AVR (Jülich)

AVR (Jülich)

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AVR (Jülich)
AVR Jülich
AVR Jülich
Lage
AVR (Jülich) (Nordrhein-Westfalen)
AVR (Jülich)
Koordinaten 50° 54′ 10,6″ N, 6° 25′ 16,3″ O50.9029361111116.4212083333333Koordinaten: 50° 54′ 10,6″ N, 6° 25′ 16,3″ O
Land: Deutschland
Daten
Eigentümer: Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor GmbH
Betreiber: Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor GmbH
Projektbeginn: 1961
Kommerzieller Betrieb: 19. Mai 1969
Stilllegung: 31. Dez. 1988

Stillgelegte Reaktoren (Brutto):

1  (15 MW)
Eingespeiste Energie seit Inbetriebnahme: 1.506 GWh
Stand: 25. Juli 2007
Die Datenquelle der jeweiligen Einträge findet sich in der Dokumentation.
Reaktor mit Materialschleuse

Das Kernkraftwerk AVR Jülich (Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor Jülich, ursprünglich auch Atomversuchskraftwerk[1]) war der erste deutsche Hochtemperaturreaktor (HTR). 'Geistiger Vater' der Anlage war Rudolf Schulten. Er hatte in den 1950er Jahren grundlegende Arbeiten zu diesem Reaktortyp vorgelegt. Nach seiner Promotion bei Werner Heisenberg arbeitete Schulten von 1956 bis 1964 bei der BBC/Krupp (BBC/Krupp Reaktorbau/Hochtemperatur Reaktorbau), wo er für die Planung und den Bau des AVR Jülich zuständig war. Anschließend war er bis zu seiner Emeritierung 1989 Direktor des 'Institut für Reaktorentwicklung' in Jülich und zeitgleich Professor für Reaktortechnik an der RWTH Aachen.

Der HTR war ein Kugelhaufenreaktor und hatte eine elektrische Nettoleistung von 13 Megawatt. Die Anlage steht in Jülich unmittelbar benachbart zum Gelände des Forschungszentrums.

1967 wurde das Kraftwerk, welches auch Strom ins öffentliche Netz einspeiste, in Betrieb genommen. Bauherr und Betreiber war ein Konsortium aus lokalen Elektrizitätsversorgern unter Führung der Stadtwerke Düsseldorf, welche dazu die AVR GmbH gegründet hatten. Nach 21 Betriebsjahren wurde der Reaktor am 31. Dezember 1988 abgeschaltet. Insgesamt produzierte der Reaktor rund 1,7 Milliarden Kilowattstunden Strom.[2]

Das Stillegungskonzept wurde in den Folgejahren von „Sicherer Einschluss“ über „Entkernung“ in „vollständiger Abbau“ geändert. Dazu wurde die AVR im Jahr 2003 in das bundeseigenene Rückbau-Unternehmen Energiewerke Nord integriert. Derzeit laufen Vorbereitungen für die vollständige Beseitigung der Anlage. Im Jahr 2006 wurde eine 60 × 40 Meter große Materialschleuse aus Stahl vor dem Reaktorgebäude errichtet, um das Ausschleusen des Reaktorbehälters zu ermöglichen. Bis zum Jahr 2015 sollen die Rückbauarbeiten beendet und der Zustand „Grüne Wiese“ hergestellt sein,[3] während der Reaktorbehälter 200 m entfernt für gut 60 Jahre zwischengelagert wird. Aufgrund der hohen Kontamination des Kühlkreislaufs bereitet der Rückbau allerdings erhebliche Probleme. Im Jahr 2000 räumten die Betreiber ein, dass die beta-Kontamination (Strontium-90) des AVR-Reaktors sogar die höchste aller Reaktoren und Nuklearanlagen weltweit ist und zudem noch in der ungünstigsten Form, nämlich staubgebunden vorliegt.[4][5]

Inhaltsverzeichnis

Aufbau

Aufbau des AVR-Reaktors

Abweichend von der normalerweise genutzten Anordnung des Dampferzeugers neben dem Reaktorkern wurde der Dampferzeuger beim AVR oberhalb des Reaktorkerns angeordnet, was einen besonders kleinen Flächenverbrauch zur Folge hat. Die Abschaltstäbe werden in separaten Graphitsäulen, die den Reaktorkern durchdringen, von der Unterseite des Reaktors eingefahren. Ebenfalls auf der Unterseite des Reaktors befinden sich die Kühlgebläse und die Kugelabzugsvorrichtung.[6] Abgeleitet von der vertikalen Anordnung und dem kleinen Flächenverbrauch gab es bei BBC/HRB Pläne für ein HTR-100-Industriekraftwerk, das direkt in Industrieanlagen für Prozesswärme- und Stromerzeugung genutzt werden sollte. Im Betrieb des AVR zeigte sich jedoch, dass konstruktiv auf jeden Fall verhindert werden muss, dass Wasser in den Reaktorkern dringen kann und eine vertikale Anordnung demzufolge risikobehaftet ist.[7] Beim Bau des kommerziellen Prototyps THTR-300 in Hamm-Uentrop wurden die Dampferzeuger daher neben dem Kern angeordnet und die Kernstäbe ohne Graphitsäulen direkt von oben in den Kugelhaufen gefahren, was einen kompakteren Kernaufbau ermöglicht.

Technische Daten[8] AVR-Versuchsreaktor
thermische Leistung
46 MW
elektrische Leistung
13 MW
Mittlere Leistungsdichte
2,6 MW/m³
Reaktorkern Höhe/Durchmesser
2,8 m / 3 m
Spaltstoff
235U
Höhe Reaktordruckbehälter
24,9 m
Durchmesser Reaktordruckbehälter
5,8 m
Material Reaktordruckbehälter
Stahl
Kühlmittel
He
Eintrittstemperatur
275 °C
Austrittstemperatur
950 °C
Druck
10,8 bar
Frischdampftemperatur
505 °C

Störfälle

Am 13. Mai 1978[9] traten infolge eines länger unbemerkten Lecks im Überhitzerteil des Dampferzeugers 27,5 t Wasser in den He-Primärkreislauf und damit in den Reaktorkern ein.[10] Obwohl dieser Störfall nur in die Kategorie C eingeordnet wurde, stellt er wegen des positiven Reaktivitätseffekts des Wassers (Möglichkeit einer prompten Überkritikalität des Reaktors) und der möglichen chemischen Reaktion des Wassers mit dem Graphit mit Bildung explosionsfähiger Gase einen der gefährlichsten Störfälle für einen Hochtemperaturreaktor dar. Der Störfall blieb wahrscheinlich nur deshalb ohne schwere Folgen, weil der Kern nur Temperaturen unter 500 °C aufwies und weil das Leck klein blieb.[11] Trotzdem musste der Reaktor fast ein Jahr lang durch das Fahren mit verringerter Temperatur „getrocknet“ werden, um die mit Spaltprodukten kontaminierten Wasserreste zu entfernen.[12] Unter dem Reaktor befindet sich noch durch den Störfall radioaktiv belastetes Erdreich und Grundwasser. Durch den Störfall wurde nämlich das Fundamentkammerwasser, welches mit der Umgebung in direktem Kontakt steht, mit Strontium-90 und Tritium radioaktiv kontaminiert.[13] Infolge dieses Störfalles wurden bei nachfolgenden Designs von Hochtemperaturreaktoren Vorkehrungen getroffen, die eine Flutung des Kerns mit flüssigem Sekundärkühlmittel verhindern sollen.

Darüber hinaus wurde im Jahr 2008 ein Bericht von Rainer Moormann, Mitarbeiter des FZJ, veröffentlicht, in dem die übermäßig starke radioaktive Kontamination des Reaktors auf eine unzureichende Überwachung des Reaktorkerns sowie einen länger andauernden Betrieb bei unzulässig hohen Temperaturen zurückzuführen ist. Dies habe u. a. dazu geführt, dass Spaltprodukte aus den Graphitkugeln austreten konnten. Moormann verweist darauf, dass es sich dabei um inhärente Probleme von Kugelhaufenreaktoren handelt und nicht nur um ein AVR-Problem und stellt die Frage, ob das Kugelhaufenprinzip überhaupt machbar bzw. verantwortbar ist.[14][15]

Erst im Jahr 1999 wurde entdeckt, dass der AVR-Bodenreflektor, auf dem der Kugelhaufen ruht, im Betrieb zerbrochen war und dass sich einige hundert Brennelemente im gebildeten Riss verklemmt haben.[5]. Die Brennelemente konnten großenteils nicht entfernt werden. Zu eventuellen sicherheitstechnischen Auswirkungen dieses Ereignisses gibt es bisher keine Untersuchungen.

Der ehemalige Chef-Konstrukteur des damaligen Bau-Konsortiums Dr. Urban Cleve verweist hingegen auf den ursprünglichen Sicherheitsbericht, der diese Störfälle bereits mit betrachtete und verneint daher jegliche Gefährdung. [16]

Rückbau, Zwischen- und Endlagerung

Der kontaminierte Reaktorbehälter wird zunächst nicht zerlegt. Im November 2008 wurde er stattdessen mit 500 Kubikmeter Porenleichtbeton verfüllt, um so die radioaktiv hoch kontaminierten Graphitstaubteilchen zu fixieren. 2011 soll der 2100 Tonnen schwere Behälter mittels 7 Kränen und eines Luftkissen-Transportschlittens zur Zwischenlagerung in eine 200 Meter entfernte Halle transportiert werden, damit der mit Strontium-90 radioaktiv kontaminierte Boden bzw. das Grundwasser unter dem Reaktor gereinigt werden können. Das genaue Ausmaß der Boden- und Grundwasserkontamination unter dem Reaktor ist noch nicht bekannt, da die vermutlich am stärksten kontaminierten Bereiche noch unzugänglich sind. Bisherige Messungen an weniger kontaminierten Bereichen zeigten jedoch schon, dass die Strontium-Konzentration um bis einen Faktor 600 über der Unbedenklichkeitsschwelle (Freigabewert) liegt.[17] Derzeit wird diskutiert, aus Kostengründen nicht das gesamte Erdreich vollständig zu reinigen, sondern nur die oberen Schichten. Für die tieferen Schichten soll ggf. nur durch Rechnungen gezeigt werden, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht.[18] Problematisch ist auch die sehr starke Strahlung des Reaktorbehälters, die in der Transportphase nach Berechnungen die zulässigen Grenzwerte am Zaun der Anlage praktisch erreichen wird. Vorläufige Messungen am mit Beton verfüllten Behälter haben sogar ergeben, dass die Strahlung um bis zum Faktor 130 höher sein könnte.[18] Sollten sich diese Messungen bestätigen, würden sich weitere erhebliche Rückbauprobleme ergeben. Im Januar 2011 hat die AVR GmbH eine Änderung der Transportgenehmigung des Reaktorbehälters beantragt, mit dem Ziel, statt eines Luftkissenschlittens ein Vielradfahrzeug verwenden zu dürfen. Da dieses ferngelenkt werden könnte und die Transportzeit verringert würde, erhofft man sich davon eine Verkleinerung der Strahlenbelastung. Kosten für den bis 2015 zu beendenden Teilrückbau werden von der Bundesregierung auf mehr als 600 Millionen Euro geschätzt.[19] Erst nach einer weiteren Abklingzeit von etwa 60 Jahren soll der Behälter schließlich von Robotern zerlegt werden und in ein Endlager überführt werden.[2] Problematisch bzgl. Endlagerung des Reaktorbehälters ist der sehr hohe Gehalt an Kohlenstoff-14 (Halbwertszeit = 5830 Jahre), da dieser die im Endlager Schacht Konrad zulässige Gesamtaktivität an C-14 zu 75 % ausschöpfen würde. Damit kommt eine Endlagerung in Schacht Konrad praktisch nicht in Frage. Diskutiert wird daher auch ein separates, evtl. oberirdisches Endlager für den AVR-Reaktorbehälter. Die ab 2015 anfallenden Kosten wurden noch nicht abgeschätzt.

Derzeit werden 300.000 verbrauchte Brennelementekugeln in 152 Castor-Behältern in einem Zwischenlager auf dem Gelände gelagert. Deren Genehmigung läuft 2013 ab; deshalb beabsichtigt das Forschungszentrum, die Castor-Behälter (per LKW oder Bahn) in das Zwischenlager Ahaus zu überführen. 86 Fässer mit bestrahlten AVR-Absorberelementekugeln und 8 Fässer mit in Forschungsreaktoren testweise bestrahlten AVR-Brennelementkugeln wurden bereits 1974–78 im Versuchsendlager Asse eingelagert.[20]

Im April 2011 wurde durch eine kleine Anfrage der Grünen bekannt, dass 2285 radioaktive Brennelementekugeln abhanden gekommen sein sollen. Die Wirtschaftsministerin Svenja Schulze vermutet, dass diese Brennelementekugeln ebenfalls in das Versuchsendlager Asse gebracht wurden. Dies sei jedoch nicht mehr nachvollziehbar, da die im Versuchsendlager „eingelagerten Mengen nicht bekannt sind“. Es wurde weiterhin berichtet, dass im Versuchsendlager Asse keine Brennelemente eingelagert werden durften, da es nur für die Lagerung schwach- und mittelradioaktiver Abfälle zugelassen war.[21][22] Die Unzulässigkeit der Einlagerung von AVR-Brennelementen in die Asse ist jedoch eine Fehleinschätzung, denn es hatte am 4. März 1976 eine Genehmigung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und des Oberbergamtes Clausthal zur Einlagerung von 100.000 AVR-Brennelementen in der Asse gegeben, die erst am 30. Juni 1978 auslief. Die Kugelgebinde sollten dabei so zusammengesetzt sein, dass sie nach damaliger Rechtslage an der oberen Grenze von mittelaktivem Abfall lagen. Zur Einlagerung der AVR-Brennelemente kam es seinerzeit nur deshalb nicht, weil die Bevölkerung um die Asse sich unter Führung des stellvertretenden Landrates von Wolfenbüttel, Reinhold Stoevesandt, zur Wehr setzte.[23]

Das Forschungszentrum widersprach den Vorwürfen zu fehlenden Brennelementen und versicherte, dass der Bestand an Brennelementkugeln "bis auf das Milligramm genau" dokumentiert sei.[24] Wirtschaftsminister Harry Voigtsberger (SPD) räumte eine fehlerhafte Kommunikation seitens der Landesregierung ein und sagte: „Für die Atomaufsicht des Landes ist entscheidend, dass keine Menge spaltbaren Materials fehlen.“[25] Mitte Juli 2011 konstituierte sich ein Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags zur Klärung der Fragen um die evtl. verschwundenen AVR-Brennelemente.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. vgl. z.B. Versuchskraftwerk Jülich im Dezember 1969, spiegel.de, 24. Juli 2009
  2. a b Heinsberger Nachrichten, 26. November 2008
  3. Deutsches Atomforum e. V.: Jahresbericht 2008 - Zeit für Energieverantwortung. Berlin 2009, ISSN 1868-3630. Seite 32
  4. Mark Hibbs, Decommissioning costs for German Pebble Bed Reactor escalating, NUCLEONICS WEEK, Vol. 43, No. 27, S. 7 (July 2002)
  5. a b http://www.wmsym.org/archives/2000/pdf/36/36-5.pdf
  6. Broschüre Hochtemperaturreaktoren BBC/HRB Druckschrift Nr. D HRB 1033 87 D
  7. Sicherheitstechnische Neubewertung des AVR-Kugelhaufenreaktors (Moormann, R. (2008): A safety re-evaluation of the AVR pebble bed reactor operation and its consequences for future HTR concepts. Berichte des Forschungszentrums Jülich JUEL-4275, Forschungszentrum Jülich (Hrsg.) (PDF-Datei, englisch)
  8. Broschüre Hochtemperaturreaktoren BBC/HRB Druckschrift Nr. D HRB 1033 87 D
  9. Zusammenfassender Bericht über Meldepflichtige Ereignisse 1977/1978, Bundesministeriums für Strahlensicherheit
  10. Bericht Safety-Related Experiences With The AVR Reactor K.J. Krüger, G.P. Invens, Arbeitsgemeinschaft Versuchs-Reaktor G.m.b.H.
  11. Reiner Priggen: Die beinahe Atom-Katastrophe im „inhärent sicheren“ Reaktor in Jülich
  12. Bericht AVR EXPERIMENTS RELATED TO FISSION PRODUCT TRANSPORT, Rainer Moormann, FZJ, Jülich
  13. Heinsberger Nachrichten, 26. November 2008
  14. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,637916,00.html
  15. Präsentation Graphite Dust in AVR, Bärbel Schlögl, FZJ, Jülich
  16. Die Technik der Hochtemperaturreaktoren, beschrieben von Dr.-Ing. Urban Cleve, Dortmund
  17. Sonderbericht der NRW-Landesregierung zur AVR Boden/Grundwasserkontamination (2001)
  18. a b Bericht der Strahlenschutzkommission zum AVR-Rückbau (2008)
  19. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Antwort des Bundesministeriums auf eine Anfrage auf einen Abgeordneten
  20. Udo Leuschner: Energiechronik August 2008
  21. SPON: "NRW-Regierung vermisst 2285 Brennelementkugeln"
  22. Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 583 vom 24. Februar 2011 des Abgeordneten Hans Christian Markert (Bündnis 90/Die Grünen), Drucksache 15/1429. Landtag Nordrhein-Westfalen, 31. März 2011, abgerufen am 3. April 2011.
  23. Die „Jülich-Kugeln“, abgenutzte Kugelbrennelemente eines Versuchsreaktors. Artikelsammlung auf www.spurensuche-meinung-bilden.de, abgerufen am 1. August 2011
  24. Heinsberger Nachrichten vom 5. April 2011
  25. Kristian Frigelj: Das seltsame Spiel mit den Brennelemente-Kugeln. Welt Online, abgerufen am 15. April 2011.

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