Staatliche Bevormundung

Staatliche Bevormundung

Als staatliche Bevormundung wird bezeichnet, wenn ein Staat mit Verboten bzw. Pflichten, Sanktionen oder sonstigen Erschwernissen das Verhalten seiner Bürger beeinflusst und dabei das Recht mündiger Bürger auf freie Willensentscheidung in unangemessener Weise einschränkt. Ob eine Sanktion unangemessen ist, liegt in der Sicht des einzelnen Betrachters und ist gelegentlich Gegenstand gerichtlicher Verfahren.

Oft geht mit diesen Maßnahmen eine intensive Kontrolltätigkeit des Staates einher. Dabei versuchen staatliche Institutionen, die oben genannten Maßnahmen durchzusetzen oder aufrechtzuerhalten, obwohl sich Betroffene aktiv und passiv dagegen wehren.

Im englischen Sprachraum hat sich der Begriff Nanny State (wörtlich: Kindermädchen-Staat) etabliert. Im Deutschen überschneidet sich der selten verwendete Begriff Vormundschaftsstaat mit den Begriffen überfürsorglicher Staat und Kontrollstaat.

Inhaltsverzeichnis

Themenfelder

  • Verbote, die im Wesentlichen nur den privaten Lebensbereich betreffen, z. B. Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen.
  • Übertriebene bürokratische Anforderungen bei staatlichen Verfahren (Schikane)
  • Strafsteuern.
  • Erhebung nicht benötigter Informationen, z. B. Frage nach der sexuellen Orientierung bei der Musterung, Zensus
  • Gebote oder Verbote, oft verbunden mit abschreckenden oder drakonischen Strafen, die in anderen Ländern oder Kulturkreisen als unverhältnismäßig oder ungewöhnlich hoch empfunden werden, oder durch
  • staatlichen Protektionismus, Dirigismus und starke Marktregulierung.

Die Einordnung einzelner Maßnahmen als staatliche Bevormundung ist nicht definitiv. So könnte man z. B. die Helmpflicht bei Motorradfahrern als gerechtfertigt ansehen, da Unfälle unbehelmter Motorradfahrer oftmals mit Verletzungen mit hohen und ggf. dauerhaften Kosten für die Gemeinschaft einher gehen, eine Helmpflicht bei Fahrradfahrern aufgrund des geringeren Verletzungsrisikos aber ablehnen.

Hintergrund des Begriffes Nanny-State

Vereinigte Staaten und Vereinigtes Königreich

Die Verwendung des Begriffes Nanny-State im englischen Sprachraum variiert je nach politischem Zusammenhang. Allgemein ist damit eine Politik gemeint, in der der Staat exzessiv seinen Wunsch zu beschützen (Vormundschaft), zu regieren oder bestimmte Teile der Gesellschaft zu kontrollieren verfolgt. Welche Aspekte als bevormundet bezeichnet werden, hängt vom Gebrauch oder dem Standpunkt der jeweils Betroffenen ab. Der Begriff kann sich beziehen auf:

  • Gesundheits- und Sozialfürsorge, freie Niederlassung von Migranten

In den USA sprechen sich politisch konservative oder wirtschaftlich liberale Gruppen, vor allem paleokonservative Bewegungen, die den freien Markt oder den Kapitalismus befürworten, gegen exzessive Aktionen durch den Staat aus, die darauf zielen, Bürger vor den Folgen eigener Handlungen zu schützen, indem sie die Handlungsmöglichkeiten der Bürger einschränken. Umgekehrt treten Bürgerrechtsorganisationen für mehr Bürgerrechte ein. Als ein typisches Beispiel gilt die National Rifle Association in den USA. Diese kämpft für ein weitgehendes Waffenbesitzrecht als Bürgerrecht und bezeichnet sich als die älteste Bürgerrechtsorganisation der Vereinigten Staaten.

Den englischen Begriff Nanny State (Kindermädchen-Staat) verwenden US-amerikanische Liberale und Ultraliberale, um den Staat als übermäßig beschützend gegenüber Unternehmen und dem Unternehmertum zu bezeichnen. Er handele damit zum Schaden des Allgemeinwohls und des Konsumenten. Diesen Wortgebrauch findet man auch im internationalen Zusammenhang, wo als öffentliches Wohl das Wohlergehen von Menschen generell gemeint ist und wo der Staat heimische gegenüber ausländischen Unternehmen in übertriebenem Maße beschütze.

Der englische Ausdruck Nanny State wurde vom konservativen britischen Abgeordneten Iain Macleod mitgeprägt. In seiner Kolumne Quoodle des The Spectator, Ausgabe vom 31. Dezember 1965, schrieb er what I like to call the nanny state… (…was ich als Nanny-State bezeichnen möchte…).

Der als Kritiker der Außenpolitik der Vereinigten Staaten bekannte Noam Chomsky verwendet regelmäßig den Ausdrucks Nanny State, um damit auf die Protektionismuspolitik der USA hinzuweisen.

Singapur

Bekannt als Vormundschaftsstaat ist der Stadtstaat Singapur. Er ist geprägt durch eine große Zahl an staatlichen Vorschriften und Restriktionen, die das Leben der Bürger einschränken. Minister Mentor Lee Kuan Yew, der Architekt des modernen Singapur, sagte: Wenn Singapur ein Nanny-State ist, dann bin ich stolz darauf, einen solchen protegiert zu haben (If Singapore is a nanny state, then I am proud to have fostered one.)[1] Häufig genannt wird die Restriktion, dass es bei hoher Strafe verboten ist, Kaugummi nach Gebrauch auf den Boden statt in einen Mülleimer zu werfen. Wer dagegen verstößt, riskiert jahrelange Haftstrafen. Von 1992 bis 2004 war der Verkauf von Kaugummi in Singapur vollständig verboten. Seitdem dürfen Apotheken Kaugummi an registrierte Käufer verkaufen.[2]

Varianten des Begriffes

Politische Beschlüsse wie das Verbot von Drogenmissbrauch, zum Mindestalter für den Konsum von Alkohol und Tabak, die Helmpflicht oder hohe Steuern auf Junkfood werden gelegentlich als Handlungen eines Vormundschaftsstaates angesehen. Solche Handlungen ergeben sich aus der Überzeugung, der Staat bzw. eine seiner Gebietskörperschaften habe die Pflicht, die Bürger vor ihren schädlichen Verhaltensweisen zu beschützen, und der Staat wisse besser als seine Bürger, was selbstschädigendes Verhalten sei.

Auch der Schutz vor dem schädigenden Verhalten anderer wie beispielsweise das Rauchverbot in der Öffentlichkeit oder die Waffenpolitik werden zum Teil Bevormundung aufgefasst; ebenso Politische Korrektheit oder Zensur.

Vormundschaftsstaaten neigen zu Entscheidungen, die eine Risikoeindämmung in Bereichen wie Gesundheit und Sicherheitsfragen bewirken. Die EU wurde zum Beispiel kritisiert als sie im Juni 2007 Quecksilber in Barometern verbot.[3]

Konservative und radikale Liberalisten neigen dazu, den Begriff zu benutzen, um neue Regierungsbeschlüsse anzufechten, obwohl viele traditionelle Konservative ebenso gelegentlich einen Paternalismus befürworten, den Liberale dagegen eines Vormundschaftsstaates für würdig halten. Eine gängige Kritik an vielen Beschlüssen eines als Vormundschaftsstaat empfundenen Staates ist, dass es den Regierenden weniger um das Wohlergehen der Bürger gehe, sondern mehr um die Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten oder die Durchsetzung von Einzelinteressen.

Andererseits sehen viele Bürger schützende Beschlüsse, wie zum Beispiel Rauchverbote, als willkommene Dienstleistung des Staates, die es ihnen erspare, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit ständig neu durchsetzen zu müssen.

Die britische Labour Party Politikerin Margaret Hodge ist eine der bekanntesten Verfechterinnen des Vormundschaftsstaates. In einer Rede am American Enterprise Institute am 26. November 2004 sagte sie some may call it the nanny state, but I call it a force for good (manche mögen es einen Nanny-Staat nennen, aber ich nenne es eine Macht des Guten).

Einzelnachweise

  1. The Singapore Story: 1965-2000, in straitstimes.com, Lee Kuan Yew. 2000
  2. Singapur - Kaugummi nur für registrierte Käufer, in spiegel.de, 27. Mai 2004
  3. M. Banks, Jones, G.: Barometer makers lose battle over mercury, Telegraph. 6. Juli 2007. Abgerufen am 23. Juli 2007. 

Weblinks


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