Hinterländer Platt

Hinterländer Platt
Das Hessische Hinterland im Großherzogtum Hessen

Das Hinterländer Platt ist ein oberhessischer Dialekt, der im Hessischen Hinterland gesprochen wird. Er gehört zu den westmitteldeutschen Sprachgruppen. Das Hinterland ist sprachlich ein typisches Mischgebiet. Es bildet eine Brücke zwischen dem mittelhessischen wie rheinfränkischen Süden sowie dem niederhessischen und niederdeutschen Norden. Mit „Platt“ wird vor allem im Westen des mitteldeutschen Sprachraums die gesprochene Mundart benannt; der Gebrauch unterscheidet sich somit vom – dort ebenfalls als Platt bezeichneten – norddeutschen Plattdeutsch.[1]

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung und Einordnung

Das Hinterländer Platt in seinen unterschiedlichen Lautgestalten und differenzierten Formen zählt sprachgeschichtlich in Mittelhessen (siehe Mittelhessische Dialekte) zu den „altertümlichen“ Mundarten, deren Strukturen aus dem Althochdeutschen ableitbar sind und deren aktuelle Lautsysteme mit dem Mittelhochdeutschen korrespondieren.

Verteilung

Durch generationenlanges Ineinanderheiraten in den kleinräumigen Talschaften, Gerichtsbezirken und Kirchspielen entwickelte sich für nahezu jedes dieser Gebiete auch eine eigene lokale Varietät des Hinterländer Platts, so dass ein Einheimischer jeden Sprechenden nach seinem Dialekt (Ortsdialekt) seinem Heimatort zuordnen konnte. Dementsprechend sind die Mundartscheiden im Wesentlichen deckungsgleich mit der historischen Gliederung in Ämter, Gerichtsbezirke und Kirchenspiele. Trotz dieser sprachlichen Differenzierungen sind die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Varietäten dennoch größer als die Unterschiede.

Wichtige Sprachscheiden verlaufen nach Hans Friebertshäuser (siehe Literatur) zwischen

Innerhalb dieser Hauptlinien existieren kleinere Sprachlandschaften um

  • Bromskirchen, Dodenau, Battenfeld mit seinen Kirchspielorten, Battenberg mit Holzhausen, sowie
  • Dautphe mit Unterabteilungen in Eifa-Dexbach-Engelbach und Biedenkopf.
  • Das Perfgebiet zeigt eine deutliche Trennung des Breidenbacher Kirchspiels von Eisenhausen-Gönnern-Lixfeld, wobei Simmersbach sich von diesem Gebiet abhebt, jedoch Bottenhorn einbezieht.
  • Das Salzböde-Gebiet ist aufgeteilt zwischen den beiden ehemaligen Kirchspielen Hartenrod und Gladenbach, was auch der Aufteilung in Obergericht und Untergericht des früheren Amtes Blankenstein entspricht. Diese Grenze gliedert zwei Bezirke mit gleich starkem sprachlichen Selbstbewusstsein voneinander ab. Bottenhorn nimmt hier eine Sonderstellung ein, da sich die dort gesprochen Mundart stark von der in den übrigen Ortschaften des Obergerichtes abhebt.
  • Das obere Aar-Tal gehört zu einem größeren südlichen Gebiet; in das Einflussgebiet der mittleren Lahn (ehem. Grafschaft Solms).
  • Gegen Westen, gegen das Nassau'ische und gegen das benachbarte Wittgensteiner Platt besteht eine feste und deutliche Mundartscheide.[2]

Selbst innerhalb der kleinräumigen Sprachlandschaften gibt es bei der Aussprache einzelner Worte von Ort zu Ort oft deutliche Unterschiede. Das Vielerlei im Wechsel der Vokale, im Gebrauch oder Wegfall der Konsonanten z. B. bei Vor- und Nachsilben machen fast jeden Ort zu einer kleinen Sprachinsel.

Stellenwert des Hochdeutschen

Neben der Mundart war und ist auch das Hochdeutsch weit verbreitet. Der Grund hierfür war, dass seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine große Anzahl der männlichen Bewohner als Wander- bzw. Saisonarbeiter über die Wetterau bis nach Worms, Heidelberg und Speyer oder ins „Bergische Land“ bis Jülich tätig waren. Ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg arbeiteten viele als Bauhandwerker (Maurer) bevorzugt im Siegerland oder im Ruhrgebiet. Besonders ausgeprägt war dies in den westlich gelegenen Dörfern des Hinterlandes, in denen die Realteilung üblich war. Dadurch wurden die zur Verfügung stehenden landwirtschaftlichen Flächen pro Familie immer kleiner, so dass ohne Zuerwerb die Familien nicht ernährt werden konnten. Den Heimatdialekt legten sie während der Arbeitswoche ab. Oft kamen sie nur ein- bis zweimal im Monat am Wochenende nach Hause und brachten neue sprachliche Elemente mit, die in die Hinterländer Dialekte einflossen und integriert wurden. Auch mussten nach 1866 viele junge Hinterländer ihren 3-jährigen Militärdienst in preußischen Kasernen, insbesondere in Berlin ableisten.

Hinzu kam, dass Preußen, zu dem das Hinterland ab 1866 gehörte, 1867 eine Elementarschulreform durchgeführte. Dabei wurde (im Gegensatz zu den Volksschulen in Sachsen, Bayern, Pfalz, Württemberg oder Baden) auf eine korrekte hochdeutsche Sprache in den Schulen geachtet und Hochdeutsch wie eine Fremdsprache unterrichtet.

Die Verbreitung der Hinterländer Ortsdialekte veränderte sich stark ab der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der soziale und kulturelle Wandel sowie der wirtschaftliche Aufschwung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sorgte für erhebliche Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelten dörflicher Kultur, dem sogenannten Verlust des „Arbeitsplatzes Dorf“. Hierdurch sowie durch die Gebietsreform in Hessen und die Einführung von Mittelpunktschulen gingen die ortsspezifischen Ausprägungen der Dialekte im öffentlichen Leben weitgehend verloren, so dass man dort auch außerhalb der Schule, besonders in den Nachkriegsgenerationen, nunmehr untereinander eine neue, dialektgefärbte „Klein-Regionalsprache“ (Regiolekt) spricht.

Sprachliche Besonderheiten

Phonologie

Ganz deutlich bevorzugt das sprachliche Betonungsmuster die Betonung auf der ersten Silbe. Das unverschobene ‚p‘ (pond „Pfund“) verbindet den Dialekt mit dem Norden. Stimmlos ist das ‚s‘; das ‚r‘ wird als retroflexes Zungen-r gesprochen. Bei der Beugung und der Nennform des Tätigkeitswortes und der Beugung des Eigenschaftswortes fällt das ‚n‘ weg (rufe statt rufen, die alte Leut statt die alten Leute). Dies und die Aussprache des ‚g‘ als ‚j‘ oder ‚ch‘ (Berg, Berge > Berch, Berje) sind auch in das Hinterländer-Hochdeutsch übernommen worden. Zu den weitern Eigenheiten gehört der Wandel der stimmlosen Laute ‚k‘, ‚p‘ und ‚t‘ zu stimmhafen ‚g‘, ‚b‘ und ‚d‘ (backen > bagge, passen > basse, Tür > Dear), sowie das Verschleifen des ‚r‘ zu ‚a‘ vor allem in der Endung (Männer > Menna, Wetter > Wearra, Wetterau > Wearrera), vor allem nördlich einer Linie Bottenhorn/Holzhausen, südlich davon wird das ‚r‘ noch ausgesprochen und der Wechsel von ‚i‘ zu ‚e‘ (ihr, wir, Milch zu ea, mea, Melche).

Besonders auffällig sind die sogenannten „gestürzten Diphthonge“: Die mittelhochdeutschen fallenden Zwielaute ie, üe, und uo erscheinen als steigende Zwielaute äi, oi und ou: lieb > läib, müde > moid, moi, moire, Bruder > Brourer, Breorer, Bröurer.

Grammatik

Das Hinterländer Platt weicht in der Verwendung einiger Präpositionen vom Hochdeutschen ab. Typisch ist, dass man anstatt zu mir hin sagt baij maich baij oder Komm zu mir, Komm baij maich. Baij bedeutet sowohl „bei“, als auch „zu“, „hin“. Wie im rheinischen Dialekt sagt man anstatt zu auch werre „wider“: Säd der werre maich... „Sagte der zu mir...“.

Eine weitere Besonderheit ist auch die dreigeschlechtige Verwendung des Zahlwortes „Zwei“. Sie richtet sich nach dem grammatischen Geschlecht des Substantivs. Dabei steht zwie für maskuline, zwu für feminine und zwä für sächliche Substantive.

Beispiele:

Maskulin:

zwie Menner („zwei Männer“), zwie Korrer, („zwei Kater“) zwie Äbbel („zwei Äpfel“), zwie Goil („zwei Pferde“, „zwei Gäule“)

Feminin:

zwu Fräe („zwei Frauen“), zwu Katze („zwei Katzen“), zwu Weschde („zwei Würste“), zwu Koih („zwei Kühe“)

Sachlich:

zwä Kenn („zwei Kinder“), zwä Kätzercher („zwei Kätzchen“), zwä Ajer („zwei Eier“), zwä Huinger („zwei Hühner“)

Ferner besteht die Angewohnheit, Verben die Vorsilbe ge- voranzustellen: Aich kaa nidd geläfe. > „Ich kann nicht laufen.“, Kaasd de nidd geschwaije? > „Kannst du nicht schweigen?“, Kaasd Du mir mol gehälfe? > „Kannst Du mir mal helfen?“, Doas kaa aich D'r owwer gesah. > „Das kann ich Dir aber sagen“.

Wortschatz und Pragmatik

Die Wahl der Anredeform ist im Wesentlichen von der sozialen Stellung und dem Alter des Gesprächspartners abhängig. Während das Du für Gleichaltrige immer schon geläufig war, wurden Angehörige von vorhergehenden Generationen früher mit Ihr angesprochen („Ihrzen“). Mit Beginn der 50er Jahre wird auch hier das Duzen gebräuchlich.

Während Dialektsprecher ebenfalls generell mit Du angesprochen werden, war früher das Ihr auch für sozial Höhergestellte und Ortsfremde die geläufige Anredeform. Für diesen Personenkreis setzte sich aber immer mehr das Siezen durch. Die sich im Dialekt noch spiegelnde soziale und politische „Rangordnung“ (Soziale Schicht) des 19. Jahrhunderts wurde aufgegeben: Ihr het (>hot) häi näad (>naut) mi (>mäi >me) ze sa! „Sie haben hier nichts mehr zu sagen!“

Kinder sprachen ehemals ihre Eltern mit Mudder, Moire oder Mamme und Vadder oder Fodda deren Geschwister und Ehepartner mit Gode, Gell oder Gerrel und Pädder an. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich aber zunehmend die heutige, wenn auch ältere Anrede Mamme und Babbe und für die Geschwister der Eltern und deren Ehepartner Dande und Onkel durch. Die Großeltern heißen Oma und Oba, früher nannte man sie Ellermudder oder Eller und Ellervadder. Der Schwiegersohn war früher der Äre und die Schwiegertochter das Schnerrche. Die älteren unverheirateten Frauen und Männer, die meist in ihrer Familie lebten, wurden auch von nichtverwandten Kindern mit Gode und Pädder angesprochen.[3]

Werbeschild an einer Gaststätte in der Biedenkopfer Stadtgasse

Textbeispiele

Aus dem Gansbachtal (Gönnern):[4][5]

Wann´s raant, gieh ma heem („Wenn es regnet, gehen wir heim“)
Wann´s nit raant, blaiwe ma häi („Wenn es nicht regnet, bleiben wir hier“)
Raants nit un ma hu ke Lost, gieh ma aach heem („Regnet es nicht und wir haben keine Lust, gehen wir auch heim“)
Raants, breache ma suwisu nit ze blaiwe („Regnet es, brauchen wir sowieso nicht zu bleiben“)
Gieh ma da heem un wesse nit, woas ma da mache sinn („Gehen wir dann heim und wissen nicht, was wir dann machen sollen“)
Kinnte ma jo aach glaisch häiblaiwe („Könnten wir ja auch gleich hierbleiben“)
Feräasgesast es raant nit" („Vorausgesetzt es regnet nicht“)

Zum scheinbaren Dialektsterben:

'S es orch schoar, dess die Kenn hau naud mieh richdich platt geschwätze kenn.

Redewendungen und Lebensweisheiten aus der Umgebung des oberen Salzbödetales:

  • Jeder Mann hodd doas Raichd saijer Frää Werrerwädde ze gäwwe, 's bat em nur naud.
  • Geod gefroisteggt spierschde de ganze Doog, geod geschlocht d's ganze Juhr en geod geheurod d's ganze Läwe.
  • Däij Mensche saij orch verschiede. Der eh esd gern Handkeees, der annere gidd gern en die Kerch.
  • Es girre vo alle Sodde, nur kee däij naud esse en dronge.
  • Bat's naud, da schodd's naud.
  • Wann's all es, häld's off.
  • En Norr maichd honne'd.
  • Wichdich es, woas henne rauskimmd.
  • Vo henne stäche die Bie.
  • Hinnerher es immer alles ze speed.
  • Med de gruße Honn pisse gieh, owwer 's Bee nidd hugbränge.
  • S Maul spezze geld naud, gepeffe wärre miss !
  • Jedes Dongk hodd sain Platz.
  • Jedes Debbche find saij Daiggelche.
  • Wersch kaa maichd's, wersch nidd kaa schwätzd drewwer.
  • Die Loi schwätze ohm meesde vo dem, woas se nidd hu.
  • Die beste Oart aut ze erlediche es, ohzefange.
  • Oweds wer'n die Faule flaißich.
  • S gidd naud Besseres wäij aud Geores.
  • Nur vom frässe wer'n die Sau fett.
  • Jedes Pond gidd derch de Schlond.
  • Wer saich sälwer naud gonnd, der gonnd äch d' annerre naud.
  • Vieles erledicht sich vo sälbst, wann mersch en Reoh lessd.
  • Des Menscheläwe es wäij en Koihschwanz, der wesd äch immer noch onne, de Er zeo.
  • Dem Eh sain Dud, es em Annere saij Brud.
  • Eh Frää ka en ihrer Schetz mieh aus em Haus traa, waij en Mann met zwä Goilsgespanne erenn brängt.
  • Wann mer naud nenn steggt, kaa mer äch naud rauslange.
  • Wer kee Ziel hodd, kaa äch nidd ohkomme.
  • Freje hodd noch nie geschodd.

Literatur

  • Elsa Blöcher: Das Hinterland, Ein Heimatbuch, Verlag Max Stephani, Biedenkopf 1981
  • Günter Debus: Geschichten aus unserem Dorf, Gönnern/Aachen 1996, ISBN 3-00-001109-9
  • Hans Friebertshäuser: Sprache und Geschichte des nordwestlichen Althessen, in: Deutsche Dialektgeographie (DDG), Band 46, hrsg. von B. Martin, Marburg 1961
  • Hans Friebertshäuser: Kleines hessisches Wörterbuch, Verlag C. H. Beck, München 1990, ISBN 3-406-34192-6
  • Hans Friebertshäuser: Das hessische Dialektbuch, Verlag C. H. Beck, München 1987, ISBN 3-406-32317-0
  • Hans Friebertshäuser: Land und Stadt im Wandel - Mundart und bäuerliche Arbeitswelt im Landkreis Marburg Biedenkopf, Marburg 1991, Verlag: Sparkasse Marburg-Biedenkopf.
  • Hans Friebertshäuser: "Mundart und Volksleben im Altkreis Biedenkopf", Entwicklungen im 20. Jahrhundert, Hrsg: Volksbank und Raiffeisenbank Biedenkopf-Gladenbach, Marburg 1998
  • Regina Klein: In der Zwischenzeit, Psychosozialverlag, Gießen 2003, ISBN 3-89806-194-9
  • Bernd Strauch: Dialekt in Mittelhessen. Oberhessisches Taschenwörterbuch. Eigenverlag, Gießen, 2005, ISBN 3-935-58402-4
  • Kerstin Werner: "Wandern zwischen zwei Welten - Die Geschichte der Hinterländer Arbeitsmigration in der Wetterau", in: "Die Wetterau", Hrsg: Herfried Münkler und Michael Keller, Sparkasse Wetterau, Friedberg 1990, ISBN 3-924103-06-2
  • Kurt Werner Sänger: "schwortswaise raabooche", mit Illustrationen von Klaus Schlosser und Beiträgen von Heinrich J. Dingeldein und Peter Härtling, Jonas Verlag, Marburg 1987, ISBN 3-922561-53-5.
  • Richard Werner: Alt-Biedenköpfer Mund- und Redensarten, Geschichten, Schnurren und Bräuche. Max Stephani, Biedenkopf 1935, DNB 578318628.
  • Richard Werner; Hinterländer Geschichtsverein e. V., Landkreis Marburg-Biedenkopf (Hrsg.): Alt-Biedenköpfer Mund- und Redensarten, Geschichten, Schnurren und Bräuche. Erweiterte Neuausgabe, Reihe Hinterländer Lesestube, Band 2. Biedenkopf 2001, ISBN 3-00-008489-4.

Weblinks

Quellen

  1. Atlas zur Deutschen Umgangssprache: http://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/germanistik/sprachwissenschaft/ada/runde_1/f20/
  2. Das Hinterland Ein Heimatbuch, Elsa Blöcher, M. Stefani, Biedenkopf 1981, S. 122-124 und Hans Friebertshäuser, Diss. Marburg 1953
  3. Hans Friebertshäuser: "Mundart und Volksleben im Altkreis Biedenkopf", Entwicklungen im 20. Jahrhundert, Hrsg: Volksbank und Raiffeisenbank Biedenkopf-Gladenbach, Marburg 1998, Seite 89, 5. Absatz
  4. Kurt Werner Sänger, schwortswaise raabooche, Jonas Verlag, Marburg, ISBN 3-922561-53-5
  5. Odermennig: Gemorje Hinnerlaand – Lieder, Lyrik & Burlesken, Langspielplatte, Quadriga Ton, Frankfurt 1984, GEMA QU 9083

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