Strafverfahrensrecht (Deutschland)

Strafverfahrensrecht (Deutschland)

In Deutschland ist die Grundlage für den Strafprozess die Strafprozessordnung (StPO); sie ist keine Verordnung, sondern ein förmliches Gesetz, das im 19. Jahrhundert geschaffen wurde. Die StPO hat mehr als 400 Paragraphen. Der Strafprozess läuft nach bestimmten Grundsätzen (Prozessmaximen) ab, unter anderem nach dem Legalitätsprinzip und der Offizialmaxime. In der mündlichen Verhandlung vor Gericht gelten zusätzlich der Öffentlichkeitsgrundsatz und der Mündlichkeitsgrundsatz, sofern das Verfahren nicht durch einen Strafbefehl abgeschlossen wird.

Der Strafprozess im weiteren Sinne ist in das Erkenntnisverfahren und das Vollstreckungsverfahren gegliedert. Das Erkenntnisverfahren wiederum gliedert sich in drei Phasen;

  1. Ermittlungsverfahren,
  2. Zwischenverfahren und
  3. Hauptverfahren (Strafprozess im engeren Sinne).

Das Strafverfahren selbst gliedert sich in fünf Stufen. Davon sind die ersten drei die Phasen des Erkenntnisverfahren, die vierte Stufe ist die Rechtsmittelinstanz mit Berufung und Revision. Da die Berufung nach Erkenntnisgrundsätzen mit Durchführung einer Beweisaufnahme gestaltet ist, ist sie definitorisch zum Erkenntnisverfahren zu zählen. Die fünfte und letzte Stufe des Verfahren ist die Vollstreckung des Urteils.

Inhaltsverzeichnis

Rechtsquellen

Rechtsquellen des Strafprozessrechts sind:

Prozessmaximen

Zu den Prozessmaximen des deutschen Strafprozessrechts zählen:

Verfahrensablauf

Ermittlungsverfahren

Voraussetzung eines Ermittlungsverfahrens ist ein Anfangsverdacht gegen einen bekannten oder unbekannten Täter. Dieser Anfangsverdacht muss auf den Verstoß eines Strafgesetzes gegründet werden, weil eine Strafe ohne Gesetz nach dem Grundsatz nulla poena sine lege oder nullum crimen sine lege in einem Rechtsstaat nicht zulässig ist.

Wenn die Strafverfolgungsbehörden oder die Polizei durch Anzeige, von Amts wegen (z.B. bei Ermittlungen wegen einer anderen Straftat) oder auf anderem Weg (z.B. durch eigene Beobachtungen) Kenntnis von „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten“ für das Vorliegen einer Straftat erhalten (sog. einfacher oder Anfangsverdacht,§ 152 Abs. 2 StPO), müssen sie wegen verfolgbarer Straftaten die Ermittlungen aufnehmen, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist (sog. Legalitätsprinzip). Anzeigen können bei der Staatsanwaltschaft (StA), den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich angebracht werden (§ 158 Abs. 1 S. 1 StPO). Alle genannten Behörden sind zur Entgegennahme der Anzeige verpflichtet. Privatpersonen sind von Gesetzes wegen nur wegen besonders schwerwiegender Straftaten zur Anzeige verpflichtet (§ 138 StGB). Vertraglich können Privatpersonen z.B. zum Erhalt ihres Versicherungsschutzes gehalten sein, Straftaten zur Anzeige zu bringen. In bestimmten Fällen (z.B. Diebstahl durch Familienangehörige) ist die Aufnahme der Ermittlungen von einem Strafantrag abhängig, den in der Regel nur der Verletzte stellen kann (§ 77 Abs. 1 StGB) und der nur innerhalb einer Frist von drei Monaten erfolgen kann (§ 77b StGB).

Die Staatsanwaltschaft ist von Rechts wegen die Herrin des Ermittlungsverfahrens. Faktisch liegt das Ermittlungsverfahren jedenfalls in Fällen der kleineren und mittleren Kriminalität in der Regel in der Hand der Polizei, die auch sonst auf eine Anzeige alle unaufschiebbaren Ermittlungen durchzuführen hat. Das heißt, sie hat potentielle Zeugen zu vernehmen und Beweise zu sichern. Dennoch obliegt die endgültige Entscheidung der Staatsanwaltschaft; die Polizisten sind lediglich Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft. In größeren Verfahren (insbesondere auch Verfahren der Wirtschaftskriminalität) führt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in weiten Bereichen auch selbst. Dazu verfügen viele Schwerpunktstaatsanwaltschaften z.B. über eigene Wirtschaftsprüfgruppen mit entsprechend vorgebildeten Sachverständigen und Buchprüfern. In früheren Zeiten war die Staatsanwaltschaft aber bei fast allen Ermittlungen unmittelbar beteiligt, in der Regel auch durch Beamte vor Ort. Daher wurden die Ermittlungspersonen früher als „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft“ bezeichnet, da ihnen nur eine Hilfskompetenz zugewiesen wurde, welche im Laufe der Zeit mehr und mehr zur Regelkompetenz wurde.

Glaubt die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen zu haben, nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Arbeit auf. Sieht sie noch Ermittlungsbedarf, kann sie eigene Ermittlungsansätze verfolgen, bei Gericht Maßnahmen (Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Telefonüberwachung etc.) beantragen oder die Polizei anweisen, weiter zu ermitteln.

Hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen abgeschlossen, entscheidet sie, ob das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO) oder aus Opportunitätserwägungen (zum Beispiel §§ 153, 153a-f, 154 StPO) eingestellt wird oder ob die öffentliche Klage („Anklage“) erhoben wird. Dem entspricht weitestgehend auch der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls.

Die Staatsanwaltschaft hat gemäß § 170 Abs. 1 StPO die Anklage durch Einreichung der Anklageschrift beim zuständigen Gericht zu erheben, soweit die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Anklage bieten. Ein solcher genügender Anlass besteht, wenn die Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Gericht zu erwarten ist. Hierzu muss gemäß § 203 StPO ein hinreichender Tatverdacht gegeben sein. Die Verurteilung muss also wahrscheinlich sein.

Dem Privatklageverfahren (§§ 374 ff. StPO) muss kein Ermittlungsverfahren vorangehen.

Zwischenverfahren

Durch die Erhebung der Anklage wird das Zwischenverfahren eingeleitet. Der Beschuldigte wird nun gemäß § 157 Alt.1 StPO (auch) als „Angeschuldigter“ bezeichnet.

Das Zwischenverfahren ist in den §§ 199-211 der StPO geregelt. Das Gericht hat hierbei noch einmal die Anklageschrift auf das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts i.S. v. § 170 StPO zu prüfen. Dies hat den Sinn, dass der Angeschuldigte nicht unnötig der öffentlichen Hauptverhandlung ausgesetzt sein soll. Das Gericht kann zur besseren Aufklärung der Sache einzelne Beweiserhebungen anordnen (§ 202 StPO), also z.B. Zeugen vernehmen (oder vernehmen lassen), die bislang noch nicht gehört worden sind. Möglich ist auch die ergänzende Befragung bereits vernommener Zeugen (oder des Angeschuldigten) zu bislang noch nicht gestellten Fragen. Grundsätzlich kann das Gericht im Zwischenverfahren alle Ermittlungen anordnen (oder selbst vornehmen), welche die Staatsanwaltschaft vor Erhebung der öffentlichen Klage auch hätte durchführen können (bis hin zu Durchsuchungen und Beschlagnahme von Beweismitteln). Häufig wird auch im Zwischenverfahren ein psychiatrisches Gutachten zur Schuldfähigkeit des Angeschuldigten eingeholt, weil der bisherige Akteninhalt Anlass zu Zweifeln gibt.

Wird die Anklage durch Beschluss (Eröffnungsbeschluss) zugelassen, beginnt das Hauptverfahren. Voraussetzung: Das Gericht hält den Angeschuldigten für hinreichend verdächtig. Hinreichender Tatverdacht besteht bei vorläufiger Tatbewertung in der Wahrscheinlichkeit der späteren Verurteilung.

Das Gericht kann aber auch die Eröffnung des Hauptverfahrens durch Beschluss ablehnen; dagegen steht der Staatsanwaltschaft die sofortige Beschwerde zu. Die Eröffnung ist abzulehnen (aus tatsächlichen Gründen), wenn nach Auffassung des Gerichts kein hinreichender Tatverdacht besteht. Sie ist aus Rechtsgründen abzulehnen, wenn die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat nach Ansicht des Gerichts kein Strafgesetz erfüllt. Erfüllt die in der Anklageschrift bezeichnete Tat zwar kein Strafgesetz, kann sie gleichwohl unter dem Gesichtspunkt einer Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. In diesem Fall lehnt das Gericht die Eröffnung nicht ab, vielmehr eröffnet es das Verfahren wegen der Ordnungswidrigkeit.

Hauptverfahren

Im Hauptverfahren (§§ 213-257 der StPO) wechselt die förmliche Bezeichnung für den Beschuldigten von „Angeschuldigter“ zu „Angeklagter“. Kernstück des Hauptverfahrens ist die Hauptverhandlung (§§ 226-275 StPO). Die Hauptverhandlung im Strafverfahren ist aus verfassungsrechtlichen Gründen meist öffentlich (§ 169 GVG). Ausnahmen ergeben sich aus §§ 170, 171a-172 GVG. Diese besagen, dass die Öffentlichkeit auszuschließen ist, wenn:

  • das Verfahren die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt zum Gegenstand hat,
  • die Privatsphäre des Angeklagten oder eines Zeugen beeinträchtigt wird,
  • die Staatssicherheit gefährdet ist,
  • das Leben oder die Freiheit des Angeklagten oder eines Zeugen in Gefahr ist,
  • ein Geschäfts-, Betriebs-, oder Steuergeheimnis zur Sprache kommt, oder
  • eine Person unter 16 Jahren vernommen wird.

Im Übrigen sind Jugendstrafsitzungen nicht öffentlich, es sei denn der Angeklagte ist Heranwachsender. Dies gilt für die gesamte Verhandlung einschließlich Urteilsverkündung, § 48 JGG.

Bei der Ausschließung der Öffentlichkeit ist unbedingt § 174 GVG zu beachten. Hieraus geht unter anderem hervor, dass über den Ausschluss der Öffentlichkeit nur auf Antrag eines Beteiligten oder wenn es das Gericht für angemessen erhält, verhandelt wird.

Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache. Das Gericht stellt fest, ob die Geladenen erschienen sind. Die Zeugen werden über ihre Wahrheitspflicht belehrt und nehmen auf Aufforderung des Gerichts außerhalb des Sitzungssaals Platz. Inzwischen hat sich allerdings mehr und mehr die Praxis durchgesetzt, jeden Zeugen einzeln vor Beginn seiner Vernehmung zu belehren. Das ist der Sammelbelehrung vorzuziehen: Der Vorsitzende kann in der Einzelbelehrung besser auf die jeweilige Person eingehen und eventuell vorhandene unterschiedliche Sprach- und Bildungsniveaus ausgleichen. Auch lässt nur die Einzelbelehrung einigermaßen sicher erkennen, ob der Zeuge den Inhalt auch tatsächlich verstanden hat.

Der Angeklagte wird sodann zur Person (Name, Geburtstag, Anschrift, Beruf usw.) vernommen. Darauf verliest der Vertreter der Staatsanwaltschaft den Anklagesatz der Anklageschrift.

Anschließend beginnt die Vernehmung des Angeklagten zur Sache, sofern er sich trotz Belehrung über das Schweigerecht dazu einlassen möchte. Die Vernehmung ist Aufgabe des Vorsitzenden; die übrigen Prozessbeteiligten haben allerdings das Recht, im Anschluss daran ergänzende Fragen zu stellen und nicht den Angeklagten selbst noch einmal zu vernehmen, zumal das Gericht von sich aus den Sachverhalt so vollständig wie möglich zu erforschen hat.

In der Beweisaufnahme werden darüber hinaus zur Wahrheitsermittlung Urkunden verlesen, Tatgegenstände (oder auch Fotos) „in Augenschein genommen“ (betrachtet) und Zeugen und Sachverständige vernommen. Für die Vernehmung von Zeugen gilt ebenfalls, dass sie zunächst Aufgabe des Vorsitzenden ist; die anderen Beteiligten dürfen aber anschließend ergänzende einzelne Fragen stellen. Nach jeder Beweiserhebung ist der Angeklagte zu befragen, ob er dazu etwas zu erklären habe (§ 257 StPO). Auch die anderen Beteiligten können Erklärungen abgeben, diese dürfen jedoch die Schlussvorträge nicht vorwegnehmen, was freilich häufig ein schwieriges Abgrenzungsproblem ist. Der Richter schließt sodann die Beweisaufnahme, sofern nicht Staatsanwalt oder Angeklagter weitere Beweisanträge stellen. Es folgen die Schlussvorträge, die in der ersten Instanz mit dem Plädoyer des Staatsanwalts beginnen und in den Rechtsmittelinstanzen mit dem Plädoyer des Rechtsmittelführers. Daraufhin spricht in Nebenklageverfahren der Nebenkläger oder dessen Vertreter, dann in allen Verfahren der Verteidiger oder der Angeklagte selbst. Schließlich wird dem Angeklagten, im Jugendstrafverfahren auch dem Erziehungsberechtigten oder gesetzlichen Vertreter das Letzte Wort eingeräumt (§ 258 Abs. 2, 3 StPO). Im Jugendstrafverfahren wird vor dem Verteidiger auch noch die Jugendgerichtshilfe gehört.

Nach dem Letzten Wort zieht sich das Gericht zur Urteilsberatung zurück. Nach erneutem Aufruf verliest es die Urteilsformel (Freispruch oder Verurteilung) und begründet das Urteil mündlich. Abschließend erfolgt noch die Rechtsmittelbelehrung.

Eine Hauptverhandlung kann abweichend von dieser streng geregelten Prozedur jederzeit vorzeitig durch Einstellung des Verfahrens enden. Ein Urteil ist in solchen Fällen entbehrlich. Das sind in der Regel Einstellungen wegen geringer Schuld (§ 153 StPO), gegen Auflagen (§ 153a StPO) oder im Hinblick auf andere Verfahren oder bereits ausgesprochene Strafen (§ 154 StPO). Diese Einstellungen setzen in der Regel einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft und die Zustimmung des Angeklagten voraus.

Mögliche Rechtsmittel gegen das Urteil sind die Berufung und Revision. Die erste Instanz ist damit abgeschlossen. Wird innerhalb einer Woche nicht von Seiten der Staatsanwaltschaft oder des Angeklagten ein Rechtsmittel eingelegt, so erwächst das Urteil in Rechtskraft und wird vollstreckt.

Mit dem Rechtsmittel der Berufung kann in einer weiteren Tatsacheninstanz alles noch einmal neu „aufgerollt“ werden; mit der Revision kann lediglich überprüft werden, ob das materielle oder das Verfahrensrecht richtig angewendet wurde. Achtung: Berufung ist in der Regel nur gegen Urteile der Amtsgerichte (Einzelrichter oder Schöffengericht) zulässig; die erstinstanzlichen Urteile der Landgerichte (auch der für Kapitaldelikte zuständigen Schwurgerichtskammern) und der Oberlandesgerichte sind lediglich mit dem Rechtsmittel der Revision anfechtbar (über die dann der Bundesgerichtshof entscheidet). Gegen Berufungsurteile der Landgerichte ist die Revision zum Oberlandesgericht gegeben, gegen das der Oberlandesgerichte zum Bundesgerichtshof.

Vollstreckungsverfahren

Anschließend beginnt das Vollstreckungsverfahren. Dieses ist in den §§ 449 ff. StPO geregelt. Die Staatsanwaltschaft ist Herrin des Vollstreckungsverfahrens. Mit der Rechtskraft beginnt die Vollstreckungsverjährung.

Literatur

  • Gerhard Schäfer, Günther M. Sander: Die Praxis des Strafverfahrens. Kohlhammer, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-17-019782-4.

Lehrbücher

Kommentare

  • Lutz Meyer-Gossner: Strafprozessordnung. 53., neu bearb. Auflage. C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60600-7.

Weblinks

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