Otto Fleischer

Otto Fleischer

Otto Fleischer (* 30. Januar 1901 in Breslau; † 28. März 1989 in Radensleben bei Neuruppin) war ein deutscher Bergbauingenieur und Opfer der DDR-Geheim- und Schauprozesse der frühen 1950er Jahre.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Otto Fleischer ging in Trebnitz/Schlesien zur Schule. 1923 legte er das Abitur an der Oberrealschule in Breslau ab und begann das Studium des Bergbaus an der Technischen Hochschule Berlin. Er schloss 1926 mit dem Diplom ab und nahm eine Anstellung als Betriebsassistent einer Steinkohlegrube in Beuthen/Oberschlesien an und wurde 1933 dort Grubenbetriebsführer. 1930 bis 1933 war er Mitglied der SPD, 1933 wurde er Meister des 3. Grades der Freimaurer.

Unter den Nationalsozialisten setzte er seine berufliche Karriere fort und leitete von 1939 bis 1945 die Giesche-Grube in Kattowitz. Er erhielt 1942 das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse und 1943 den Titel „Bergwerke-Direktor“. Fleischer arbeitete für das Rüstungsministerium Albert Speers und meldete in seinem und Speers Namen unter anderem das Patent Nr. 94957 für einen Kohlenstaubmotor an. Es basierte auf einer kontrollierten Kohlenstaubexplosion, die am Ende des Kriegs anstelle von flüssigem Treibstoff eingesetzt werden sollte, jedoch nie zur Ausführung kam.

Nach dem Krieg arbeitete Fleischer als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der Bergakademie Freiberg, anschließend als technischer Leiter der Steinkohlenverwaltung und wurde im April 1950 ordentlicher Professor mit eigenem Lehrstuhl („Bergbaukunde“). Er war seit Parteigründung 1946 Mitglied der SED und von 1950 bis 1952 Mitglied des Sächsischen Landtags.[1]

Verhaftung und Prozess

Haftbefehl für Fleischer (1952)

Die DDR-Behörden verhafteten Otto Fleischer am 22. Dezember 1952[2] mit der Begründung, er sei von Angeschuldigten der „Gruppe Kappler“ belastet worden. Bereits in den Wochen zuvor waren seine Freunde und Kollegen Wilhelm Kappler, Hans Hertel und Conrad Kuchheide verhaftet worden, wenig später Georg Bank, Bruno Fankhänel und Herbert Kriebus. Der Vorwurf war Sabotage gegen Bergbaueinrichtungen der DDR und Spionage für westliche Geheimdienste.

Schacht IV des Steinkohlenwerks Martin Hoop, 1962. Ein Grubenunglück in diesem Schacht 1952 war der mögliche Auslöser für Fleischers Prozess.

Als Auslöser für das nun folgende Strafverfahren, nicht aber als Ursache, sah Fleischer später rückblickend ein Grubenunglück am 19. April 1952: Im Schacht IV des Zwickauer Martin-Hoop-Werks starben bei einem Brand 48[3] Bergleute.[4] Aus der Suche nach einem Schuldigen für die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen wurde ein Schauprozess[5], der wirtschaftliche Probleme der DDR auf ein westliches Agentennetz zurückführen sollte. Verschärft wurde Fleischers Lage durch die politische Großwetterlage immer unzufriedener Bürger (Versorgungsengpässe) und den daraus folgenden Aufstand des 17. Juni. Die Verhandlung war ursprünglich für den 2. Juni 1953 anberaumt worden, wurde aber wegen der politischen Entwicklungen verschoben.

Untersuchungshaft

Von Fleischer unterschriebenes Vernehmungsprotokoll, später dementiert (1953)

Während der Untersuchungshaft hatte Fleischer, wie es damals in der DDR-Justiz üblich war, keinen Kontakt zur Außenwelt. Sein Wunschanwalt wurde nicht zugelassen, der Pflichtverteidiger kam erst zwei Tage vor Prozessbeginn. Fleischer schreibt in seinen ab 1980 erstellen Aufzeichnungen, dass er nicht physisch gefoltert wurde, jedoch psychisch, und in Folge dessen eine Anschuldigung seiner Vernehmer nach der anderen zugab:

„An und für sich genügten [...] die Isolierhaft, der Ton der Vernehmungen, die keulenschlagartig auf mich niederprasselnden Anschuldigungen wie „Verbrecher, Lump, Saboteur“ [...], die zeitweise dichte Folge von Nachtvernehmungen, um eine Anklageschrift gegen mich als den Spitzenfunktionär einer „vom Westen planmäßig in die DDR zurückgelassenen Verschwörerbande“ aufzubauen. [...] Ich war nicht mehr kritikfähig für das was da aufgeschrieben wurde und was ich zu unterschreiben hatte, wenn ich total übermüdet in die schützenden Wände meiner Einzelzelle zurückkehren und die Augen, wann auch nur im Sitzen oder Stehen, einmal für Augenblicke zumachen konnte, bis der Posten vor der Zellentür mir zubrüllte: „Aufstehen, Sie haben geschlafen.““

– Fleischers Aufzeichnungen, in Lebenserinnerungen und Zeitdokumente zum 100. Geburtstag, Januar 2001

Geheimprozess

Propagandistischer Prozessbericht in der DDR-Tageszeitung Neues Deutschland (1953)

Der Geheimprozess fand vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik vom 21. bis 26. September 1953 in Berlin statt. Der damals kommissarische Vizepräsident des Obersten Gerichts, Oberrichter Walter Ziegler[6], führte die Verhandlung. Beisitzende Richter waren Seidel und Möbius. Die Oberstaatsanwalt war durch Generalstaatsanwalt Dr. Melsheimer und Flemming vertreten, das Protokoll führte Barfus.[7] Das Urteil lautete 15 Jahre Zuchthaus und fünfjährige Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte wegen Kriegs- und Boykotthetze.

Der Prozess gehörte zu den ersten und größten einer ganzen Reihe von Verfahren, in dem die DDR-Justiz mit einem weit ausgelegten Gesetz („Boykotthetze“)[8] harte Urteile gegen vermeintliche Regimegegner fällte. Verschärfend kam bei diesem Urteil hinzu, dass der Arbeiter-Aufstand des 17. Juni 1953 die DDR-Führung alarmiert hatte und sie über ihre Justiz auf Abschreckung drängte.[9] Zudem formierten sich in der Zeit westliche Geheimdienste, allen voran der Dienst Gehlen, Vorgänger des Bundesnachrichtendienstes, dessen Agent Clemens Laby[10] laut Prozessakten von den Angeklagten mit Informationen versorgt worden sein soll. Laby und Fleischer kannten sich seit ihrem Studium; auch Laby war Diplom-Bergingenieur. Der Spionagevorwurf konzentrierte sich in der Urteilsbegründung auf folgendes angebliche Treffen Fleischers mit Laby:

„Anfang 1947 fand zwischen Laby und den Angeklagten Fleischer und Kappler in Zwickau eine Besprechung statt, in deren Verlauf Laby den Angeklagten erklärte, daß die Ruhrindustrie nicht daran denke, Material für den Ausbau der volkseigenen Kohlenwirtschaft zu liefern. Es komme nunmehr darauf an, zu beweisen, daß der Aufbau der volkseigenen Wirtschaft ohne Hilfe der kapitalistischen Ruhrindustrie nicht möglich sei. Alle drei kamen daraufhin überein, weitere Personen in ihren Plan einzubeziehen. [...] Laby war daran interessiert, für die Kohlenbergbauleitung [im Westen] Nachrichten über die Entwicklung des Zwickau-Oelenitzer Steinkohlenbergbaus zu sammeln. Die daraufhin von Fleischer an Laby gelieferten Dokumente und mündlichen Informationen ermöglichten es, einen detaillierten Überblick über die gesamte Lage des sächsischen Steinkohlenbergbaus und über die Verhältnisse in der Bergakademie in Freiberg zu gewinnen.“

– Urteilsbegründung, S. 16, Stadtarchiv Zwickau

Der von Otto Fleischer bestellte Verteidiger wurde vom Gericht abgelehnt und durch einen Pflichtverteidiger ersetzt. Nur geladene Gäste waren während des Prozesses anwesend. Fleischers Ehefrau wurde bei ihrer Anreise nach Berlin am Ostbahnhof aus dem Zug geholt und zurückgeschickt. Allen sieben Angeklagten[11] warf das Gericht neben der Informationsbeschaffung für eine „Reihe von Agenten und Spionageagenturen des deutschen und amerikanischen Monopolkapitals“ Sabotage vor. Fleischer habe zum Beispiel „Eine komplette elektrische Lokförderanlage, die für die Erschließung des Nordostfeldes bereitgestellt war, [...] nach dem Rudolf-Breitscheidt-Schacht“ verlegt, „wo sie drei Jahre unbenutzt stehen blieb und dem Verrotten ausgesetzt war.“ (ebenda, S. 17) „Außerdem stand Fleischer mit dem Schwiegersohn Adenauers, [Hermann Josef] Werhahn, dem Besitzer der Horremer Braunkohlengruben und der dazugehörigen Brikettfabriken, in Verbindung“ und verschaffte dessen technischem Leiter „Bitschnau [...] Überblick über die gesamte Braunkohlenindustrie in der Deutschen Demokratischen Republik“ (ebenda, S. 19). Wie in diesen Prozessen häufig der Fall, unterstellte man auch hier dem Angeklagten Schlüsselpositionen im Nationalsozialismus; des Weiteren Kontakte zu den in der DDR als Spionageorganisation für den Westen angesehenen Zeugen Jehovas.

Umgang mit Akademikern

Die DDR-Führung hatte sich in der 1. Kulturverordnung der Deutschen Wirtschaftskommission vom 31. März 1949 für einen gemäßigten Umgang mit etablierten, also schon zu Zeiten des Nationalsozialismus tätigen Wissenschaftlern ausgesprochen, um diese nicht in den Westen abwandern zu lassen. In dem Urteil gegen Fleischer zitiert das Gericht diesen Paragraphen, hält ihn jedoch nicht für auf die Angeklagten anwendbar: „Einige wenige Angehörige der alten Intelligenz [...] fühlten sich als ‚Offiziere des Kapitals’ und konnten sich nicht von ihrer Bindung zu den Monopolherren lösen.“ Dennoch war das Urteil im Verhältnis zu den monströsen Anschuldigungen mild; in vielen Prozessen der Zeit mit weniger „Intelligenz“ auf der Anklagebank fielen Todesurteile. Auch die Erlaubnis für Fleischers Söhne, zu studieren, waren Zeichen einer gewissen Zurückhaltung.

Haft und Amnestie

Otto Fleischer kam in ein Speziallager in Gumnitz bei Eggesin. Dies war eine Außenstelle des vom MfS in Hohenschönhausen betriebenen „Lager X“. Zusammen mit zeitweise 100 Experten (Bauleute, Chemiker, Physiker, Elektroniker) forschte Fleischer dort an seinem alten Speer-Patent für feststoffliche Raketenantriebe weiter - zwar ohne Ergebnis, aber, wie er in seinen privaten Erinnerungen schrieb, gut honoriert („Ingenieurgehalt Gruppe V, 1500 bis 1600 Mark brutto“). Im Rahmen einer Amnestie anlässlich Walter Ulbrichts Aufstieg zum Staatsratsvorsitzenden und damit zum Staatschef der DDR wurde Fleischer aus der Haft entlassen. Bis zu seiner Rente 1966 war er Mitarbeiter des Mansfeld-Kombinats Eisleben und arbeitete dort unter anderem an einer maschinellen Abbaumethode für den Kupferbergbau.

Am 19. Dezember 1991 rehabilitierte ihn einstimmig die 6. Strafkammer des Landgerichts Berlin (Kassationsgericht)[12]. Otto Fleischer kämpfte seit seiner Haftentlassung um diese Rehabilitierung, starb jedoch schon zwei Jahre zuvor, 1989, in Radensleben bei Neuruppin. In seinen persönlichen, nie veröffentlichten Aufzeichnungen nannte er den Strafprozess eine „Lebenskatastrophe“, deren „Warum“ ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigte.

Publikationen

Otto Fleischer war ein führender Bergbauexperte seiner Zeit. Sein wichtigstes Buch trägt den Titel Bergmännische Beobachtungen und Versuche über Gebirgsbewegungen im oberschlesischen Steinkohlenbergbau zur Klärung von Gebirgsdruckfragen.[13]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Fleischer übte dort die Funktion als Abgeordneter des Kulturbundes aus.
  2. Der Haftbefehl selbst ist auf den 23. Dezember datiert, Fleischer sprach in seinen Erinnerungen immer vom 22. Dezember.
  3. Manche Quellen sprechen von 47 toten Bergleuten.
  4. Fleischer hatte wissenschaftlich mit der Erschließung des Schachts IV zu tun; ein Foto zeigt ihn 1948 in Bergarbeiteruniform in dieser Grube.
  5. Bei einem Prozess wie diesem und zahlreichen anderen in der frühen DDR vermischten sich die für einen Schauprozess und einen Geheimprozess typischen Merkmale, weil die Öffentlichkeit zwar geladen warm aber ausschließlich aus „zuverlässigen“ Parteigenossen, Mitarbeitern der Staatssicherheit und DDR-Presse bestand, man also „unter sich“ war. Andererseits lag der DDR an der Berichterstattung über diesen Prozess.
  6. Ziegler übernahm den Prozess von Hilde Benjamin, die im Juli 1953 DDR-Justizministerin wurde. Seine Karriere nahm mit diesem Verfahren einen Sprung. Er spielte in einer Reihe von weiteren hochrangigen politischen Prozessen der 1950er Jahre die Richterrolle, u.a. gegen Elli Barczatis/Karl Laurenz und Karl Wilhelm Fricke.
  7. Prozessunterlagen, Urteil des Prozesses; Archiv der Stadt Zwickau
  8. Neben der Kriegs- und Boykotthetze spielte auch Artikel IX, Ziffern 3–9 der Kontrollratsdirektive Nr. 36, eine wichtige Rolle.
  9. siehe auch Karl Wilhelm Fricke: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung. Berlin 1996
  10. Clemens Laby war auch die Kontaktperson zwischen dem Dienst Gehlen und dem 1955 zum Tode verurteilten und hingerichteten Karl Laurenz
  11. Die Angeklagten wurden zu Zuchthausstrafen zwischen viereinhalb und fünfzehn Jahren verurteilt, wobei Fleischer und Kappler die höchste Strafe erhielten.
  12. Das Gericht hob auch die Urteile gegen Fleischers sieben Mitangeklagte auf
  13. Verlag Glückauf, Essen, 1934. Weitere Werke von Fleischer bei der Deutschen Nationalbibliothek: DNB

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