Walther von Seydlitz-Kurzbach

Walther von Seydlitz-Kurzbach
Walther von Seydlitz-Kurzbach (links) mit Friedrich Paulus in der Sowjetunion, 1942

Walther von Seydlitz-Kurzbach (* 22. August 1888 in Hamburg; † 28. April 1976 in Bremen) war ein deutscher General der Artillerie und Präsident des Bundes deutscher Offiziere. Er warb in der Gefangenschaft für ein Anti-Hitler-Korps auf Seiten der Alliierten aus den gefangenen deutschen Soldaten.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Ausbildung und Aufstieg

Seydlitz-Kurzbach stammte aus dem Geschlecht der Herren und Freiherren v. Seydlitz sowie der Grafen v. Seidlitz, das Anfang des 13. Jahrhunderts erstmals erwähnt wurde. Zahlreiche Angehörige der Familie dienten in der preußischen Armee. Bekannt wurden unter anderem Friedrich Wilhelm von Seydlitz-Kurzbach (1721–1773), General der Kavallerie unter Friedrich dem Großen und Major Florian von Seydlitz, Adjutant des späteren Generalfeldmarschalls York von Wartenburg.

Seydlitz-Kurzbach war der Sohn eines Generalleutnants in der preußischen Armee. Er besuchte die Schule in den verschiedenen Garnisonstädten seines Vaters, legte 1908 das Abitur ab und wurde anschließend preußischer Fahnenjunker in einem Feldartillerie-Regiment in Danzig. Nach Abschluss der Kriegsschule wurde er 1910 Leutnant.

Er nahm als Offizier am Ersten Weltkrieg an beiden Fronten teil, 1916/17 im Westen an der Somme und 1918 im Osten in Danzig. 1915 wurde er zum Oberleutnant, 1917 zum Hauptmann befördert. Er erhielt beide Eiserne Kreuze, das Verwundetenabzeichen in Silber und 1918 das Ritterkreuz des Königlichen Hausordens von Hohenzollern.

In der Weimarer Republik blieb Seydlitz als Berufsoffizier in der Reichswehr. Er wurde 1919 im Grenzschutz Ost als Adjutant einer Feldartillerie-Brigade, 1920 als Regimentsadjutant in Schwerin und um 1925 als Chef einer Ausbildungs-Batterie auch in Schwerin eingesetzt. Ab 1929 war er als Adjutant beim Chef des Heeres-Waffenamtes im Reichswehrministerium tätig. 1930 wurde er zum Major befördert und 1933 als Kommandeur eines berittenen Artillerie-Regiments nach Verden versetzt, wo seine Familie bis in die Nachkriegsjahre wohnte. 1934 erfolgte seine Beförderung zum Oberstleutnant und 1936 die Beförderung zum Oberst sowie seine Ernennung zum Kommandeur des in Verden neu aufgestellten Artillerie-Regiments 22 der 22. Infanterie-Division.

Im Zweiten Weltkrieg

Am Zweiten Weltkrieg nahm er zunächst an der französischen Front als Artilleriekommandeur 102 (Arko 102) teil und wurde im Dezember 1939 zum Generalmajor befördert. Im März 1940 übernahm er den Befehl über die 12. Infanteriedivision, die er im Westfeldzug führte. Am 31. Dezember 1940 wurde er mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet. Seine Division blieb bis 1941 als Besatzungstruppe in Frankreich.

1941 wurde seine Division nach Osten verlegt und beim Angriff auf die Sowjetunion im Rahmen der 6. Armee eingesetzt. Am 1. Dezember 1941 wurde er zum Generalleutnant befördert und am 31. Dezember mit dem Eichenlaub zum Ritterkreuz ausgezeichnet. 1942 gab er sein Kommando über die 12. Infanterie-Division ab und wurde im März 1942 Führer der Gruppe Seydlitz. Er erhielt den schwierigen Auftrag, den Kessel von Demjansk, in dem nahezu 100.000 Mann festsaßen, von außen aufzubrechen. Anfang April gelang es, die Landverbindung mit den Eingekesselten wiederherzustellen. Dieser Erfolg trug Seydlitz die Beförderung zum General der Artillerie am 1. Juni 1942 und die Ernennung zum Kommandierenden General des LI. Armeekorps nach Charkow ein.

Stalingrad

Das zur 6. Armee des Generals Friedrich Paulus gehörende Korps wurde ab September 1942 im Rahmen der Schlacht von Stalingrad im Schwerpunkt des deutschen Angriffs auf die Stadt eingesetzt. Als sich am 22. November 1942 im Rücken der Stalingradarmee die sowjetische Zange schloss, war aus dem „Entsetzer“ von Demjansk einer der über 250.000 Eingekesselten geworden. Unter den hochrangigen Stalingrad-Generalen hat keiner so nachdrücklich wie Seydlitz den Ausbruch aus dem Kessel gefordert und zwar auch gegen den Durchhaltebefehl Hitlers. Mit dem Untergang der 6. Armee geriet er am 31. Januar 1943 in sowjetische Kriegsgefangenschaft.

Nach Stalingrad

Sitzung des NKFD; Sitzend:
links: General Seydlitz
rechts: Vorsitzender Erich Weinert

Seydlitz war an der Gründung des Bundes deutscher Offiziere (BDO) am 11./12. September 1943 im Gefangenenlager Lunjowo bei Moskau beteiligt und wurde dessen Präsident. Der BDO blieb als Organisation bis 1945 bestehen. Elf der 22 Stalingrader Generale (darunter auch Generalfeldmarschall Paulus) schlossen sich dem BDO an. Der BDO schloss sich als eigenständige Organisation zwei Monate nach seiner Gründung dem bereits im Juli 1943 gegründeten Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD), ein Zusammenschluss von kriegsgefangenen deutschen Soldaten und Offizieren sowie kommunistischen deutschen Emigranten in der Sowjetunion, an.

Der BDO veröffentlichte am 11./12. September 1943 folgende Grundsatzerklärung:

„Wir, die überlebenden Kämpfer der 6. deutschen Armee, der Stalingradarmee, Generale, Offiziere und Soldaten, wir wenden uns an Euch am Beginn des fünften Kriegsjahres, um unserer Heimat, unserem Volk den Rettungsweg zu zeigen. Ganz Deutschland weiß, was Stalingrad bedeutet. Wir sind durch eine Hölle gegangen. Wie wurden totgesagt und sind zu neuem Leben erstanden. Wir können nicht länger schweigen! Wir haben wie niemand sonst das Recht, zu sprechen, nicht nur im eigenen Namen, sondern im Namen unserer toten Kameraden, im Namen aller Opfer von Stalingrad. Jeder denkende deutsche Offizier versteht, daß Deutschland den Krieg verloren hat. Das fühlt das ganze Volk. Wir wenden uns daher an Volk und Wehrmacht. Wir sprechen vor allem zu den Heerführern, Generalen, den Offizieren der Wehrmacht. In Eurer Hand liegt eine große Entscheidung! Das nationalsozialistische Regime wird niemals bereit sein, den Weg, der allein zum Frieden führen kann, freizugeben. Diese Erkenntnis gebietet Euch, dem verderblichen Regime den Kampf anzusagen und für die Schaffung einer vom Vertrauen des Volkes getragenen Regierung einzutreten. Verweigert Euch nicht Eurer geschichtlichen Berufung! Fordert den sofortigen Rücktritt Hitlers und seiner Regierung! Kämpft Seite an Seite mit dem Volk, um Hitler und sein Regime zu entfernen und Deutschland vor Chaos und Zusammenbruch zu bewahren!“[1]

In zwei Memoranden vom 22. September 1943 und vom 4. Februar 1944 ersuchte Seydlitz die sowjetische Führung, die Aufstellung eines Korps aus deutschen Freiwilligen zu erlauben. Er richtete an Josef Stalin die Bitte, Offizieren und Soldaten der Wehrmacht, die dies wünschen, die Möglichkeit zu geben, mit der Waffe in der Hand ihren Beitrag zur Zerschlagung des Hitlerregimes und zur Beendigung des Krieges zu leisten. Er warb für ein Korps mit etwa 40.000 Mann. Eine „Seydlitz-Armee“ kam jedoch nicht zustande, nicht einmal in Ansätzen. So verblieb es bei propagandischen Aufrufen an die Wehrmachtssoldaten, sich den Sowjettruppen zu ergeben.

Seydlitz beabsichtigte, mit dem geplanten Korps die Rote Armee bei ihrem Kampf mit dem Ziel der Zerschlagung des nationalsozialistischen Deutschland zu unterstützen. Er strebte aber zugleich die Erhaltung Deutschlands in den Grenzen von 1937 unter einer neuen demokratischen Regierung an, der das Korps für Verteidigungszwecke zur Verfügung stehen sollte. Dies war so bereits als Ziel in der Gründungsurkunde des BDO festgelegt: „…3. Verhinderung der Zerstückelung Deutschlands, 4. Erhalt des Heeres für Verteidigungszwecke“. Auch in der an General Melnikow (nicht an Stalin) gesandten Denkschrift über die Aufstellung eines deutschen Truppenteils vom 4. Februar 1944 ist zu lesen, dass ein Einsatz an der Front erst dann vorgesehen sei, „sobald dafür die politischen und psychologischen Voraussetzungen geschaffen werden, d.h. größere deutsche Truppenverbände bereit sind, sich der deutschen Befreiungsarmee anzuschließen, …“

Am 30. Januar 1944 hielt Seydlitz z. B. folgende Ansprache[2]:

„Die 6. Armee ging in Stalingrad zugrunde, weil sie auf Befehl Hitlers in aussichtsloser Lage einen militärisch sinnlosen Widerstand fortsetzte. Hunderttausende von Kameraden, die uns lieb und wert waren, wurden geopfert. […] Es ist nicht unehrenhaft, sondern ein Gebot der Erhaltung unseres Volkes, wenn ihr euch weigert, den Krieg in aussichtsloser Lage weiterzuführen. Verlasst euch nicht auf haltlose Versprechungen. Wir erfüllen das Vermächtnis der toten Kameraden von Stalingrad, wenn wir euch den Weg zur Rettung, zum Leben weisen. Wir Überlebende von Stalingrad sind diesen Weg vorausgegangen, folgt uns zur Errettung und zur Erhaltung unseres Volkes!“

Folgen für Seydlitz

Seine Kooperation mit den Sowjettruppen führte zu seiner Verurteilung zum Tode wegen Hochverrats durch das Reichskriegsgericht sowie zur Sippenhaftung für seine Familie. Seine Frau wurde im Juli 1944 von der Gestapo in das Polizeigefängnis in Bremen überführt, seine beiden Töchter kamen in ein Heim. Im Dezember wurde seine Frau gezwungen, sich von ihm scheiden zu lassen. Die erzwungene Scheidung wurde nach dem Krieg rückgängig gemacht und das Reichskriegsgerichtsurteil aufgehoben. Die Familie wurde um 1945 in Schlesien interniert. Auch die Generalität ächtete Seydlitz.

Nach dem Krieg

Direkt nach Ende des Krieges hoffte man im zerstörten Berlin auf die Möglichkeit, der Aufteilung Deutschlands entgehen zu können. Für diese Variante, die unter dem Namen Seydlitz-Lösung geläufig war[3], hatte sich Stalin eingesetzt.

Im Januar 1949 bat Seydlitz in einem Gesuch um die Repatriierung in die Sowjetische Besatzungszone. Er wurde jedoch nicht freigelassen, sondern der Mitwirkung an Greueltaten und Missetaten gegen die sowjetische Zivilbevölkerung und Kriegsgefangenen angeklagt. Am 8. Juli 1950 verurteilte ihn ein sowjetisches Militärtribunal zum Tode und wandelte das Urteil zu einer Gefängnisstrafe von 25 Jahren um.[4] 1955 wurde er in die Bundesrepublik Deutschland entlassen und kehrte nach Verden zurück. Das Landgericht Verden hob 1956 das Todesurteil aus dem Dritten Reich auf. Nach dem Tod seiner Schwiegermutter zog die Familie Seydlitz nach Bremen um, wo er im Alter von 87 Jahren verstarb. Am 23. April 1996 wurde seine Verurteilung in der Sowjetunion durch die Generalstaatsanwaltschaft Moskau posthum aufgehoben.

Auszeichnungen

Weblinks

Literatur

  • James Donald Carnes: General zwischen Hitler und Stalin. Das Schicksal des Walther v. Seydlitz. Droste, Düsseldorf 1980, ISBN 3-7700-0563-5.
  • Julia Warth: Verräter oder Widerstandskämpfer? Wehrmachtsgeneral Walter von Seydlitz-Kurzbach. Oldenbourg Verlag, 2006, ISBN 978-3-486-57913-0 (Buchbesprechung).
  • Bodo Scheurig: Walther von Seydlitz-Kurzbach - General im Schatten Stalingrads, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, 2. Auflage 1986 PDF-Version

Einzelnachweise

  1. Aus den Memoiren des Generals Walther von Seydlitz, Der Spiegel, Heft 36/1977 vom 29. August 1977
  2. Deutsches Rundfunkarchiv
  3. Darüber berichtet Margret Boveri in Tage des Überlebens. Berlin 1945 auf S. 280: "11. August 1945: Stalin wollte die sogenannte Seydlitz-Lösung durchsetzen - wenn auch vielleicht zum Schluß nicht die Generäle, sondern nur die Kommunisten die Regierung gebildet hätten; und viele hier in Berlin, die wir vor allem die Einheit des Reiches bewahren wollten, sahen darin eine Hoffnung."
  4. Seydlitz schreibt in seinen Erinnerungen, dass ihm am 8. Juli 1950 erst seine Verurteilung zum Tode und bereits 1 ½ Stunden später die Umwandlung der Todesstrafe in 25 Jahre Kerker eröffnet worden ist. „Dieser Gedanke – ich war damals 62 Jahre alt – war so entsetzlich für mich, dass ich das Gericht bat, mich lieber auf der Stelle erschießen zu lassen.“ Seydlitz: Stalingrad – Konflikt und Konsequenz, Stalling Verlag, 1977, S. 373; im Widerspruch hierzu: die Sowjetunion hatte bereits am 25. Mai 1947 die Todesstrafe abgeschafft, führte sie aber laut Solschenizyn im Jahr 1950 wieder ein.
  5. a b c d Rangliste des Deutschen Reichsheeres, Mittler & Sohn Verlag, Berlin, S.129
  6. Veit Scherzer: Die Ritterkreuzträger 1939-1945, Scherzers Militaer-Verlag, Ranis/Jena 2007, ISBN 978-3-938845-17-2, S.703

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