Prozess der Nationalen Reorganisation

Prozess der Nationalen Reorganisation
Die erste Militärjunta (1978)
Fotos von während der Diktatur verschwundenen Menschen (Desaparecidos).

Prozess der Nationalen Reorganisation (spanisch Proceso de Reorganización Nacional, oft mit Proceso abgekürzt) war die von der argentinischen Militärjunta selbst gewählte Bezeichnung für die Zeit ihrer Herrschaft von 1976 bis 1983. Während das Land durch ein rechtsgerichtetes, autoritäres Militärregime regiert wurde, kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen mit Staatsterror (ca. 30.000 Opfer) und Gegenterror von Seiten linker Guerillaorganisationen und gegen Ende zu einer tiefen Wirtschaftskrise und zum Falklandkrieg.

Der Name wurde von der Militärregierung selbst gewählt, um den vorübergehenden Charakter dieses „Prozesses“ anzudeuten. Die Nation, die sich zu dieser Zeit in einer tiefen gesellschaftlichen Krise befand, sollte nach konservativen Idealen „neu organisiert“ und dann nach dem Plan der Militärs in die Demokratie „entlassen“ werden.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Argentinien war Ende der 1960er-Jahre in eine gesellschaftliche Krise geraten, deren Ursache die Spaltung zwischen der rechten Militärregierung unter Juan Carlos Onganía und Roberto Levingston, der Arbeiterbewegung und linksgerichteten, teils gewaltbereiten Organisationen wie der Montoneros war, die teils mit dem Peronismus, teils mit dem Sozialismus sympathisierten. Es kam zu zahlreichen Unruhen, die bis hin zu regelrechten Volksaufständen wie dem Cordobazo 1969 ausarteten.

Als letzter Ausweg erschien dem Regime die Demokratisierung. Juan Perón kam nach mehreren Kurzzeitpräsidenten 1973 wieder an die Macht, was zu einer kurzzeitigen Stabilisierung führte. Nach seinem Tod im Juli 1974 wurde seine Frau Isabel Perón („Isabelita“) Präsidentin. Unter ihrer Regierung bekam das Land zunehmende wirtschaftliche Probleme. Auf Phasen hoher Inflation folgten wirtschaftliche Notprogramme mehrerer Wirtschaftsminister, die jedoch die Situation nicht entschärfen konnten, auch das Wirtschaftswachstum war 1975 und 1976 negativ. Zudem entzündete sich abermals der Konflikt zwischen dem Staat und den linken Guerilla-Organisationen, die sich dem konsequenten Rechtskurs der Regierung entgegenstellten. Seit ihrer Gründung Ende 1973 wurde durch die Alianza Anticomunista Argentina (AAA) und andere paramilitärische Organisationen Staatsterror ausgeübt. Mehrere Korruptionsskandale verschlechterten das Image der Regierung zusätzlich, was letztendlich den gewaltsamen Machtwechsel von 1976 begünstigte.

Verlauf der Diktatur

Der „Schmutzige Krieg“ gegen die Guerilla (1976-78)

Beim Militärputsch am 24. März 1976 wurde Isabel Perón ihres Amtes enthoben und durch eine Militärjunta ersetzt, die von Jorge Videla, dem Oberkommandierenden der argentinischen Streitkräfte angeführt wurde. Der Putsch selbst war leicht vorauszusehen gewesen, da die Militäroberen in den Tagen zuvor mehrmals mit der Regierung über einen freiwilligen Rücktritt der Präsidentin verhandelt hatten, was einem Ultimatum gleichkam. Die Machtübernahme dauerte nur wenige Stunden, es gab keinen Widerstand von Seiten der Regierung. Das Regime löste noch am selben Tag den Kongress auf, enthob die oberste Gerichtsbarkeit des Landes ihres Amtes und suspendierte die Tätigkeit aller politischen Parteien für unbestimmte Zeit.

Am Anfang konnte das Regime einen relativ großen Zuspruch in der Bevölkerung erhalten, da diese von der Regierung Isabel Perón enttäuscht war und es zunächst zu einer kurzzeitigen Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation kam. In ihrer Regierungserklärung hatte die Junta erklärt, ihre Politik an der Basis christlich-konservativer Werte auszurichten, aber gegen die Guerillaorganisationen und sonstige Akte der so genannten Subversion vorzugehen. Um die Basis für eine erneute Demokratisierung, der sogenannten „Zweiten Republik“ zu setzen, wurde ein Dialog mit wichtigen Persönlichkeiten aus Politik, Gewerkschaften und Religion angekündigt.

Einige „Madres“ bei Präsident Nestor Kirchner

Schon nach wenigen Wochen wurde klar, dass die neue Regierung das Ziel der Subversionsbekämpfung mit aller Härte verfolgen würde. Es wurden geheime Haftanstalten eingerichtet, die später mit den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten verglichen wurden. In den etwa 340 landesweit verteilten Einrichtungen[1] wurden oft mehr oder weniger willkürlich ausgewählte „Verdächtige“ ohne Prozess monate- oder jahrelang festgehalten. Fast alle Festgehaltenen wurden systematisch gefoltert und später umgebracht, nur ein Bruchteil wieder freigelassen.[1] Schwangere Frauen wurden zum Teil getötet, nachdem sie geboren hatten. Ihre Kinder gab man zur Adoption an Familien von Offizieren, teilweise gegen Geld. Das größte dieser Geheimgefängnisse war die Technikschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires, wo während der Diktatur etwa 5000 Menschen gefoltert und ermordet wurden. Die Regierung kooperierte gleichzeitig mit zahlreichen kriminellen Todesschwadronen, etwa der Alianza Anticomunista Argentina, die geduldet oder auch unterstützt wurden. Diese terrorisierten grundlos insbesondere Einwanderer aus den Nachbarländern, Juden, Muslime und Studenten.

Auch zahlreiche Ausländer, die sich zu jener Zeit im Land aufhielten, wurden festgenommen. Manche kamen nach Intervention der jeweiligen Botschaften und Konsulate frei. Vor allem Frankreich und das Vereinigte Königreich bemühten sich erfolgreich, ihre Staatsbürger durch diplomatische Aktivitäten zu befreien.

Der deutschen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem dafür zuständigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher wurde mehrfach vorgeworfen, dass sie mehr Wert auf gute wirtschaftliche Beziehungen zu Argentinien gelegt und sich nicht darum gekümmert hätte, dass die insgesamt etwa 100 entführten Deutschen und Deutschstämmigen (z. B. Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank) überlebten.[2][3] Angehörige von deutschen „Verschwundenen“ erhoben vor allem schwere Vorwürfe gegen die deutsche Botschaft in Buenos Aires und das Auswärtige Amt. Es gibt − eingehend dokumentiert im Fall Käsemann − zahlreiche Hinweise, dass die deutschen Behörden trotz eindringlicher Appelle der Familien zu wenig unternahmen, um bei den argentinischen Behörden zugunsten der willkürlich Verhafteten zu intervenieren.[3][4] Im Fall Käsemann gilt dies als besonders tragisch, da sie zum Zeitpunkt der Bitten der Familie an die Behörden zwar schwer gefoltert wurde, aber noch lebte. Nachdem bekannt wurde, dass sie durch vier Schüsse in den Rücken bei einem angeblichen Gefecht mit Rebellen getötet worden war, eine bald widerlegte Schutzbehauptung der Argentinier, meinte ein Familienmitglied: „Ein verkaufter Mercedes wiegt zweifellos mehr als ein Leben.“[2] Bis heute setzt sich die deutsche Organisation Koalition gegen Straflosigkeit teilweise erfolgreich für die Strafverfolgung der an Verbrechen an Deutschen beteiligten Täter ein.

International kooperierte die Regierung mit den rechtsgerichteten Diktaturen in den Nachbarländern im Rahmen der Operation Condor, bei der grenzübergreifend nach bestimmten Angehörigen linker Parteien gefahndet wurde. Die meisten Opfer wurden offiziell als verschwunden gemeldet, daher wurde der Begriff Desaparecidos, Verschwundene, später zu einem Synonym für Opfer von lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Die Epoche wurde später als „schmutziger Krieg(guerra sucia) bekannt.

Der Widerstand gegen den Terror war wegen der allgemein für Oppositionelle sehr gefährlichen Situation versteckt und zögerlich - man riskierte bei Entdeckung sein Leben. Die bedeutendste Protestbewegung waren die Madres de Plaza de Mayo, eine zunächst lockere Organisation von Müttern von „Verschwundenen“, die sich jeden Donnerstag ab 1977 auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude in Buenos Aires trafen und dort, mit weißen Kopftüchern gekennzeichnet, stillschweigend Runden um den Platz drehten. Diese gewaltlose Protestform wurde von den Militärs aus Angst um eine Radikalisierung der Opposition geduldet.

Auch in der Kultur- und Gesellschaftspolitik wurde der Kurs der Regierung schon nach kurzer Zeit härter. In einigen Städten wurden symbolische Bücherverbrennungen von marxistischer Literatur veranstaltet. Die Presse wurde nach wenigen Wochen der Pressefreiheit einer strikten Zensur unterworfen, dabei wurden einige Journalisten verhaftet. Dies führte dazu, dass viele namhafte Künstler und Autoren das Land verließen und ins Exil gingen und der Kulturbetrieb sich fortan auf eine wenig niveauvolle, streng bewachte und um die „Ruhigstellung“ der Bevölkerung bemühte Szene beschränkte.

Der Grad des Terrors war allerdings regional unterschiedlich, denn innerhalb der Militärregierung gab es einen Richtungsstreit zwischen den duros (Harten) und blandos (Weichen), die auch als „Falken“ (halcones) und „Tauben“ (palomas) bezeichnet wurden. Während die „duros“ durchaus als rechtsextremistisch bezeichnet werden können und die Gesellschaft gewaltsam zu extrem konservativen Idealen „bekehren“ wollten, war es den „blandos“, denen ursprünglich auch der Präsident Videla angehörte, nur an einer schnellen Bekämpfung der Terrors der Guerilla gelegen, sie favorisierten eine schnelle Redemokratisierung nach Abschluss des „Prozesses“. Da mehrere hochrangige Militärs, unter ihnen der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Ibérico Saint-Jean, den „duros“ angehörten, sah sich Videla gezwungen, ihnen Zugeständnisse zu machen und die staatsterroristischen Methoden sowie die kulturpolitischen Exzesse zu dulden. Besonders stark vom harten Kurs der „duros“ geprägt war die Politik in den Provinzen Buenos Aires (außerhalb des Stadtgebiets) und Córdoba, während die Stadt Buenos Aires selbst von einem eher liberalen Bürgermeister regiert wurde, der sogar begrenzte kritische kulturelle Aktivitäten, u. a. in der Universität der Stadt, ermöglichte.

Der harte Kurs des Regimes hatte 1977 erste militärische „Erfolge“ vorzuweisen: Die Guerillaorganisationen wurden weitgehend aufgerieben, ihr Einfluss in der Bevölkerung sank. 1978 verkündete Videla, der „Krieg“ gegen den Terror sei beendet. Trotzdem wurden bei weiteren staatsterroristischen Aktionen Elendsviertel gewaltsam aufgelöst, ihre Bewohner zum Teil gefoltert und ermordet, um der Welt für die Fußball-Weltmeisterschaft 1978 ein „sauberes Argentinien“ zu präsentieren. Diese Weltmeisterschaft, bei der das Land den Titel errang, sorgte für einen kurzzeitigen Popularitätsaufschwung für das Militärregime, der jedoch wegen diverser Probleme schnell wieder verflog.

In der Wirtschaftspolitik wurde vom neuen Wirtschaftsminister Martínez de Hoz ein auf wirtschaftsliberalen Gedanken basierendes Sanierungsprogramm aufgezogen. Das Programm war vor allem auf die Bekämpfung der Inflation und auf die Wiederherstellung des Vertrauens für Investoren aus dem Ausland abgerichtet, und beinhaltete als Maßnahmen eine restriktive Haushaltspolitik, Zollsenkungen, die Einfrierung der Reallöhne und Zinserhöhungen. Obwohl es 1977 zu einer kurzzeitigen Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation kam, konnte die Inflation von etwa 700 % (1976) über 347,5 % (1977) nur auf 160,4 % (1978) gesenkt werden. Diese weiterhin hohe Verteuerungsrate verbunden mit den stagnierenden Löhnen führte dazu, dass der Lebensstandard der Lohnempfänger sich zwischen 1976 und 1978 laut Schätzungen bereits um die Hälfte verringerte. Selbst innerhalb der oberen Kaste des Regimes regte sich bald Kritik an dieser Wirtschaftspolitik, da viele Militärs der „blandos“ fürchteten, die Gesellschaft könnte sich durch den sozialen Abstieg radikalisieren. Berühmt ist in diesem Kontext ein Zitat des Gouverneurs der Provinz Tucumán, des Generals Bussi, der an die Adresse des Wirtschaftsministers verlauten ließ: „Wenn ich hier zehn Guerilleros liquidiere, schicken Sie mir mit ihrer Wirtschaftspolitik zwanzig neue“. Daraufhin wurde das Modell an einigen Punkten nachgebessert (siehe unten), ohne allerdings seine grundlegenden Probleme zu beseitigen.

Im Bezug auf den von der Regierung angekündigten Dialog mit den führenden Persönlichkeiten des Landes wurden keine nennenswerten Fortschritte erzielt. Es wurden zwar Gespräche mit Politikern und Gewerkschaftsführern geführt, die jedoch keine konkreten Ergebnisse erzielen konnten.

„Plata Dulce“ und Schuldenkrise (1978-1981)

Die wirtschaftsliberale Politik führte nach 1978 nicht wie erwartet zu einer Verbesserung der Situation, sondern zu einer weiteren Verschlechterung. Die Zollsenkungen verschärften die Konkurrenz für die argentinische Industrie durch ausländische Produkte, besonders aus den sogenannten Billiglohnländern. Dies führte dazu, dass der sekundäre Sektor in eine tiefe Krise fiel und zahlreiche Betriebe schließen mussten. Die Industrieproduktion sank zwischen 1976 und 1983 um etwas mehr als 20%. Zudem wurde durch das Ungleichgewicht zwischen Exporten und Importen das Handelsbilanzdefizit immer größer.

Um zunehmend aufkommender Kritik in nichtkommerziellen Medien entgegenzuwirken wurde 1980 das Gesetz der Presse und Rundfunkübertragung verändert. Darin wurde unter anderem verboten, Radio- und Fernsehwellen an gemeinnützige Organisationen auszuhändigen.[5]

Auch die Inflation konnte von der Militärregierung nicht wirksam bekämpft werden, sondern stieg wieder leicht an, der Peso musste mehrmals abgewertet werden. Um trotz dieser Situation ausländisches Kapital anzulocken, wurde die tablita eingeführt, ein festgelegter Abwertungsrhythmus in kleinen Schritten. Das Ziel war, dass Investoren so die Verluste durch Inflation und Abwertung besser kalkulieren konnten. Jedoch begannen bald in- und ausländische Spekulanten, diesen Mechanismus auszunutzen und durch Hin- und Herwechseln des Geldes zwischen Peso und US-Dollar große Gewinne zu machen. Diese Spekulationswelle wurde von den Medien mit dem Begriff Plata Dulce (süßes Geld) bedacht. Sie führte zu einem drastischen Ansteigen der Auslandsverschuldung Argentiniens Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre, da die Spekulanten ihre Gewinne vor allem in einer massiven Kapitalfluchtwelle im Jahr 1981 bei ausländischen Banken anlegten. Zwischen 1976 und 1983 stieg die Auslandsverschuldung insgesamt von 7 auf 50 Milliarden US-Dollar, gleichzeitig stiegen die Guthaben argentinischer Staatsbürger im Ausland auf über 30 Mrd. US-Dollar an.

In derselben Zeit verschärften sich zugleich die Differenzen innerhalb des Militärs selbst. 1981 kam es zu zwei Regierungswechseln. Der liberale Nachfolger von Videla und Anführer der „blandos“, Roberto Viola, sorgte für eine kurze Zeit relativer Meinungsfreiheit, wurde aber noch im selben Jahr nach internen Streitigkeiten durch den rechtskonservativen Leopoldo Galtieri ersetzt.

Falklandkrieg und Niedergang des Regimes (1981-83)

Nach der Machtübernahme Galtieris verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation des Landes weiter. Es kam zu ersten größeren Protesten gegen die Militärregierung. In diesem Szenario entstanden die Pläne für die Invasion der seit 1833 von Großbritannien verwalteten, aber schon immer von Argentinien beanspruchten Falklandinseln (Islas Malvinas) im Südatlantik nahe der Küste Feuerlands, ein Unternehmen, das als Befreiungsschlag geplant war. Die Strategen erhofften sich, Großbritannien würde die nur von etwa 2.000 Menschen bewohnten Inseln nach einer Eroberung durch Argentinien kampflos aufgeben.

Denkmal an die Gefallenen des Falklandkriegs in Ushuaia

Der Falklandkrieg brachte in seinen ersten Tagen, die für Argentinien erfolgreich verliefen, in der Tat einen Popularitätsgewinn für die Militärregierung. Da jedoch letztendlich Großbritannien die Inseln zurückerobern konnte, war die Situation für das Regime nach dem Krieg schlechter als zuvor. Der militärischen Niederlage folgte unmittelbar der Rücktritt von Galtieri, ersetzt wurde er durch Reynaldo Bignone.

Bignone erkannte schnell die Aussichtslosigkeit, den „Prozess“ weiterhin fortzuführen. Die wirtschaftlichen Probleme hatten sich 1982 noch verschärft, und die Regierung hatte durch ihr Scheitern beim Falklandkrieg praktisch alle ihr noch bleibenden Unterstützer verloren. Obwohl andere hochrangige Militärs ihn zum Verzögern des Demokratisierungsprozesses bewegen wollten, kündigte er schon in seiner ersten Rede das Ziel von freien Wahlen, ursprünglich für 1984, an. Nachdem die Suspendierung der Aktivitäten der politischen Parteien aufgehoben wurde, folgte eine Fülle von organisierten Massenveranstaltungen, die für die Demokratisierung und gegen die Militärregierung im Allgemeinen demonstrierten. Wegen der anhaltend schlechten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation wurden die Wahlen auf 1983 vorverlegt.

In ihren letzten Tagen versuchte die Regierung hauptsächlich, die Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen von sich zu schieben. Im sogenannten „Befriedungsgesetz“ oder „Selbstamnestiegesetz“ wurde deklariert, alle gerichtlichen und polizeilichen Entscheidungen aus der Zeit zwischen 1973 und 1982 zu annullieren. Das Gesetz wurde jedoch bereits in einer der ersten Sitzungen des demokratisch neugewählten Parlaments annulliert. Die Demokratisierung glich insgesamt eher einem kompletten Rückzug aus der Verantwortung von Seiten des Regimes, als einem kontrollierten Prozess, wie er von den Machthabern ursprünglich angestrebt war. Es gab keinen Pakt zwischen den Militärs und den zivilen Parteien, die danach weitgehend übergangslos die Macht im Staat übernahmen.

Nachgeschichte

In den Präsidentschaftswahlen 1983 ging Raúl Alfonsín von der Unión Cívica Radical (UCR) als Sieger hervor. Der Neuanfang war vor allem wegen der wirtschaftlichen Situation schwierig, doch Alfonsín hatte zu Beginn seiner Regierungszeit den Vorteil, fast alle Sektoren der Gesellschaft auf seiner Seite zu haben, mit Ausnahme der Militärs, die sich jedoch zunächst nicht in seine Politik einmischten.

Homenaje a los desaparecidos, Skulptur zum Gedenken an die Opfer der Diktatur in Buenos Aires

Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur wurde zunächst sehr konsequent vorangetrieben. Die CONADEP wurde gegründet, eine Kommission, die sich mit der Untersuchung der Fälle der in der Militärdiktatur „verschwundenen“ Personen (desaparecidos) befasste. In der Zeit zwischen 1983 und 1984 wurden der Kommission von der Bevölkerung 8.000 Fälle von Verschwundenen gemeldet, Schätzungen sprechen allerdings von einer hohen Dunkelziffer und effektiv etwa 30.000 „Verschwundenen“. Die CONADEP gelangte zu dem Schluss, dass der Militärregierung nicht zu rechtfertigende Vergehen in der Frage der Menschenrechte begangen habe, selbst wenn man die bürgerkriegsähnlichen Zustände der Jahre 1976 und 1977 bedenkt. Ihr Bericht, der unter dem Titel „Nunca Más“ („Nie wieder“) in Buchform, unter der Leitung des bekannten Schriftstellers Ernesto Sábato zum Bestseller wurde, dokumentiert den Umfang der Menschenrechtsverletzungen anhand von 709 eindeutig bewiesenen Einzelfällen.

In der Folge wurden alle Angehörigen der Militärjunten angeklagt. Der Prozess fand 1985 statt, das Urteil wurde am 9. Dezember dieses Jahres verkündet: Jorge Videla und Emilio Massera, beide Mitglieder der ersten Militärjunta, erhielten als Hauptverantwortliche für den „schmutzigen Krieg“ lebenslänglich, die Mitglieder der zweiten Junta langjährige Gefängnisstrafen. Die dritte (unter Leopoldo Galtieri) und vierte Junta (unter Bignone) gingen straffrei aus.

Nach weiteren Prozessen im Jahre 1986 sah sich die Regierung Alfonsín im selben Jahr gezwungen, als Zugeständnis zu den Militärs das sogenannte Schlussstrichgesetz (Ley de Punto Final) zu erlassen. Nach diesem Gesetz durften neue Anklagen nur noch in einer Frist von 60 Tagen gestellt werden. Dies hatte eine große Welle von Anklagen und Prozessen zur Folge.

In dieser Situation kam es zum sogenannten Carapintada-Vorfall: Ein wegen Folter und Mord angeklagter Major verschanzte sich 1987 in einer Kaserne von Córdoba, unterstützt vom Oberst Aldo Rico, einer der Wortführer des rechten Armes der Militärs nach der Demokratisierung. Sie forderten eine Amnestie für alle angeklagten Militärs. Trotz zahlreicher Massendemonstrationen und Unterstützungsappellen von allen Seiten der Gesellschaft gegen diese Forderungen kam die Regierung Alfonsín den aufständischen Militärs weitgehend entgegen und erließ das sogenannte Gesetz über die Gehorsamspflicht (Ley de Obediencia Debida). Dies bedeutete eine Amnestie für die unteren Ränge der Militärs, denen zugute gehalten wurde, dass sie bei ihren Verbrechen nur Ausführende von Befehlen von höherer Ebene waren.

Die Regierung Carlos Menem, die auf die Regierung Alfonsín nach der Wirtschaftskrise von 1988 bis 1999 folgte, versuchte die Struktur des argentinischen Militärs stärker zu reformieren und schaffte als ersten Schritt hierzu 1994 die Wehrpflicht ab. Als Zugeständnis wurden dafür allerdings die verurteilten Diktatoren begnadigt. Dies zeigt, das bis Anfang der 1990er-Jahre die Angst vor einem erneuten Militärputsch weiterhin latent war. Gleichzeitig begnadigte Menem auch viele verurteilte Militärangehörige, allerdings auch einige ehemalige Guerilla-Kämpfer.

Gedenkmarsch mit Fotos von Verschwundenen zum Anlass des dreißigsten Jahrestages des Militärputsches in Argentinien, 24. März 2006.

Nach dem Machtwechsel 1999, als Menem von Fernando de la Rúa abgelöst wurde, wurde immer lauter die Forderung ausgesprochen, die Amnestie rückgängig zu machen und die beiden Gesetze Punto Final und Obediencia Debida zu annullieren, um auch die bisher straffrei ausgegangenen Verantwortlichen anklagen zu können. Es dauerte, unter anderem wegen der Wirtschaftskrise zwischen 1998 und 2003, bis 2003 unter der Regierung Néstor Kirchners, bis dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt wurde und 2005 vom Obersten Gerichtshof Argentiniens bestätigt wurde. Die von Menem ausgesprochenen Begnadigungen wurden aufgehoben.

Heute scheint die demokratische Einbindung der Militärs in den Staatsapparat weitgehend gelungen, was auch mit dem nach wie vor schlechten Image dieser Institution in weiten Teilen der Bevölkerung zusammenhängt, der ihren Einfluss stark beschränkt hat. Ein erneuter Putsch droht nicht, selbst in den schwersten Zeiten der Wirtschaftskrise wurde im Land trotz internationaler Bedenken und einiger Gerüchte nie ernsthaft über eine derartige Lösung spekuliert. Auch spektakuläre Eingriffe der Regierung Kirchner in den Militärapparat, wie die Absetzung der gesamten Führungsriege Anfang 2005 wegen Verwicklung in einen Drogenskandal, blieben ohne nennenswerten Widerstand.

Im Februar 2010 begann in Buenos Aires ein Prozess gegen acht ehemalige Militärs wegen Verbrechen während der argentinischen Militärdiktatur. Dabei trat die Bundesregierung Deutschlands wegen der Ermordung Elisabeth Käsemanns als Nebenkläger auf.[6] Im Dezember 2010 wurde Videla gemeinsam mit 15 weiteren Verantwortlichen der Repression erneut zu lebenslanger Haft verurteilt.[7]

Kulturelle Aufarbeitung der Diktatur

In den ersten Jahren der Demokratie ab 1983 begann die Kulturszene Argentiniens, die Zeit des „Prozesses der Nationalen Reorganisation“ aufzubereiten. Dabei war es vor allem die Literatur, die eine führende Rolle einnahm; schon in der Zeit der Diktatur selbst hatte sie begonnen, Kritik zu üben - ob im Land selbst, wie im Fall von Rodolfo Walsh, der letztendlich von den Militärs entführt und ermordet wurde, oder von außen aus dem Exil, etwa durch die Essays von Noé Jitrik. Nach der Demokratisierung erschienen zahlreiche Werke, die diese Zeit der argentinischen Geschichte thematisieren. Der Hauptteil waren Essays und politische Artikel, während erst in den 1990er-Jahren eine Welle fiktionaler Werke geschrieben wurden. Die Schriftstellerin Elsa Osorio beispielsweise beschreibt in ihrem Roman A veinte años, Luz (deutscher Titel: Mein Name ist Luz) eine junge Frau, die als Baby einer Gefangenen weggenommen wird und in einer Offiziersfamilie aufwächst und sich auf die Suche nach ihren wahren Eltern macht. Alicia Kozameh, selbst politische Gefangene der Militärdiktatur, hat in ihrem autobiographischen Roman Pasos bajo el agua (1987, deutsch: Schritte unter Wasser, Wien 1999) die Erfahrungen insbesondere der Frauen ihrer Generation in den Haftanstalten literarisch verarbeitet.

Mehr Medieninteresse als die literarischen Werke erreichten allerdings die Filme, die über die Militärdiktatur gedreht wurden (siehe dazu auch Darstellung im Artikel Desaparecidos). Dabei hielten sich Dokumentationen (wie z.B. das berühmte República Perdida 2 von Miguel Pérez, erschienen 1985) mit fiktionalen Werken etwa die Waage. Zwei der berühmtesten Filme über die Epoche sind La Noche de los Lápices von Héctor Olivera (1986) in dem der wohl bekannteste bewiesene Fall der CONADEP, die Entführung, Folter und Ermordung einer Gruppe Jugendlicher aus La Plata in einem illegalen Konzentrationslager erzählt wird, und der Oscar-Gewinner Die offizielle Geschichte von Luis Puenzo, in dem es um eine Kindesentführung geht. In den 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahren griffen viele weitere Filme die Thematik aus unterschiedlichen Gesichtspunkten auf, ebenfalls erschienen schon ab 1984 („Chicos de la Guerra“, Bebe Kamin) Kriegsfilme über den Falklandkrieg, die meisten mit einem kritischen Hintergrund.

Es gibt in einigen, insbesondere konservativen Kreisen Kritik an einigen der fiktionalen Werke, ihnen wird vorgeworfen, die tatsächlichen Ereignisse übertrieben darzustellen. Dem wird entgegengehalten, dass es in der Zeit des „schmutzigen Krieges“ nachweisbar eine große Zahl von sehr brutalen Vorfällen gab, die eine solche Darstellung rechtfertigen.

Siehe auch

Literatur

  • CONADEP: Nunca Más. Eudeba, Buenos Aires 1984, ISBN 950-23-1276-7.
  • Uki Goñi: El Infiltrado. La verdadera historia de Alfredo Astiz. 1994.
  • Verschiedene Autoren: Juicio, castigo y memoria. Nueva Visión, Buenos Aires 1995.
  • Marcelo Cavarozzi: Autoritarismo y democracia (1955-1996). Eudeba, Buenos Aires 2002, ISBN 950-23-1197-3.
  • Hugo Quiroga: El tiempo del Proceso. 2. Auflage. Editorial Homo Sapiens, Rosario 2004, ISBN 950-808-402-2.
  • Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.): Panteón Militar. Kreuzzug gegen die Subversion. Laika-Verlag, Hamburg 2010, ISBN 978-3-942281-78-2 (Bibliothek des Widerstands. Band 9).
  • Gladys Ambort: Wenn die anderen verschwinden, sind wir nichts. Laika-Verlag, Hamburg 2011, ISBN 978-3-942281-94-2.

Einzelnachweise

  1. a b Steffen Leidel: Berüchtigtes Ex-Folterzentrum wird der Öffentlichkeit zugänglich. In: Deutsche Welle. 14. März 2005, abgerufen am 13. Dezember 2008.
  2. a b Ein Leben in Solidarität mit Lateinamerika. Elisabeth Käsemann. Ausstellungsbroschüre, Koalition gegen Straflosigkeit, Nürnberg, Mai 2007, S.14
  3. a b Miriam Hollstein: Deutsche Justiz jagt Junta-General. Welt online, 15. Juli 2001
  4. Ein Leben in Solidarität mit Lateinamerika. Elisabeth Käsemann. Ausstellungsbroschüre, Koalition gegen Straflosigkeit, Nürnberg, Mai 2007, S.8
  5. Deutschlandradio Feature: Mediale Kreuzzüge, 17. März 2009.
  6. Argentinien bringt Mord an Elisabeth Käsemann vor Gericht (ND, 27. März 2010)
  7. Videla fue condenado a prisión perpetua e irá a una cárcel común, LaNacion.com, 22. Dezember 2010

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