- Konflikte im Nigerdelta
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Konflikte im Nigerdelta basieren neben den ethnischen Differenzen im Vielvölkerstaat Nigeria auf einem bis heute ungelösten Streit um die Erdölförderungen im Nigerdelta zwischen den betroffenen Ethnien einerseits und den vor Ort tätigen internationalen Erdölkonzernen, insbesondere das Unternehmen Royal Dutch Shell, und der nigerianischen Zentralregierung andrerseits.
Die Erdölförderung schädigt seit den 1960er Jahren immer mehr die Ökologie und damit die Landwirtschaft, Aquakultur und Fischerei, aber der Gewinn aus der Erdölförderung wird nach der Ansicht der betroffenen Ethnien sehr ungerecht verteilt. Seit den 1990er Jahren werden die Konflikte immer militanter, die Strafverfolgung immer schwieriger und die Täter bleiben immer häufiger straffrei[1].
Inhaltsverzeichnis
Kontrolle über das Erdöl
Kaiama Deklaration
Am 11. Dezember 1998 trafen sich in Kaiama im Bundesstaat Bayelsa von Nigeria Jugendliche der Ethnie Ijaw aus über fünfhundert Gemeinden und vierzig Clans im Nigerdelta, um zu beraten, wie man das Überleben der Ijaws im Nigerdelta auf Dauer im Staat Nigeria sicherstellen kann [2].
Feststellungen der Ijaw Jugendlichen
- Die Ijaw Nation wurde durch die britische Kolonisation gewaltsam unter den Staat Nigeria gestellt.
- Die Ijaws hätten sich als eine souveräne Nation mit einer politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Autonomie entwickelt, wenn nicht die ökonomischen Interessen der Imperialisten gewesen wären.
- Mit der Aufteilung des Süd-Protektorats in Ost und West begannen die Briten 1939 die Balkanisierung eines bisher zusammenhängenden und kulturell homogenen Ijaw Volkes in politische und administrative Einheiten und weiter in sechs Staaten (Ondo, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers und Akwa Ibom), in denen die Ijaws meistens als Minderheit sozio-politische, wirtschaftliche, kulturelle und psychologische Verluste erlitten.
- Die Lebensqualität des Ijaw Volkes wurde infolge einer völligen Vernachlässigung, Unterdrückung und Ausgrenzung durch die Allianz des nigerianischen Staates mit den transnationalen Ölgesellschaften zerstört.
- Die politische Krise in Nigeria ist hauptsächlich ein Kampf um das Erdöl, das über 80% des Bruttoinlandprodukts, 95% des Staatshaushalts und 90% der Einkünfte aus ausländischen Devisengeschäften ausmacht, von denen 65%, 75% beziehungsweise 70% von der Ijaw Nation stammen. Trotz dieser großen Beiträge entlohnt der nigerianische Staat mit vermeidbaren Todesfällen, die aus Umweltzerstörung und militärischer Repression resultieren.
- Die unverminderte Schädigung der fragilen natürlichen Umwelt und der Gesundheit der Ijaws ist hauptsächlich auf die unkontrollierte Rohöl- und Erdgas-Suche und -Förderung zurückzuführen, die zu zahlreichen Ölverschmutzungen, unkontrollierten Abfackelungen, zu Entwaldungen, wahllosen Kanalisationen, Überflutungen, Erdsenkungen, Küstenerosionen, Erderschütterungen und so weiter führten. Öl und Gas sind begrenzte Rohstoffe, und das völlige Desinteresse an einer ökologischen Wiedernutzbarmachung signalisiert angesichts der Erfahrung von Oloibiri ein drohendes Unheil für die Völker von Ijawland.
- Die Umweltzerstörung in Ijawland durch transnationale Ölgesellschaften und den nigerianischen Staat entstehen hauptsächlich, weil die Ijaws ihrer natürlichen Rechte auf Eigentum und Kontrolle über ihr Land und ihre Rohstoffe mittels undemokratischer Gesetzgebungen im nigerianischen Staat beraubt wurden, wie das Landnutzung-Dekret von 1978, das Petroleum-Dekret von 1969 und 1991, das Länder-Dekret Nr. 52 von 1993 (Osborne Land Decret), das Wasserwege-Dekret (National Inland Waterways Authority Decret) Nr. 13 von 1997 und so weiter.
- Das Herkunftsprinzip (principle of derivation) in der Verteilung der Staatseinkünfte wurde bewusst und systematisch durch aufeinanderfolgende Regime des nigerianischen Staates entwertet. Wir erwähnen die drastische Reduktion des Herkunftsprinzip von 100% (1953), 50% (1960), 45% (1970), 20% (1975) 2% (1982), 1.5% (1984) auf 3% (1992) und gemunkelte 13% in Abacha's undemokratischer und nicht umgesetzter Verfassung.
- Die Gewalttaten in Ijawland und anderen Teilen des Nigerdelta, die sich manchmal in intra- und inter-ethnischen Konflikten manifestieren, werden durch den Staat und transnationale Ölgesellschaften gesponsert, um die Gemeinschaften im Nigerdelta zu teilen, zu schwächen und von den Ursachen ihrer Probleme abzulenken.
- Die kürzlich offenbarte Plünderung der nationalen Staatskasse durch die Abacha-Junta reflektiert nur einen existierenden, beständigen Trend zum Stehlen durch öffentliche Amtsträger im nigerianischen Staat. Wir erinnern an die über 12 Milliarden Dollar (gulf war windfall), die durch Babangida und seine Kohorten geplündert wurden. Über 70% der Milliarden von Dollar, die von Militärherrschern und ihren zivilen Kollaborateuren geplündert wurden, stammen aus dem umweltzerstörten Ijawland.
Resolutionen der Ijaw Jugendlichen (Kaiama Deklaration)
- Das gesamte Land und alle Rohstoffe (einschließlich Minerale) auf dem Ijaw Territorium gehören den Ijaw Gemeinden und sind die Grundlage für unser Überleben.
- Wir lehnen alle undemokratischen Dekrete ab, die unseren Völkern/Gemeinden das Recht auf Eigentum und Kontrolle über unser Leben und über die Rohstoffe rauben. Die Dekrete wurden ohne unsere Teilnahme und Zustimmung verfügt, wie das Landnutzung-Dekret, das Petroleum-Dekret und so weiter.
- Wir fordern den sofortigen Rückzug des gesamten Militärs aus Ijawland, das der nigerianische Staat für die Besetzung und Unterdrückung einsetzt. Jede Ölgesellschaft, die die Dienste des Militärs des nigerianischen Staates nutzt, um ihre Operationen zu schützen, wird als ein Feind des Ijaw Volkes betrachtet. Familienmitglieder von Militärpersonal, die im Ijwaland stationiert sind, sollten an ihre Leute appellieren, das Ijaw Gebiet in Ruhe zu lassen.
- Die Ijaw Jugendlichen aus allen Gemeinden aller Ijaw Clans im Nigerdelta werden Maßnahmen ergreifen, um diese Beschlüsse ab dem 30. Dezember 1998 als ein Schritt zur Rückgewinnung der Kontrolle über unser Leben zu verwirklichen. Wir fordern deshalb, dass alle Ölgesellschaften alle Such- und Förderungsaktivitäten im Ijaw Gebiet stoppen. Wir haben genug von Abfackelungen, Ölverschmutzungen, Gasausbrüchen und davon, als Saboteure und Terroristen etikettiert zu werden.
- Die Ijaw Jugendlichen werben für das Prinzip der friedlichen Koexistenz zwischen allen Ijaw Gemeinden und mit unseren unmittelbaren Nachbarn, trotz der provokativen und entzweienden Aktionen des nigerianischen Staates, der transnationalen Ölgesellschaften und ihrer Subunternehmer. Wir wollen Freundschaft und Kameradschaft mit unseren Nachbarn: Itsekiri, Ilaje, Urhobo, Isoko, Edo, Ibibio, Ogoni, Ekpeye, Ikwerre und so weiter. Wir bestätigen unsere Verpflichtung, gemeinsam mit anderen ethnischen Nationalitäten im Nigerdelta für die Selbstbestimmung zu kämpfen.
- Wir zeigen uns solidarisch mit allen Organisationen und ethnischen Nationalitäten in Nigeria und anderswo, die für Selbstbestimmung und Gerechtigkeit kämpfen. Insbesondere erwähnen wir den Kampf der O’odua People’s Congress (OPC), Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP), Egi Women's Movement und so weiter.
- Wir sind solidarisch mit den nigerianischen Ölarbeitern (NUPENG und PENGASSAN) und erwarten, dass sie diesen Freiheitskampf als einen Kampf um Menschlichkeit ansehen.
- Wir lehnen das gegenwärtige Demokratisierungsprogramm des Abubakar Regimes ab, da keine Neugliederung der nigerianischen Föderation vorausging. Zielführend ist eine „Souveräne National-Konferenz“ von gleichmäßig repräsentierten ethnischen Nationalitäten, um die demokratische Föderation von nigerianischen, ethnischen Nationalitäten zu diskutieren. Die Konferenz sollte die Gewalttaten und Tötungen erwähnen, die die letzten lokalen Regierungswahlen in den meisten Teilen des Nigerdelta kennzeichneten. Die Konferenz sollte darauf hinweisen, dass diese Konflikte bei den Wahlen die undemokratische und ungerechte Natur des militärischen Übergangsprogramms manifestierten. Die Konferenz sollte deshalb bestätigen, dass die Militärs unfähig sind, eine wahre Demokratie in Nigeria einzusetzen.
- Wir rufen alle Ijaws auf, dem Volkstum der Ijaws treu zu bleiben und für die totale Befreiung zu arbeiten. Es gibt keine andere Heimat als in Ijawland.
- Wir wollen innerhalb Nigeria verbleiben, aber fordern und arbeiten an der Selbstverwaltung und Rohstoffkontrolle für das Volk der Ijaw. Eine Konferenz sollte anerkennen, dass eine Föderation von ethnischen Nationalitäten das Beste für Nigeria ist. Die Föderation sollte auf Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit basieren.
Ijaw Youth Council
Massaker von Odi
NDPVF und NDV
Revierkämpfe (Port Harcourt)
„All-Out War“ der NDPVF
Am 24. September 2004 erklärt Alhaji Mujahid Dokubo-Asari den „all-out war“ an die ausländischen Ölgesellschaften und Botschaften [3]. Ein am 1. Oktober 2004 mit dem nigerianischen Präsidenten Olusegun Obasanjo vereinbartes Abkommen über eine sofortige Waffenruhe, über die Auflösung aller Milizen und militanten Gruppen und über die vollständige Entwaffung[4] war schon wenige Wochen später hinfällig. Asari verweigerte in einem offenen Brief an den Präsidenten die Zusammenarbeit und proklamierte die Souveränität des Nigerdeltas[5].
Der ständige Angriff auf Ölquellen und Pipelines im Nigerdelta führt zu einem Abfall der Erdölproduktion und zu einem weltweiten Anstieg des Ölpreises.
Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas (MEND)
Ab Jahresbeginn 2006 tritt eine bisher unbekannte militante Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas (MEND) auf, die insbesondere im Januar und Februar mit ihren Attacken auf Anlagen der Royal Dutch Shell deren Erdölproduktion empfindlich traf.
Inzwischen bildet die MEND eine vom Joint Revolutionary Council (JRC) gesteuerte Allianz mit der Martyrs Brigade[6], die von Cynthia White gegründet wurde, nachdem sie als frühere Sprecherin von Alhaji Mujahid Dokubo-Asari die NDPVF verlassen hatte.
Eskalation ab August 2006
Am 14. August 2006 warnt das Auswärtige Amt vor Reisen in die Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers und Akwa Ibom nicht zuletzt angesichts der erhöhten Gefahr von Geiselnahmen[7].
Am 15. August verkündete Präsident Olusegun Obasanjo den militärischen Kampf („force for force“) gegen Geiselnehmer und eine ständige Küstenüberwachung [8][9].
Am 20. August 2006 wurden von der Joint Military Task Force (JTF)[3] zehn vermeintliche MEND Mitglieder getötet, die aber Mitglieder einer Delegation gewesen sein sollen, die nach einer erfolgreichen Verhandlung den am 8. August entführten Shell-Mitarbeiter aus der Geiselhaft befreit hatten. Die Geisel ist vermutlich auch ums Leben gekommen.
Am 22. August 2006 empfiehlt die US-amerikanische Regierung ihren Staatsangehörigen, dem Nigerdelta fernzubleiben [8]
Einige Entführungsfälle im August 2006
Datum Entführung Täter Quelle 3. August 2006 Ein deutscher Mitarbeiter der Baufirma Bilfinger Berger in Port Harcourt wird entführt. Zu der Geiselnahme bekennt sich eine bislang unbekannte Rebellengruppe. Die Entführer bekräftigten ihre Forderung nach einer Entlassung zweier ihrer Anführer aus nigerianischer Haft. Der Deutsche wurde am 20. August wieder aus der Geiselhaft entlassen. Bewegung für das Volk des Niger-Deltas (MONDP) FAZ[10]
TAZ[11]4. August 2006 Drei philippinische Ölarbeiter werden von Bewaffneten aus einem Bus nahe Port Harcourt entführt. Sie werden zehn Tage später freigelassen. 8. August 2006 Ein Shell-Mitarbeiter wird entführt und ist vermutlich am 20. August in einem Gefecht mit der Joint Task Force (JTF) des nigerianischen Militärs ums Leben gekommen. Al-Dschasira[12]
Vanguard[8]9. August 2006 Zwei Norweger und zwei Ukrainer werden von einem Versorgungsschiff vor der nigerianischen Küste als Geiseln genommen und am 16. August 2006 wieder freigelassen. ABC[13] 10. August 2006 Ein belgischer Arbeiter und sein marokkanischer Kollege werden in Port Harcourt entführt. Beide kommen am 14. August wieder frei. 13. August 2006 Mindestens fünf ausländische Ölarbeiter (ein Deutscher, zwei Briten, ein Ire und ein Pole) werden kurz vor Mitternacht aus einem Nachtclub in Port Harcourt verschleppt. Der Deutsche Staatsangehörige wurde am 23. August 2006 wieder freigelassen. WELT[14]
n-tv[15]
Vanguard [8]
HRW[9]Weblinks
Weiterführende Informationen
- Bundeszentrale für politische Bildung Nigeria basierend auf den Fischer Weltalmanach
Umweltschäden und Entwicklungshilfe
- Doris Danler/Markus Brunner(1996) Öl und Umweltschäden - Am Beispiel von Shell im Niger Delta
- Sebastian Bräuer: Shell gefährdet Ölförderung. ZEIT online, 28. Juni 2006
- Umfangreiches Diskussionspapier im Auftrag von Greenpeace, erstellt von Jan Willem van Gelder in Zusammenarbeit mit Jos Moerkamp: Das Nigerdelta: ein zerrüttetes Ökosystem - Die Rolle von Shell und anderen Ölkonzernen
Deklarationen
- United Ijaw: Kaiama Declaration (engl.) vom 11. Dezember 1998
Militante Konflikte
- Ibada S. Ibada: Alienation and Militancy in the Niger Delta: Hostage Taking and the Dilemma of the Nigerian State. African Journal on Conflict Resolution 8, Nr. 2, 2008, S. 11–34
- Rivers and Blood: Guns, Oil and Power in Nigeria’s Rivers State. Human Rights Watch, Februar 2005
Quellen
- ↑ Human Rights Watch:The Emergence of Armed Groups in Rivers State
(6) The prevailing culture of impunity in Nigeria - ↑ Kaiama Declaration (engl.)
- ↑ a b Nigeriafirst 29. September 2004 Government squares up against insurgents
- ↑ Human Rights Watch: The Agreement to End the Violence in Rivers State
- ↑ United Ijaw: NDPVF AN OPEN LETTER TO THE PRESIDENT OF THE NIGERIAN STATE
My Position for a comprehensive settlement of the Niger Delta Imbroglio - ↑ United Ijaw: NDPVF The Martyrs Brigade
- ↑ AA Reisewarnung vom 14. August 2006 Sicherheitshinweise
- ↑ a b c d Vanguard-Online (27. August 2006): Anger in N-Delta
They killed 10 negotiators, hostage, mistaking them for militants - ↑ a b Human Rights Watch 29. August 2006: Nigeria: Military Must Be Held to Account for Razing of Community
- ↑ FAZ
- ↑ TAZ
- ↑ aljazeera.net 24. August 2006: Nigerian oil activists vow revenge
- ↑ ABC
- ↑ WELT
- ↑ n-tv
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