Jahre, um dort Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, dem Sudetenland und anderen Gebieten im Osten eine Unterkunft zu bieten. Im Frühjahr 1948 erfolgten die ersten Einweisungen. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich die „Flüchtlingssiedlung“ in einen florierenden Handwerks-, Gewerbe- und Industriestandort, das erste Gewerbegebiet im Kreis Ziegenhain. Der Ort erhielt den Beinamen "Ruhrpott der Schwalm", weil die rund 500 Flüchtlinge und Vertriebenen in kürzester Zeit Betriebe gründeten und über 200 Arbeitsplätze schufen.

Am 1. April 1951 wurde aus dem einstigen Lager eine selbständige Gemeinde. Ihre Gemarkung, nur 50 Hektar groß, wurde aus einem Teil der Gemarkung Steina gebildet, und benannt wurde sie nach der nahen Wüstung Trutzhain. Mit Wirkung vom 31. Dezember 1970 wurde der Ort ein Stadtteil von Schwalmstadt.

Die Hauptstraße der Ortschaft ist noch heute von den ehemaligen Lager-Baracken gesäumt, die nun objektsaniert als Wohnhäuser dienen. Durch ihre Privatisierung an die Heimatvertriebenen wurden die Bauwerke bis heute erhalten. Seit 1983 gibt es in Trutzhain eine Gedenkstätte mit Museum, die die Vergangenheit des Ortes dokumentiert. Sie wird von einer Historikerin und einer Gruppe Freiwilliger betreut.

Kirchliches Leben und Brauchtum

Wallfahrtskirche Maria-Hilf

Seit 1949/1950 wird an jedem ersten Sonntag im Juli die Quinauer Wallfahrt in Trutzhain begangen. Heimatvertriebene aus Komotau (Tschechien) hatten diese Wallfahrt bereits zur Zeit der Flüchtlingssiedlung, noch vor der Gemeindewerdung, mit nach Trutzhain gebracht. In der von ihnen schon 1949 errichteten Wallfahrtskirche Maria-Hilf war das Gnadenbild der schwangeren Madonna zu sehen; seit 1965 befindet es sich in dem in diesem Jahre eingeweihten Neubau der Kirche.

2006 wurde der Pfarrverbund Maria Hilf Schwalmstadt errichtet. Ihm gehören vier katholische Pfarrkuratien und drei Seelsorgestellen im Altkreis Ziegenhain an. Die Quinauer Wallfahrt in Trutzhain ist seitdem auch Pastorlaverbundswallfahrt. Die Wallfahrt wird in Trutzhain und im tschechischen Květnov gefeiert, und beide Gemeinden stehen miteinander in Kontakt.

Trutzhain ist als Wallfahrtsort und die Maria-Hilf-Kirche ist als Wallfahrtskirche kirchenrechtlich anerkannt. Die Gründung des Klosters durch den Orden der Oblaten Maria Immaculata (OMI) 2009 in Schwalmstadt-Ziegenhain ist auf die Wallfahrt in Trutzhain zurückzuführen.

Die Evangelische Kirchengemeinde traf sich zunächst in einer improvisierten Lagerkirche und konnte 1957 ihre neu errichtete Kirche einweihen. Das von der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) errichtete "Evangelische Pfarramt Steinatal in Trutzhain" war auch für das nahe Dorf Steina und für die Melanchthonschule Steinatal der EKKW zuständig.

Trutzhain ist Sitz des Zweigvereins Hessen des Mährisch-Schlesischen Sudetengebirgsvereins. Zu ihm gehört auch das Wanderheim Hergertsmühle im Knüllgebirge bei Neukirchen-Seigertshausen.

Frieden und Aussöhnung

Im Rahmen eines ökumenischen Festgottesdienstes reichten sich 1970 in der Wallfahrtskirche Maria-Hilf ehemalige Kriegsgegner die Hände. Auf Einladung der Kyffhäuserkameradschaft Trutzhain besuchten ehemalige französische Kriegsgefangene erstmals Trutzhain. Seitdem entstanden viele Kontakte zwischen heimatvertriebenen Trutzhainern und ehemaligen französischen Kriegsgefangenen. Durch die Zusammenarbeit entstand 1983 das "Museum für den Frieden".

Durch die heimatvertriebenen Pilger entstanden auch schon früh Kontakte zwischen der Trutzhainer Kirchengemeinde und denen in Görkau/Jirkov und Komotau. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 pilgerten Heimatvertriebene auch wieder nach Quinau/Květnov zur Wallfahrt. 2005 besuchte erstmals eine Jugendgruppe aus dem Kreis Komotau Trutzhain. 2008 nahm erstmals auch ein Pfarrer aus Květnov an der Wallfahrt in Trutzhain teil.

Entsprechende Versöhnungsarbeit und Kontakte zu den Familien der im Lager umgekommenen Bürger der UdSSR fielen schwerer. Erst spät begann man mit Versuchen, die Namen der sowjetischen Lagerinsassen zu ermitteln. Glücklicherweise bauten kirchliche Denkschriften und die Ostpolitik der Bundesregierung in den 1970er Jahren Brücken für Begegnungen.

Persönlichkeiten

  • Martin Grzimek (* 8. April 1950 in Trutzhain), Schriftsteller
  • Horst Munk (†), 2003 Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland für die Aussöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern
  • Pierre Dentin (* 12. August 1911; † 9. Mai 2000), Kriegsgefangener, Seelsorger und Vertrauensmann der französischen Kriegsgefangenen und Initiator der Aussöhnung zwischen den französischen Kriegsgefangenen und den Heimatvertriebenen Trutzhainern, Mitbegründer des Museums für den Frieden in Trutzhain 1983, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland 1985, Straßenbenennung "Abbé-Pierre-Dentin-Allee" 2001.

Literatur

  • Andreas Kossert: Kalte Heimat Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Siedler Verlag, München 2008. 431 Seiten, ISBN 978-3-88680-861-8.
  • Martin Grzimek: Trutzhain, ein Dorf. Carl Hanser Verlag, 1984, ISBN 3-446-14001-8.
  • Filz, Ley, Munk, Scholz, Steidl: Chronik von Trutzhain 1951 - 2001. Herausgeber: Stadt Schwalmstadt 2001.
  • Martha Kent: Eine Porzellanscherbe im Graben - Eine deutsche Flüchtlingskindheit. Fischer Verlag, 2. Auflage Nov. 2004, ISBN 3-596-16442-7
  • Katholische Pfarrkuratie Maria-Hilf: Quinauer Wallfahrt in Trutzhain. Herausgeber: Katholische Pfarrkuratie Maria-Hilf, 2003.

Weblinks


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