Erweckungsbewegung

Erweckungsbewegung

Als Erweckungsbewegungen werden Strömungen im Christentum bezeichnet, die die Bekehrung des Einzelnen und praktische christliche Lebensweise besonders betonen. Gemeinchristliche oder konfessionelle Dogmen treten zurück, hinter ein ursprüngliches Verständnis eines direkt aus der Bibel entnommenen Evangeliums. Erweckungsbewegungen gehen davon aus, dass lebendiges Christentum mit der Antwort des Menschen auf den Ruf des Evangeliums zu Umkehr und geistiger Erneuerung beginnt.

Gedanklich fußt der Begriff auf Eph 5,14 LUT: „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“ Da nur der Glaube ins ewige Leben führe, sei die Existenz des Ungläubigen dem Tode geweiht. Somit erscheint die Hinwendung zum Glauben als Hinwendung zum Leben bzw., in Analogie zur Auferstehung Christi, als Erweckung vom Tode.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Charakteristisch für Erweckungsbewegungen sind persönliche Bekehrungen, die in einer ethisch veränderten Lebensweise gemäß dem Evangelium von Jesus Christus resultieren. Die meisten Erweckungsbewegungen bildeten sich innerhalb des Protestantismus oder dessen Umfeld. Einige entstanden am Rand von etablierten Kirchen, andere als geistliche Erneuerung innerhalb bestehender kirchlicher Strukturen, wieder andere außerhalb etablierter kirchlicher Strukturen. Gewöhnlich entstanden sie als Reaktion auf ein Christentum, das als dogmatisch fixiert, liturgisch erstarrt oder rein traditionalistisch empfunden wurde. Eine katholische Erweckungsbewegung trat am Ende des 18. Jahrhunderts in Gestalt der Allgäuer Erweckungsbewegung in Erscheinung. Einer ihrer Protagonisten war Martin Boos.

Erweckungsbewegungen sind keine Randerscheinungen, sondern Massenbewegungen: Die Erweckungsbewegungen des 18. bis 20. Jahrhunderts haben jeweils zu einem starken Anwachsen der engagierten Christen in der Bevölkerung geführt. In manchen Fällen wurden dabei Kirchenferne angesprochen, in anderen Fällen Kirchenmitglieder ohne innere Beteiligung. Beispielsweise gab es in England innerhalb von 50 Jahren 75.000 Methodisten, in den Vereinigten Staaten wuchs ihre Zahl von 500 im Jahr 1771 auf 15.000 im Jahr 1784. Das 19. Jahrhundert begann in den Vereinigten Staaten mit 7 Prozent der Bevölkerung als Mitglied einer Kirche – hundert Jahre später waren es über 40 Prozent. Die Pfingstbewegung in Brasilien war 1960 praktisch bedeutungslos, heute umfasst sie 25 Prozent der Bevölkerung.

Ein wesentlicher Faktor bei vielen Erweckungsbewegungen ist die Predigt, die im 18. und 19. Jahrhundert oft auf freiem Feld stattfand und Massen von Kirchenfernen anzog. Manche amerikanische Fernsehprediger sehen sich in der Tradition der alten Erweckungsprediger.

Neben der Evangelisation haben Erweckungsbewegungen oft eine starke gemeinschaftsfördernde und diakonische Komponente. Dazu gehören die Klassen und Armenapotheken der Methodisten ebenso wie die Gesellenvereine und Diakonissenhäuser der Erweckung in Deutschland oder die Hauskreise und das soziale Engagement der Pfingstgemeinden in Brasilien.

Bei praktisch allen Erweckungsbewegungen kam es teilweise zu starken Emotionen: Leute brechen während der Predigt in Tränen aus, sind überschwänglich glücklich über ihre Bekehrung oder haben ekstatische Erlebnisse. Während diese Begleiterscheinungen in vielen Fällen von den beteiligten Predigern bejaht wurden, trafen sie insbesondere bei den Theologen der etablierten Kirchen auf massive Kritik und dienten oft als Anlass, um eine als Konkurrenz empfundene Bewegung insgesamt zu verurteilen.

Da Erweckungsbewegungen in aller Regel keine geplanten Organisationen sind, haben sie eine dynamischere Struktur als etablierte Kirchen. Manchen von ihnen fehlte sowohl eine ausgearbeitete Theologie als auch eine theologisch gebildete und persönlich gereifte Leiterschaft. Daher hat es auch ungesunde Entwicklungen gegeben, die bis zu totalitären Sekten (Jim Jones) geführt haben.

Übersicht über die verschiedenen Erweckungsbewegungen

Reformationszeit: die radikale Reformation

Während die lutherische und zwinglische Reformation im Allgemeinen die Bevölkerung eines ganzen Staatsgebiets umfassten und daher weniger Gewicht auf die persönliche Glaubensentscheidung des Einzelnen legten, haben die Täufer (zu denen heute die Mennoniten und Hutterer zählen) und die reformierten Minderheiten in Frankreich (Hugenotten), den Niederlanden und Schottland Ähnlichkeiten mit Erweckungsbewegungen. In den Täufergemeinden ist die Erwartung der Bekehrung einer Person insofern im Gemeindeleben integriert, als die Taufe nicht Säuglingen zugestanden wird, sondern Menschen vorbehalten bleibt, die selbst freiwillig bekennen, Jesus Christus nachfolgen zu wollen. Das Alter spielt dabei eine untergeordnete Rolle. In traditionellen Freikirchen hat diese Praxis aber auch nicht verhindern können, dass Taufe und Gemeindeaufnahmen im Bereich der Familienangehörigen doch wieder Formalismen unterworfen wurden. Deshalb war Erweckung auch in den Freikirchen immer wieder ein Thema.

17. Jahrhundert: Puritaner, Pietismus und Quäker

Die ersten Erweckungen werden schon im 16. Jahrhundert in England und Schottland berichtet, wo puritanische Prediger unter dem Einfluss von Calvin um die Erneuerung der Staatskirche bemüht waren. Die ersten Prediger hielten schon vor 1550 Freiversammlungen ab und riefen Menschen zu Bekehrungen auf, die sich dann teilweise schon recht spektakulär ereigneten. In England war im 17. Jahrhundert die Universität von Cambridge zeitweilig in fester Hand der Puritaner, welche eine Schule von Predigern ausbildete, die in den kommenden Jahrzehnten in England, Schottland und Irland zahlreiche regionale Erweckungen auslösten. Die bedeutendsten Autoren, die im 16. und 17. Jahrhundert dieses Thema ausführlich behandelten waren Robert Fleming (1630-1694) mit seinem Werk The Fulfilling of the Scripture, Jonathan Edwards (1703-1758) mit mehreren Werken und John Gillies (1712-1796) mit seiner Abhandlung »Historical Collections Relating to Remarcable Periods of Success of the Gospel«

Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich nach dem Trauma des Dreißigjährigen Krieges der Pietismus, der sich unter anderem durch Hinwendung auf den persönlichen Glauben und eine Neuorientierung auf die Bibel auszeichnete. Eine große Rolle spielten kleinere Konventikel (heute:Hauskreise). Aus dem Pietismus entwickelten sich später unter anderem die Herrnhuter Brüdergemeine und die Franckesche Stiftungen in Halle. Aus dem kirchenkritischen Radikalen Pietismus entstanden an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die Tunker (Schwarzenau Brethren) und die Inspirierten.

18. Jahrhundert: Methodisten und Great Awakening

Nach der puritanischen Ära war die Erweckungsbewegung geprägt vom wesleyanischen Methodismus, initiiert von John und Charles Wesley im anglikanischen Kontext in Großbritannien, und das Great Awakening in den amerikanischen Kolonien unter der theologischen Führung von Jonathan Edwards und George Whitefield im reformiert-kongregationalistischen Umfeld. Trotz der unterschiedlichen Ausgangssituationen hatten beide Bewegungen viel gemeinsam: öffentliche Predigten, oft unter freiem Himmel, persönliche Bekehrung der Einzelnen, Integration der Bekehrten in übersichtliche Gruppen, Reform des persönlichen und sozialen Lebens.

19. Jahrhundert: Baptisten, Methodisten, Heiligungsbewegung, Neupietismus

In den Vereinigten Staaten war das 19. Jahrhundert eine Abfolge von Erweckungsbewegungen. Anfänglich dominierten im Norden die Methodisten mit ihrem Circuit-Riders-System, wobei ein Prediger die Gemeinden eines ganzen Distrikts betreute, im Süden die Baptisten mit unabhängigen kongregationalistischen Gemeinden.

Um die Mitte des Jahrhunderts entstanden zahlreiche neue Konfessionen: in den Vereinigten Staaten das Restoration Movement mit den Disciples of Christ und den Gemeinden Christi, in England die Brüderbewegung und die Heilsarmee, daneben die Siebenten-Tags-Adventisten und am theologischen Rand des Christentums die Bibelforscherbewegung sowie die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) und die Christliche Wissenschaft, die von der ACK beide als nichtchristlich betrachtet werden.

Auch im deutschsprachigen Raum gab es im 19. Jahrhundert eine Erweckungsbewegung. In Deutschland und der Schweiz fanden Erweckungen zum größeren Teil innerhalb der Landeskirchen statt: in Deutschland insbesondere im Siegerland und im südlichen Oberberg (Homburger Land), im Hessischen Hinterland, am Niederrhein (Pastoren Krummacher), in der Wuppertaler Gegend, in der Lüneburger Heide (Ludwig Harms), im Ravensberger Land (Johann Heinrich Volkening), in Baden (Aloys Henhöfer) und in Württemberg (Ludwig Hofacker); in der Schweiz von Basel, Genf und Bern ausgehend. Auch innerhalb traditioneller Freikirchen wie den täuferischen Mennoniten kam es mit Entstehung der Mennonitischen Brüdergemeinden zu einer gemeindebildenden Erweckungsbewegung.

In Bern gab es durch die Heiligungsbewegung einen zweiten Aufbruch im Umfeld der Evangelischen Gesellschaft um Elias Schrenk und Franz Eugen Schlachter. Daneben entstanden auch Freikirchen; einige wurden von Rückwanderern aus den Vereinigten Staaten (Methodisten, Baptisten) gegründet, andere gingen von Missionsbewegungen aus (Chrischona).

Im französischen Lyon kam es zum Réveil.

Für die Erweckungsbewegung sind drei Phasen auszumachen:

  1. Frühzeit (1800–1815): Romantisches, nationales, überkirchliches Erfahrungschristentum.
  2. Hauptzeit (1815–1830): Breitenwirkung, u. a. durch Erweckungspredigten und Traktatliteratur.
  3. Spätzeit (1830–1848): Stärkere Betonung von Lehre, Bekenntnis und Konfessionen.[1]

20. Jahrhundert: Evangelikale, Pfingstbewegung und Charismatische Bewegung

Am Anfang des 20. Jahrhunderts kam es in den Vereinigten Staaten zu einer überkonfessionellen Strömung konservativer Christen, die insbesondere ihre Sicht der biblischen Lehre betonten. Diese Bewegung teilte sich in den 1930er Jahren in die Fundamentalisten und die Evangelikalen, die um die Mitte des Jahrhunderts durch Prediger wie Billy Graham starken Zuwachs fanden.

In den Erweckungen der Pfingstbewegung wurde der Heilige Geist, die Erfüllung eines Gläubigen mit dem Heiligen Geist und die Gaben des Heiligen Geistes wiederentdeckt. Diese Bewegung nahm um die Jahrhundertwende in Kalifornien ihren Anfang und verbreitete sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts über alle Kontinente, und dabei vor allem in Lateinamerika, Afrika südlich der Sahara, Korea und den Vereinigten Staaten. Während sie in Europa eher eine Randerscheinung ist, umfasst sie in der Dritten Welt einen großen Teil des christlichen Zuwachses der letzten fünfzig Jahre.

Neben den zahlreichen selbständigen oder lose verbundenen Pfingstkirchen hat die Pfingstbewegung auch ihre Parallele innerhalb der Großkirchen, die Charismatische Erneuerung, die, im Gegensatz zu den meisten früheren Erweckungsbewegungen, auch in der katholischen Kirche Zulauf hat.

Die Erweckungsbewegungen in den Volkskirchen stehen zumeist in einer Spannung zu kirchlicher Tradition. In der Folge entstehen sowohl innerkirchliche Gemeinschaften wie auch unabhängige Gemeinden.

Siehe auch

Literatur

  • Gustav Adolf Benrath, Reinhard Deichgräber, Walter J. Hollenweger: Art. Erweckung/Erweckungsbewegung I. Historisch II. Dogmatisch III. Praktisch-theologisch; in: Theologische Realenzyklopädie 10 (1982), 205–227.
  • Erich Beyreuther: Erweckungsbewegung. In: RGG3 2, Sp. 631ff.
  • Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Die Erweckungsbewegung. Studien zur Geschichte ihrer Entstehung und ersten Ausbreitung in Deutschland; Neuendettelsau: Freimund, 1957
  • Erich Beyreuther: Die Erweckungsbewegung; Die Kirche in ihrer Geschichte, Band 4, Lieferung R, Teil 1; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1963 (19772)
  • Stephan Holthaus: „Heil – Heilung – Heiligung“. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874–1909); Gießen: TVG Brunnen, 2005; ISBN 3-7655-9485-7
  • William Reginald Ward: The Protestant Evangelical Awakening; Cambridge: Repr. University Press, 1994
  • Thomas K. Kuhn: Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung; Beiträge zur historischen Theologie 122; Tübingen: Mohr (Siebeck), 2003; ISBN 3-16-148169-0
  • verschiedene Artikel im Jahrbuch Pietismus und Neuzeit 1 (1974)ff. (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) ISSN 0172-6943, historisch orientiert
  • Iain H. Murray Die Hoffnung der Puritaner-Erweckung, Mission und Prophetieverständnis RVB Pro Mundis ISBN 3-928936-14-X

Einzelbeispiele

  • Gerlinde Viertel: Anfänge der Rettungshausbewegung unter Adelberdt Graf von der Recke-Volmerstein (1791–1878). Eine Untersuchung zu Erweckungsbewegung und Diakonie; Schriften des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 110; Köln: Rheinland-Verlag, 1993
  • Gerhard Schwinge: Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung. Eine literatur- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung seiner periodischen Schriften 1795–1816 und ihres Umfelds; Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 32; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994
  • Karsten Ernst: Auferstehungsmorgen. Heinrich A. Chr. Hävernick. Erweckung zwischen Reformation, Reaktion und Revolution; Gießen: Brunnen, 1997; ISBN 3-7655-9420-2
  • Siegfried Hermle (Hrsg.): Kirchengeschichte Württembergs in Porträts. Pietismus und Erweckungsbewegung; Holzgerlingen: Hänssler, 2001; ISBN 3-7751-3704-1
  • Christine Stuber: „Eine fröhliche Zeit der Erweckung für viele“. Quellenstudien zur Erweckungsbewegung in Bern 1818–1831; Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie 69; Bern: Lang, 20022; ISBN 3-906768-56-2
  • Nicholas M. Railton: Transnational Evangelicalism. The case of Friedrich Bialloblotzky (1799–1869); Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 41; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002
  • Iain H. Murray: Revival and Revivalism. The Making and Marring of American Evangelicalism. 1750–1858; Edinburgh: Banner of Truth Trust, 1994
  • John B. Boles: The Great Revival. Beginnings of the Bible Belt; Lexington, Ky., 1996; ISBN 0-8131-0862-4

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Armin Sierszyn: Die Neuzeit. In: 2000 Jahre Kirchengeschichte. 4. Auflage. Bd. 4, SCM Hänssler, Holzgerlingen 2005, ISBN 3775135243, S. 155, DNB 961159944 (460 S.).

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