Deutscher Herbst

Deutscher Herbst

Als Deutscher Herbst wird die Zeit und ihre politische Atmosphäre in Westdeutschland im September und Oktober 1977 bezeichnet, die geprägt war durch Anschläge der linksextremistischen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF). Die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers, die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs Landshut und die Selbstmorde der inhaftierten führenden Mitglieder der ersten Generation der RAF stellten den Schlussakt der so genannten Offensive 77 der RAF und den Höhepunkt des deutschen Terrorismus dar. Der Deutsche Herbst gilt als eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Der Begriff „Deutscher Herbst“ leitet sich von dem Film Deutschland im Herbst von 1978 ab, einer Collage mehrerer Dokumentarfilme von elf Regisseuren des „Neuen Deutschen Films“, die sich mit der Reaktion des Staates auf den Terrorismus aus unterschiedlichen Blickwinkeln kritisch auseinandersetzen.

Inhaltsverzeichnis

Verlauf des Herbstes 1977

Am 5. September 1977 wurde der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Köln überfallen und verschleppt, dabei wurden sein Fahrer und drei Polizeibeamte getötet. Die Entführer forderten die Freilassung von elf gefangenen RAF-Mitgliedern.

Da die Regierung – anders als bei der Entführung von Peter Lorenz zwei Jahre zuvor – nicht zu einem Gefangenenaustausch bereit war, versuchten mit der RAF verbündete Terroristen der PFLP, den Druck durch die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ am 13. Oktober 1977 zu erhöhen. Nach einer Odyssee des Flugzeuges durch die arabische Welt und der Ermordung des Kapitäns Jürgen Schumann landeten die Terroristen auf dem Flughafen Mogadischus, der Hauptstadt des ostafrikanischen Somalia. Hier wurde das Flugzeug am 18. Oktober gegen 0:30 Uhr durch die GSG 9 gestürmt. Um 0:38 Uhr kam eine Sondermeldung des Deutschlandfunkes, dass „alle Geiseln befreit sind. Ob es unter ihnen Tote und Verletzte gab, wissen wir zu dieser Stunde noch nicht …“. Die 86 Geiseln konnten unverletzt befreit werden.

Kurz danach, noch in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977, der Todesnacht von Stammheim, begingen die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord. Die ebenfalls in Stammheim inhaftierte Irmgard Möller überlebte mit vier Messerstichen in der Herzgegend.

Als Reaktion auf die Stürmung des Flugzeuges „Landshut“ wurde Hanns Martin Schleyer von seinen Entführern erschossen. Seine Leiche wurde am Abend des 19. Oktober in Mülhausen im Elsass gefunden.

Die gesellschaftspolitische Atmosphäre während des Deutschen Herbstes

Der Begriff „Deutscher Herbst“ steht auch für die Atmosphäre in Westdeutschland und West-Berlin im Herbst 1977. Nach der Verhaftung der ersten Generation der RAF im Jahr 1972 hatten viele geglaubt, das Kapitel Linksterrorismus sei nun geschlossen. Es stellte sich jedoch heraus, dass die RAF eine zweite Generation hervorgebracht hatte. Durch die sympathisierenden Rechtsanwälte, wie die später selbst verurteilten Klaus Croissant und Siegfried Haag, gelang es der RAF, neue Untergrundkämpfer zu rekrutieren. Außerdem versorgten die Anwälte die linke Szene, aber auch die Medien, mit immer neuen Nachrichten über die inhaftierten Mitglieder der ersten Generation. Es wurde von Isolationshaft gesprochen und für die Häftlinge der Status von Kriegsgefangenen gefordert. Zwischen 1972 und 1977 hatte es sechs Hungerstreiks gegeben, an denen sich bis zu 90 Häftlinge beteiligten. Holger Meins war 1974 an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben. Ab 1975 kam es zu einer neuen Anschlagserie. Diese Ereignisse polarisierten. Für die Medien war der RAF-Terror nun ein beherrschendes Thema. Neue polizeitaktische Methoden, unter anderem die Rasterfahndung, hatten zu einigen Fahndungserfolgen geführt, aber auch viele Unbeteiligte in den Fahndungsprozess mit einbezogen. Straßensperren, Personenkontrollen und schwer bewaffnete Polizisten gehörten zum Straßenbild. Die Angst vor neuen Anschlägen war weit verbreitet.

Die linke Szene, aber auch weite Teile sozialdemokratischer und liberaler Kreise fühlten sich andererseits durch die neuen Gesetze in ihren Grundrechten bedroht und wollten sich ideologisch mit der RAF auseinandersetzen. Vielen dieser Gruppen und Personen, die nach den Ursachen des Terrorismus fragten, wurde fehlende Distanz zur RAF vorgeworfen und sie wurden als Sympathisanten der Terroristen angegriffen. So forderte der damalige Bundesinnenminister im April 1977 in einer Rede vor dem Innen- und Rechtsausschuss des Bundestages eine

Dissolidarisierungskampagne gegen die ganz erhebliche Unterstützer- oder jedenfalls Sympathisantenszene der RAF. Das ist das Wasser, in dem diese Fische schwimmen. Weiterhin schwimmen sie auch im Wasser einer Schickeria, die in der Tat die Grenzen nicht so ganz klar zieht.

Werner Maihofer[1]

Schon 1972 hatte der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll im Spiegel sein Plädoyer Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? veröffentlicht, in dem er sich mit den Motiven der RAF kritisch, aber sachlich auseinandersetzte und den Sensationsjournalismus der Bild-Zeitung in diesem Zusammenhang scharf kritisierte. Die Reaktion darauf war jedoch entgegengesetzt den Absichten von Böll, er galt von da an weithin als "Sympathisant" des Terrors, was vermutlich durch den vom Spiegel verfälschten Titel - die scheinbar vertraute Anrede "Ulrike" kam in Bölls Originaltext nicht vor - verstärkt worden war. Als Reaktion auf die folgende äußerst negative Berichterstattung vor allem der Springer-Medien veröffentlichte er 1974 die Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum, die als kämpferische Kritik am Sensationsjournalismus der Bild-Zeitung im Zusammenhang mit dem linken Terrorismus konzipiert war. Dies führte zu einer weiteren Verhärtung der publizistischen Fronten.

Am 25. April 1977 veröffentlichte ein anonymer Student der Göttinger Universität, der so genannte Göttinger Mescalero, in der damaligen Studentenzeitung Göttinger Nachrichten einen Text unter dem Titel Buback – ein Nachruf“, in dessen Einleitung er bekundete, eine klammheimliche Freude über den Tod Bubacks nicht verhehlen zu können, um im weiteren Verlauf des Textes trotz inhaltlicher Sympathie zu den Zielen der RAF, ihre Strategie der Gewalt grundlegend als Weg in eine Sackgasse zu kritisieren. Bekannt wurde vor allem die Einleitungspassage, woraufhin der Text verboten wurde. Um gegen die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit zu protestieren, wurde der Text mit einer einführenden Einleitung und der Unterschrift von 48 Hochschulprofessoren mehrfach nachgedruckt [2] und demonstrativ in verschiedenen kritischen Medien veröffentlicht, was zu über 140 Strafanzeigen gegen die Herausgeber und die veröffentlichenden Professoren führte, die letztlich jedoch alle freigesprochen wurden.

Reaktion der Politik

Auch die Parteien gerieten im Deutschen Herbst in heftige Auseinandersetzungen. Die CDU/CSU-Opposition vermutete bei der regierenden sozial-liberalen SPD/FDP-Koalition unter Helmut Schmidt (SPD) eine ideologische Nähe zu den Terroristen. Die Koalition ihrerseits warf der Opposition hysterische Überreaktionen vor und unterstellte ihr, sie nutze die Gelegenheit, die Bundesrepublik ein Stück weit in einen Polizeistaat zu verwandeln.[3]

Trotz – oder auch wegen – dieser Gegensätze berief Bundeskanzler Schmidt zu Beginn der Schleyer-Entführung den so genannten Großen Krisenstab ein. Dem Krisenstab gehörten Mitglieder aller Fraktionen des Deutschen Bundestages an, er bildete faktisch für 45 Tage eine Art Parallelregierung, für die es keine verfassungsmäßige Grundlage gab. Der Historiker Wolfgang Kraushaar bezeichnete diese Zeit später als „nicht-erklärten Ausnahmezustand“. Ein Ergebnis des parteiübergreifenden Konsenses war das im Herbst 1977 verabschiedete Kontaktsperregesetz, das die Möglichkeit zu einem Kontaktverbot für Häftlinge schuf. Dieses Kontaktverbot bezog sich auch auf die Gespräche mit Rechtsanwälten. Außerdem wurde die Strafprozessordnung dahingehend geändert, dass ein Angeklagter höchstens drei Wahlverteidiger benennen durfte. Bereits 1976 war mit dem § 129a StGB der Straftatbestand „Bildung terroristischer Vereinigungen“ geschaffen worden.

Literatur

Filmbeiträge

Weblinks

Einzelnachweise

  1. zitiert nach: Autonomie (Zeitschrift) Nr.12 9/78, S.120
  2. Buback-Nachruf mit Einführungstext und Unterschriften der 48 Professoren
  3. Peter Graf Kielmansegg:, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands, Berlin 2000, ISBN 3-88680-329-5, S.342

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