Knabenlese

Knabenlese
Darstellung der Devşirme im Süleymanname

Als Knabenlese, auch „Knabenzins“ , osmanisch ‏دوشيرمه‎ Devşirme, von devşirmek / ‏ديوشرمك‎ /‚pflücken, sammeln‘[1] bezeichnet man das System der im Osmanischen Reich seit dem späten 14. bis ins frühe 18. Jahrhundert praktizierten Aushebung bzw. Zwangsrekrutierung und -islamisierung, bei der christliche, vorwiegend männliche Jugendliche aus ihren Familien verschleppt und islamisiert wurden, um sie anschließend an hervorgehobener Stelle im Militär- und Verwaltungsdienst des Reiches einzusetzen; vor allem die Infanterie der Osmanen, die Elitetruppe der Janitscharen, rekrutierte sich zeitweise überwiegend aus der Knabenlese, „einer der eigenartigsten Erscheinungen der türkischen Geschichte“.[2]

Inhaltsverzeichnis

Geschichte und Praxis der Devşirme

Erste Erwähnung, Aushebungsverfahren

Zum ersten Mal erwähnt wird Devşirme in einer Rede des Metropoliten von Thessaloniki aus dem Jahr 1395, der zweitälteste Beleg ist ein Brief von Sinan Pascha an die Einwohner von Ioannina aus dem Jahr 1430,[3] unter Murad II. (1404–1451) gilt es bereits als systematisiert. Dabei wurden nach Art einer Steuererhebung von den christlichen Untertanen des Reichs, vor allem im Balkan, aber auch in Anatolien[4], in unregelmäßigen Abständen (jährlich, fünfjährlich, alle vier Jahre u.a.m.) und in unterschiedlicher Intensität (jede 40. Familie)[5] junge Männer im Alter von 8 bis maximal 20, meist mit 14 Jahren, ausgehoben. Die Bevölkerung der teilautonomen Klientelstaaten wie Moldavien oder die Walachei waren nicht betroffen. Als Hauptrekrutierungsgebiete galten Bosnien, die Herzegovina und Albanien.

Die Auswahl erfolgte normalerweise nach einem festgelegten Verfahren[6]: ein höherer Janitscharenoffizier, der Yayabaşı, bereiste in Begleitung eines Sekretärs und einiger Soldaten die einzelnen Gerichtsbezirke (kaza), wo die (orthodoxen) Priester im Beisein der Väter die Taufregister vorzulegen hatten, um nur christlich getaufte Kinder auszuwählen (siehe Abbildung oben). Die Knaben durften nicht einziger Sohn sein, kein Türke, kein Muslim und kein Waise und mussten einen ordentlichen Leumund besitzen.[7]

Bewaffneter Widerstand der Eltern konnte mit Hinrichtung noch auf der Schwelle des Hauses bestraft werden[8]. Juden, Muslime und Zigeuner waren von der Devşirme ausgenommen. Die städtische Bevölkerung, vor allem im europäischen Teil des Reichs, galt im Allgemeinen als exemt (Konstantinopel, Galata, Nauplia). Auch hier gab es aber Ausnahmen, so dass u.a. auch Athen betroffen war.[9]. Ausgenommen waren die griechischen Inseln, vor allem Chios und Rhodos[10], ebenso bestimmte Berufsgruppen (Handwerker).

In Gruppen von 100–150 wurden die etwa 10.000 Knaben aus der Devşirme nach Istanbul geführt, wo sie mit oder gegen ihren Willen das islamische Glaubensbekenntnis ablegten und beschnitten wurden.

Ausbildung, Karriere

Anschließend teilte man die Ausgehobenen in zwei Gruppen ein, von denen die klügeren, hübscheren und kräftigeren zur weiteren Ausbildung an einen der Sultanspaläste in Galata, Adrianopel und Istanbul (Ibrahim-Pascha-Palast) geschickt wurden. Dort unterzog man sie einer sorgfältigen, meist mehr als 14 Jahre dauernden körperlichen und geistigen Ausbildung. Die Palastschulen waren vollkommen von der Außenwelt abgeschirmt und vermittelten neben Türkisch, Persisch und Arabisch auch Kalligraphie, Literatur, Theologie und Recht. Auch die körperliche Ertüchtigung stand auf dem Lehrplan (Bogenschießen, Reiten).[11]

Die Übrigen wurden türkischen Bauern- und Soldatenfamilien in Anatolien und Rumelien, dem heutigen Rumänien, zugeteilt, wo sie 3–7 Jahre Frondienst leisteten und dabei türkische Lebensweise und Sprache kennen lernten. Obwohl sie nun „osmanisiert“ waren, galten sie als acemi oglanlar („fremde Jungen“). Anschließend wurden sie in die Hauptstadt zurückgeschickt, wo sie in den Sultansgärten oder auf den Werften, einige auch im Palast, in harter Disziplin zum Teil schwere Arbeiten zu verrichten hatten; hatten sie Ausgang, so waren sie für ihre Zügellosigkeit gefürchtet[12]. Anschließend wurden sie im Alter von etwa 22 Jahren freigelassen. Viele wurden Sipahi (Reitersoldat mit Lehen) und Teil der Kavallerie, wo sie oft die höchsten Offiziere stellten; der Rest wurde auf die verschiedenen Janitscharenkorps aufgeteilt. Als fest besoldete Truppe besaßen sie gesetzlich geregelte Rechte, wie freie Wohnung in eigenen Kasernen, Verpflegung, Altersversorgung und Sold auch bei Krankheit und Dienstunfähigkeit[13] Steuerfreiheit usw. Das war mehr, als ein zeitgenössischer Söldner im christlichen Europa je hoffen durfte.

Da die Zwangsbekehrten nicht zur servility („Unterordnung“), sondern zu authority, zu Respektspersonen, zur Herrschaft erzogen wurden[14], standen den Absolventen der Palastschule nach ihrer Freilassung im Alter von etwa 22 Jahren die höchsten zivilen und militärischen Posten offen: sie konnten Sandschakbey (Provinzgouverneur), Beylerbey (Gouverneur einer Großprovinz), Wesir oder sogar Großwesir werden. Schon Mehmed II. (1444–1481) hatte die Devşirme als Zugangstor zu den höchsten Verwaltungsämtern ausgestaltet: alle seine Großwesire entstammten dieser Gruppe.[15]. Auch der Aufstieg in die eigentliche Sultansfamilie war möglich, indem der Herrscher dem Gefolgsmann seine Schwester, eine seiner Töchter oder Haremsdamen zur Frau gab. Hatte der bisherige „Sklave“ (qul) bisher nur an der Agnation teilgenommen und gehörte als Freigelassener indirekt zur Herrscherfamilie, so war er nun direkt mit dem Herrscherhaus verwandt.

Es handelte sich bei der Devşirme demnach um das Eingangsstadium eines langfristig angelegten, systematischen Erziehungsprojekts für die künftige Reichselite. Die übrigen Untertanen, vor allem sämtliche Muslime und alle Türken, wurden dadurch von den Führungspositionen ausgeschlossen und blieben auf Karrieren in Jurisprudenz und Religion beschränkt; dasselbe galt naturgemäß auch für die (muslimischen) Kinder der unter der Devşirme Aufgestiegenen, die Karriere ihrer Väter war ihnen verwehrt. Als die Janitscharen daher 1561 für ihren Stand die Erblichkeit durchsetzten, war dies ein einschneidender Eingriff zu Ungunsten der militärischen Leistungsfähigkeit und der Anfang vom Ende der osmanischen Expansion.[16]

Rechtlicher Status, religiöse Legitimierung

Die Zwangsbekehrten waren zwar zunächst Sklaven (qul) ihres neuen Herrn, des Padischah, der sie jederzeit ohne Gerichtsverfahren verurteilen und auf bloßen Befehl hin sogar hinrichten lassen konnte.[17] Im Islam wurden Sklaven (türk. qul) freilich nie, wie in der Antike, als reine Sache betrachtet; so besaß der Sklave grundsätzlich ein Recht auf Eigentum, auf sein Leben und auf Unterhalt.

Als Legitimationsbasis für Devşirme wurde Sure 8, Vers 41 im Koran herangezogen.[18] :Und ihr müßt wissen: Wenn ihr irgendwelche Beute macht, gehört der fünfte Teil davon Gott und dem Gesandten und den Verwandten (w. dem Verwandten), den Waisen, den Armen und dem, der unterwegs ist (oder: dem, der dem Weg (Gottes) gefolgt (und dadurch in Not gekommen) ist; w. dem Sohn des Wegs). (Richtet euch danach) wenn (anders) ihr an Gott glaubt und (an) das, was wir auf unseren Diener (Mohammed) am Tag der Rettung hinabgesandt haben, – am Tag, da die beiden Haufen aufeinanderstießen! Gott hat zu allem die Macht. (Koranübersetzung nach Paret). Daraus sollte sich der Anspruch auf jeden fünften Knaben ergeben.

Das Scheriatrecht (Scharia) sah in dieser Stellungnahme des Koran, der Kriegszeiten betraf, jedoch keinen Bezug zur Praxis der Devşirme, und alle Scheriatschulen waren sich einig, dass die Versklavung und Zwangsbekehrung christlicher Reichsuntertanen mitten im Frieden gegen die Vorschriften des religiösen Rechts verstieß.[19] Die Knabenlese entbehrte daher nach Ansicht der muslimischen zeitgenössischen Rechtslehre jeder religiösen Legitimation. Sie erklärt sich einzig und allein aus der Staatsnotwendigkeit, d.h. dem Interesse des Sultans, ein neues Heer als unabhängige Machtquelle zu besitzen und der rechtlichen Fiktion, dass der ursprüngliche Kriegszustand mit den Unterworfenen noch nicht beendet sei, d.h. einer Verewigung des Kriegszustandes (djihad), wonach die weitere Existenz der Bevölkerung ins Belieben des jeweiligen Herrschers gestellt sei.[20]

Umfang, Auswirkungen

Der Umfang der Zwangsrekrutierung belief sich auf 10-12.000 Kinder pro Aushebungsjahr; in den 200 Jahren ihres Bestehens wurden bei einem Durchschnitt von 1.000 Ausgehobenen insgesamt etwa 200–300.000 Kinder zwangsrekrutiert und -islamisiert.[21] Die zahlenmäßigen Auswirkungen der Devşirme werden unterschiedlich beurteilt; sie reichen von der Aussage, sie habe „nur wenige Dörfer in größeren zeitlichen Abständen“ betroffen und „blieb wohl ohne demografische Auswirkungen“[22] bis zu schweren demografischen Schäden; so verloren Morea (Peloponnes) und Albanien aus diesem Grund einen guten Teil ihrer Bevölkerung, litten unter Arbeitskräftemangel und Wertminderung der Lehnsgüter[23]. Viel gravierender war jedoch der moralische Effekt der Knabenlese: die Eltern der Verschleppten, die nicht selten den sexuellen Missbrauch ihrer Kinder befürchteten,[24] blieben oft in Verzweiflung zurück, die unterworfene christliche Bevölkerung leistete gelegentlich offenen oder verdeckten Widerstand, oft durch die Drohung ganzer Bevölkerungsteile, zum Feind überzulaufen, meist aber in Form von Bestechung. [25]

Akzeptanz und Widerstand

Nicht nur im Inland, auch im christlichen Ausland erregte das System der Zwangsislamisierung Entsetzen und Abscheu und führte der osmanischen „Leyenda negra“ neue Nahrung zu, wie sie vor allem in den sog. „Türkenschriften“ (Flugblätter des 16. Jahrhunderts) verbreitet wurde[26], während die Sklaverei der Schwarzafrikaner und der transatlantische Sklavenhandel der europäischen Mächte außer Acht blieb; die Devşirme gehörte bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts der Vergangenheit an, die Sklaverei der Schwarzen währte noch weitere 150 Jahre.[27] Sie wird dabei auf den 100–500fachen Umfang geschätzt: Die Zahl der von der Devşirme Betroffenen betrug 200–300.000 Personen, die der betroffenen Schwarzen dagegen 20–100 Millionen.[28] Trotz der hohen Effektivität des Ausleseprinzips und der Schaffung einer hoch gebildeten und ausgebildeten Elite[29] war daher der Gesamtertrag der Devşirme angesichts der Binnen- und Außenwirkung für das Osmanische Reich zwiespältig.

Die Sonderrolle der Albaner, Bosnier und Herzegoviner

Eine Ausnahme bildete die Bitte der bosnischen Untertanen, weiter an der Devşirme teilnehmen zu dürfen; auffällig ist die Häufung hoher und höchster osmanischer Staatsbeamter und Militärs albanischer, bosnischer und herzegoviner Abstammung, die der Devşirme entstammten. Bosnien und Albanien hatten sich stets in einem Zwischenraum zwischen orthodoxer und der lateinischer Kirche befunden; im 13.–15. Jahrhundert war dort die dualistische Häresie der Paulicianer und Bogomilen weit verbreitet. Die Abkehr von den nie ganz akzeptierten, rivalisierenden beiden christlichen Lehren hin zum Monotheismus des Islam fiel der Bevölkerung daher leicht; schon 1463 wandten sich die Bosnier en masse dem Islam zu. Dass sie nun baten, ihre Kinder weiter auf die Palastschulen schicken und als Janitscharen dienen zu dürfen, erklärt sich aus dieser besonderen religiösen Situation.[30] Dass die Janitscharen angesichts ihrer Herkunft die „Geschlossenheit eines schottischen Clans[31] aufwiesen und andererseits dem stark christlich orientierten Einfluss des Derwischordens der Bektaschi zugänglich waren – einer „Halbstufe zwischen Islam und Christentum“[32] – ist nach dem vorher Gesagten nicht weiter verwunderlich.

Niedergang der Devşirme

Die Knabenlese wurde aufgrund ihrer Aufstiegsmöglichkeiten für islamische Familien immer interessanter; seit dem 17. Jahrhundert schmuggelten daher immer mehr Muslime und Türken, aber auch Juden und Zigeuner ihre Kinder auf dem Weg über Devşirme unter die Janitscharen. Diese hatten bereits 1581 die Eheerlaubnis erhalten; 1651 erzwangen sie die Erblichkeit ihres Standes und schlossen damit Neuzugänge aus. Die Folge waren ein Nachlassen der militärischen Eignung, Abkehr vom Leistungsprinzip, Aufgabe der sorgfältigen Erziehung sowie ein um sich greifendes Beziehungsunwesen, Protektionismus und Korruption. Der osmanische Staatsmann Koçi Bey (+ um 1650), der „Montesquieu der Osmanen“, selbst der Devşirme entstammend und Ratgeber zweier Sultane, beklagte daher in einer drastischen Denkschrift den Zugang von Vagabunden und den Niedergang der Führungselite durch die fehlende Knabenlese. Eher durch die inneren Widerstände der bereits Privilegierten als durch den Protest der betroffenen Bevölkerung wurde die Devşirme seit 1600 daher immer seltener und in geringerem Umfang angewendet; dennoch wurden bis Anfang des 18.Jhs. Devşirmes zumindest noch angeordnet.[33]

Herkunft und Funktion der Devşirme: die Institution der „Sklavenarmeen“

In seiner eigentümlichen Mischung aus Verschleppung von fremden Ungläubigen, von Zwangsbekehrung, sorgfältiger Erziehung und anschließender Militarisierung bzw. Integration in die Herrenschicht folgte die Devşirme einer seit den ersten Kalifen geübten Brauch im gesamten arabisch-islamischen Raum: der Tradition der Sklavenarmeen.[34] Vom omajadischen Spanien über die Beherrscher Nordafrikas, Ägyptens, des Nahen Ostens bis Iran und Indien bis hin nach Bengalen existieren seit dem 7. Jahrhundert Sklavengarden und -armeen, deren Mitglieder zugleich hohe Ämter in Militär und Verwaltung bis hin zur eigentlichen Königsgewalt selbst innehatten. Die Tuluniden und Mamluken Ägyptens, die Abbasiden des Irak, die Samaniden in Persien, die Ghuriden Afghanistans, die bis nach Rajasthan und Bengalen vordrangen, die Herrscher des Sultanats von Delhi (1206-1288), die Buriden von Damaskus, die Zangiden in Mesopotamien, die Shahs von Armenien und Chwarezm, die Deys von Algier und Tunis und viele andere[35] setzten die systematische Erziehung von zwangsbekehrten Untertanen, von Kriegsgefangenen und Fremden zum Staatsdienst und die Rekrutierung von Sklavenarmeen zum Erhalt ihrer Herrschaft ein, waren selbst oft von Sklavenherkunft und herrschten über Armeen von Sklaven; dementsprechend bezeichnete der Spanier Juan Sebastián Elcano um 1509 den Dey von Tunis zutreffend als „Despot ohne Freiheit, ein König der Sklaven und Sklave seiner Untertanen“.[36] Die Osmanen konnten die Einrichtung des Kindertributs sogar von ihren unmittelbaren Vorgängern, den Seldschuken übernehmen,[37], hatte doch Nizam al-Mulk, „the quintessential vizier“ (1018-1092), dem Seldschukensultan in seinem Siyāsatnāma („Buch der Regierung“) ausdrücklich zur Aufstellung einer Garde aus dem Kindertribut geraten.[38]

Für die Angehörigen dieser Gruppe bestanden exklusive Bestimmungen, was Abstammung und Glauben anging; für die Emire und Mamluken Ägyptens galten die strengsten Regeln: sie durften nicht als Muslime geboren sein, mussten den Kyptschaktataren entstammen und Sklave gewesen sein. Dies vorausgesetzt, standen ihnen in ihrer neuen Heimat Ägypten die Türen zu den höchsten Staatsämtern offen.[39] Ähnliches galt für sämtliche anderen Sklavendynastien des arabisch-islamischen Raums bis nach Südostasien, und zwar bereits seit dem 7. Jahrhundert.

Als Ursache der vom westlichen Mittelmeer bis zum Golf von Bengalen belegten Praxis gilt vor allem die Sippenstruktur der arabischen Gesellschaft, die der neu erstandenen Macht, wie sie seit den ersten Kalifen vorhanden war, starke Widerstände entgegensetzte; der Kalif wurde in diesem System nicht als Verkörperung eines übergeordneten Staatsbegriffs, sondern als Anhänger einer Partei empfunden, so dass sich die Schaffung einer künstlichen, dem Herrscher ergebenen land- und sippenfremden Garde aus Unfreien, die als neue „Sippe“ den Staatsgedanken trägt und verkörpert, in dieser Form nur in den islamischen Staaten des Mittelalters und der frühen Neuzeit findet.[40] Der Vergleich mit der von Germanen und anderen Völkern durchsetzten Prätorianergarde, dem römischen Heer der Spätantike oder der byzantinischen Herkulianer- bzw. der Warägergarde zeigt, wie viel mehr das Devşirme-System auf „Fremdartigkeit“ und eine ausgeprägte Staats-Pädagogik[41] als Systembestandteil arabisch- und türkisch-muslimischer Herrschaft setzte. [42] Schon der weit gereiste Tunesier Ibn Chaldun (1332-1406) betrachtete jedoch die Verwendung fremder Elemente im Staatsdienst, die die Sippen und Lehnsherren in ihre Schranken zwingen sollten, sehr kritisch: sie entfremde die Untertanen dem Herrscherhaus und löse die Bande der Blutsverwandtschaft.[43]

Die fremden, oft der Sprache unkundigen Soldaten (daher manchmal als „die Stummen“ bezeichnet), als Leibgarde gegen den inneren Feind gedacht, wurden oft zur Plage für die Bevölkerung, gleich ob Ungläubige und Gläubige.[44] Im Unterschied zu den anderen islamischen Dynastien verstanden es die Osmanen jedoch, 36 Generationen lang - mehr als ein halbes Jahrtausend - selber die Herrschaft auszuüben, ohne die Macht an ihre Militärsklaven zu verlieren (1281-1826/1922).[45] Devşirme stellt aus dieser Sicht „die höchstentwickelte Form … der militärischen Sklaverei“ dar.[46]

Wertung

Das Phänomen der „Knabenlese“ wurde von Anfang als ein Akt der Barbarei empfunden[47] und seit der ersten Wiener Türkenbelagerung von der Anti-Türkenpropaganda auch so eingesetzt. Zusammen mit dem zeitweise gesetzlich sanktionierten Brudermord innerhalb des Herrscherhauses wurde die Devşirme zum Sinnbild für die eiserne Staatsraison der Osmanen, die freilich durch das zeitgleiche Vorgehen der christlichen Herrscher und ihrer Truppen stark relativiert wird: die katastrophale Plünderung des päpstlichen Rom durch christliche, kaiserliche Truppen (Sacco di Roma), die schändlichen Begleitumstände der Einnahme von Tunis 1535, Andrea Dorias Raubzug entlang der griechischen Küsten, die Praxis, Andersgläubige (u.a. Calvinisten) zeitweise oder auf Lebenszeit als Sklaven auf die Galeeren zu schicken, die Vorgehensweise der spanischen Inquisition gegen Juden, Moriskos und Protestanten und die beginnende Versklavung der Schwarzen durch europäische, christliche Nationen machen ein einseitiges moralisches Urteil fragwürdig. Moritz Brosch fasste daher schon 1904 sein Urteil folgendermaßen zusammen: „die Osmanen waren besser, die Spanier und die Kaiserlichen schlechter als ihr Ruf“.[48]

Zeitgenössische Aussagen

Der ehemalige Janitschare, der Serbe Konstantin aus Ostrovitza, selbst Opfer der Knabenlese, beschreibt in seinen Memoiren eines Janitscharen den Vorgang:

Immer, wenn sie in ein Land einfallen und sich die Bevölkerung untertan machen, reitet sogleich der Schreiber des Sultans hinter ihnen her, der alle Knaben, soviele es auch sein mögen, zu den Janitscharen einzieht. […] Wenn man von einem feindlichen Volk nicht so viele hat herausbekommen können, nimmt man sie von den Christen im eigenen Land, sofern diese Knaben besitzen. […][49] 320 Knaben und 704 Weiber hielt der Sultan zurück; letztere verteilte er unter den Heiden, die Knaben aber zog er zu seinen Janitscharen ein und sandte sie übers Meer nach Anatolien, wo sie aufgezogen wurden, Auch ich wurde damals aus jener Stadt (Novo Brdo) mit meinen zwei Brüdern in die Gefangenschaft geschleppt, ich, der ich dies alles aufgeschrieben habe.

[50]

Berühmte Absolventen der Devşirme

Literatur

  • Encyclopedia of Islam and Muslim World. 2 Bde. New York u.a. 2004.
  • Suraiya Faroqhi: Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. München : Beck 1995.
  • Cyril Glassé: The Concise Dictionary of Islam. Intr. by Huston Smith. London : Stacey 1989.
  • Renate Lachmann (Übersetzung, Einleitung): Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik. In: Günther Stökl (Hrsg.): Slavische Geschichtsschreiber, Band VIII. Graz.Wien. Köln : Styria 1975.
  • V.J. Parry: The Ottoman Empire. In: New Cambridge Modern History, Bd.3 (1968), Kap. 11, S.347-376.
  • Basilike D. Papoulia: Ursprung und Wesen der 'Knabenlese' im osmanischen Reich. München 1963.
  • V.L. Ménage: Devshirme. In: The Encyclopedia of Islam. New Edition [EI2]. 12 Bde. Leyden. London : Brill. Luzac 1960-2004. Bd.2 (1965), S.210-212.
  • J.H. Mordtmann: Dewshirme. In: The Encyclopedia of Islam [EI1]. 5 Bde. Leyden : Brill 1913-1936. Bd.1 (1913), S.952-953
  • Moritz Brosch: The height of the Ottoman power. In: The Cambridge Modern History. Bd.3 (1904), S.104-139.
  • Johann Wilhelm Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa. 7 Bände und 1 Registerband (von J.H. Möller). Hamburg. Gotha : Perthes 1840-1863. (Reihentitel: A.H.L. Heeren. F.U. Ukert: Geschichte der europäischen Staaten.). - Zinkeisens Werk ist für viele Details zur Devşirme bis heute wesentliche Quelle, vor allem Band 3 Das innere Leben und angehender Verfall des Reiches bis zum Jahre 1623. (1855), IV. Buch, 1. Kapitel, S.205-232.

Einzelnachweise

  1. Griechisch παιδομάζωμα paidomázoma „Kindereinsammeln“, bulgarisch кръвен данък kraven danak, serbokroatisch krvni danak/Данак у крви, „Blutzoll“
  2. Papoulia S.42
  3. V.L. Ménage: Devshirme. In: The Encyclopedia of Islam. New Edition [EI2]. 12 Bde. Leyden. London : Brill. Luzac 1960–2004. Bd.2 (1965), S.210–212
  4. Bursa, Lefke, Iznik, Batum, ganz Kleinasien; Ménage, Devshirme, S.212
  5. Ménage, Devshirme, S.212
  6. Insofern lässt sich Mordtmann nicht zustimmen, der das Vorgehen mit einem „afrikanischen Sklaven-Raid“ vergleicht; Dewshirme S.952.
  7. Karlsruher Türkenbeute, Kap.„Knabenlese“
  8. Papoulia S.110
  9. Ménage, Devshirme, S.210
  10. Bei der Kapitulation von Rhodos 1522 zählte die Befreiung der Einwohnerschaft von der Knabenlese zu den Übergabebedingungen.
  11. Karlsruher Türkenbeute, Kap. „Knabenlese“
  12. „Die ausgelassenste und zügelloseste Bande und … deshalb in ganz Constantinopel mehr gefürchtet als selbst die Janitscharen“; Zinkeisen, Bd.3, S.226
  13. „Nebst dem Solde haben sie die Versicherung, dass ihnen ihr Sold unverrückt gegeben werden muss, wenn sie auch gleich lahm und zu einem Kriegs-Diensten untüchtig werden [201] sollten“; Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd.14. Leipzig. Halle 1735. Sp.200–203 s.v. Janitscharen, Janitscharen-Aga.
  14. Papoulia, S.3
  15. Tore Kjeilen: Devsirme. In: Looklex Encyclopedia
  16. Laut Glassé, Dictionary, S.206, durften die Janitscharen erst seit 1581 heiraten.
  17. Vgl. Faroqhi, Kultur, S.42
  18. Gudrun Krämer: Geschichte des Islam. C. H. Beck Verlag, München 2005, hier: Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2005, S.208 f.
  19. Papoulia S.43 Anm.2, S.110
  20. Papoulia S.52
  21. Tore Kjeilen: Devsirme. In: Looklex Encyclopedia http://lexicorient.com/e.o./devsirme.html
  22. Klaus Kreiser: Osmanisches Reich (bis 1683): Geburt und Aufstieg einer Weltmacht. In: Brockhaus multimedial 2007 premium.
  23. Zinkeisen, Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd.3, S.220; zit. nach Papoulia S.110
  24. Papoulia S.64
  25. Papoulia S.109 f.; Karlsruher Türkenbeute: Abschnitt „Knabenlese“; www.tuerkenbeute.de
  26. Zinkeisen, Geschichte Bd.1, Vorwort S.IX
  27. 1519 vergab Karl V. die erste Lizenz zum Sklavenhandel (asiento), 1526 fand die erste Lieferung nach Westindien statt. Während der Sklavenhandel in den Jahren 1792–1845 nach und nach abgeschafft wurde, blieb die Sklaverei als Daseinsform noch weiter bestehen: im britischen Empire bis 1833, in Frankreich bis 1848, in den niederländischen Kolonien bis 1863, in den spanischen Besitzungen bis 1873, in den Vereinigten Staaten bis 1865 und in Brasilien bis 1888. – Karl Mauder: Sklaverei. In: Der Brockhaus multimedial 2007, Version 9.
  28. Microsoft encarta 2002 s.v. Sklaverei
  29. Karlsruher Türkenbeute, Kap. „Knabenlese“
  30. Der Brockhaus multimedial 2007 premium s.v. Bosniaken, Bogomilen; Encyclopaedia Britannica Ultimate Reference Suite. Version 2010.01 s.v. Bogomil.
  31. Papoulia S.41
  32. Papoulia, S.41, Anm.29
  33. Die letzten Devşirme fanden 1705 in Griechenland statt, 1738 wird sie noch einmal erwähnt; Ménage, Devshirme S.212.
  34. Papoulia, Knabenlese S.12 ff. mit Literaturangaben.
  35. Papoulia, Knabenlese, S.16-21.
  36. Mordtmann, Dewshirme, S.953.
  37. Papoulia S.14, S.57
  38. Encyclopaedia Britannica Ultimate Reference Suite. Version 2010.01 s.v. Nizam-ul-Mulk
  39. Papoulia S.20
  40. Papoulia, Knabenlese S.30 ff.
  41. „Man kann nicht leugnen, dass dieses osmanische Erziehungssystem … sich durch zwei wesentliche Vorzüge auszeichnete, denen selbst sehr verständige gleichzeitige christliche Beurtheiler ihre Anerkennung, ihre Bewunderung nicht versagen konnten: Einmal den Fleiß und die Sorgfalt, welche auf die nach einem bestimmten Ziele hin gerichtete Ausbildung junger Leute verwendet wurde; und dann die strenge und umsichtige Prüfung ihrer körperlichen und geistigen Eigenschaften… Das bedingte in den Augen osmanischer Politiker vorzugsweise den Werth des menschlichen Wesens, den man im Allgemeinen sehr hoch anschlug, selbst höher, wie in christlichen Staaten.“ Zinkeisen, Bd.3, S.212
  42. Einen erfolgreichen Versuch, den eingesessenen, meist feudalen Eliten ein von der Zentrale abhängiges Gegengewicht entgegen zu stellen, stellt das chinesische Prüfungssystem (606–1911) dar, das eine unvererbliche Verdienst- oder Leistungselite (Meritokratie) hervorbrachte, die im Gegensatz zur Devşirme jedoch auf der freien, einheimischen Bevölkerung beruhte.
  43. Papoulia S.30
  44. Papoulia S.33, S.35
  45. 1826 wurde das Janitscharenkorps gewaltsam aufgelöst.
  46. Papoulia, Knabenlese S.22 f.
  47. Zinkeisen Bd.3, IV. Buch, 1. Kap., S.230; Brosch, Ottoman Empire, S.105
  48. „Ottomans were better, the Spaniards and Imperialists worse than their reputation“; Moritz Brosch: The height of the Ottoman power. In: The Cambridge Modern History. Bd.3 (1904), S.104-139. S.105.
  49. Renate Lachmann: Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik. Graz. Wien. Köln : Styria 1975. S. 150.
  50. Lachmann, Memoiren, S. 113.

Weblinks


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