Polizeistaat

Polizeistaat

Nach der (in der deutschen Rechtswissenschaft formulierten) formalen Definition ist ein Polizeistaat ein Staatswesen, in dem die Verwaltungsorgane tätig werden dürfen, ohne dass zuvor von einem gewaltenteilig gesonderten Gesetzgeber eine gesetzliche Grundlage erlassen wurde (Gesetzesvorbehalt). Nach der materiellen (politischen) Definition ist ein Polizeistaat ein Staatswesen, das sich als Repressions- und Überwachungsstaat darstellt.[1]

Inhaltsverzeichnis

Begriffsentstehung

Etymologisch leitet sich der Begriff Polizei vom altgriechischen πολιτεία (politeia) ab. Er bezeichnete zunächst die gesamte öffentliche Verwaltung. Seit dem Mittelalter wurde gute Policey als Ausdruck für eine gute Verwaltung verwendet.

Diese Bedeutung setzte sich bis in das Zeitalter des Absolutismus fort. Entsprechend dem vorherrschenden Staatsmodell hatte der jeweilige monarchische Herrscher eine als absolut legitimierte Machtposition, die Grenzen des Verwaltungshandelns wurden nur durch die „Wohlfahrt“ der Untertanen bestimmt. Der Inhalt der „Wohlfahrt“ oder „guten Polizey“ wurde von der Obrigkeit nach ihrem Ermessen definiert.[2]

Durch den gesellschaftlichen Wandel, insbesondere nach dem Wiener Kongress, wurde der Polizeistaat zunehmend repressiv, um die aufstrebenden liberalen und demokratischen Bestrebungen zu unterdrücken. Der Polizeistaat wurde somit zum Kampfinstrument gegen politisch Andersdenkende (im absolutistischen Staatsgefüge war eine Opposition nichts anderes als ein Verstoß gegen die Interessen des Staates und damit auch gegen die Interessen seiner Untertanen).

Seitdem wird der Polizeistaat als ein Staatswesen definiert, in dem die Polizei allmächtig und der Einzelne so gut wie machtlos ist. Diese Wortbedeutung, die den Gegensatz zwischen Polizeistaat und Rechtsstaat hervorhebt, entstand in der Biedermeierzeit.[3]

In der Folgezeit entstanden Rechtsstaaten, in denen die Polizeigewalt (einschließlich Verwaltung) nur aufgrund von Gesetzen tätig werden darf (Gesetzesvorbehalt). In der Folge wurde auch der Ausdruck Polizei in demokratischen Staaten sprachlich zunehmend verdrängt (Gesundheitspolizei, Baupolizei und Ausländerpolizei wurden umbenannt in Gesundheitsamt, Bauaufsichtsbehörde und Ausländeramt). Die stetige Weiterentwicklung des Polizeirechts, Verwaltungsrechts, Strafrechts und letztlich der Verfassung mit Grundrechten führt zu mehr Rechtssicherheit und auch zu einer Verrechtlichung von immer mehr Lebensbereichen.

Verwandte Bezeichnungen

Staaten mit einer Tendenz zu massiver Überwachung der Bürger durch den Staat und dessen Polizei werden als Überwachungsstaaten bezeichnet. Die logische Weiterentwicklung des Überwachungsstaates ist der so genannte Präventionsstaat. Hier werden die Vielzahl der aus der Überwachung über die einzelnen Bürger gewonnenen spezifischen Informationen dazu genutzt, um unerwünschtes Verhalten dieser Bürger sehr zu erschweren oder möglichst von vornherein zu unterbinden. Mittel hierfür sind unter anderem Einreiseverbote, präventive Platzverweise, Demonstrationsverbote, Strafandrohungen, Verurteilungen mit langen Bewährungszeiten und die gezielte Überwachung verschiedenster Bevölkerungsgruppen zur Gefahrenabwehr.

Geschichte

Österreich unter Joseph II.

Das klassische Modell des Polizeistaates schuf im 18. Jahrhundert Joseph II. für das Habsburger Reich. In einem peniblen System von Vorschriften und Verboten errichtete er den historisch ersten Überwachungsstaat im modernen Sinn.

Preußen unter Wilhelm I.

Ein Beispiel für den Policey-Staat, also den Polizeistaat im ursprünglichen Sinn, in dem die Grenzen des Verwaltungshandelns nur durch die „Wohlfahrt“ bestimmt wurden, deren Inhalt die Obrigkeit nach ihrem Ermessen definierte,[4] ist (auch) Preußen zur Zeit Kaiser Wilhelms I.. Die der Polizei in § 10 II 17 ALR zugewiesene Wahrung der öffentlichen Ordnung ermöglichte es ihr durch weite Auslegung des Gesetzes, in alle Bereiche der öffentlichen Verwaltung einzugreifen. Erst das Kreuzbergerkenntnis des preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Juni 1882 wies die polizeiliche Gewalt in ihre Schranken und leitete das Ende des Polizeistaates absolutistischer Prägung ein.

Siehe auch: Obrigkeitsstaat

Entwicklung zum repressiven Unterdrückungsstaat

Sowjetunion

Die Sowjetunion war seit ihrer Gründung im Jahr 1922 bis zu ihrer Auflösung 1991 - mit Lockerungen während der Amtszeit Chruschtschows (Entstalinisierung) und Gorbatschows (Perestroika) - ein extrem repressiver Polizeistaat, in dem sich kaum ein Bereich des täglichen Lebens der staatlichen Überwachung, Kontrolle und möglichen Repression entzog. Wirtschafts-,Reise-, Bildungs-, Meinungsfreiheit und andere Freiheiten existierten zwar auf dem Papier, nicht aber in der Praxis. So musste für fast jede bedeutende Tätigkeit eine Bewilligung der Obrigkeit eingeholt werden. Die staatlichen Behörden, in erster Linie der Geheim- und Staatssicherheitsdienst NKWD, später KGB, überwachten intensiv das öffentliche und private Leben der Sowjetbürger ; politisch Oppositionelle (Dissidenten) hatten staatliche Repressalien und schwere Strafen, Folter (Lubjanka), Erschießung oder Deportation in Straflager ("Gulag") zu erwarten.

Diese totalitären Kontroll- und Zwangsmaßnahmen erfolgten am rigorosesten unter den Staatschefs und Generalsekretären der KPdSU Stalin und Breschnew, der Dissidenten in psychiatrische Gefängnisse einweisen ließ, während zur Zeit Chruschtschows und in späterer Zeit, vor allem in der Regierungsära Gorbatschows (Glasnost), auch begrenzte kulturelle, politische und persönliche Freiräume entstanden. In der Nachstalinzeit entstand ein dissidenter Untergrund, der sich unter anderem über verbotenes Schrifttum und Literatur (Samisdat) und den politischen Humor am Leben hielt [5].

Nationalsozialismus

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht in Deutschland übernahmen, errichteten sie ein regelrechtes Terrorregime. Durch eine Unzahl von Verordnungen schalteten sie systematisch alle politischen Gegner aus. Die ersten Opfer waren die Kommunisten und Sozialdemokraten, deren Parteien verboten und deren Mitglieder verhaftet wurden. Gesetze, die angeblich zum „Schutz von Volk und Staat“ dienen sollten, beschränkten massiv die verfassungsmäßigen Grundrechte. In Folge dessen kam es beispielsweise zu Einschränkungen der Pressefreiheit oder Verminderung des Rechts der freien Meinungsäußerung. Willkürliche Durchsuchungen und Beschlagnahmung von Eigentum waren demnach erlaubt und kamen in großer Anzahl vor.

Im nächsten Schritt wurde eine allumfassende Überwachung eingeführt. Nazis überprüften Haushalte und Personen, um alle Tätigkeiten oder Äußerungen, die nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen zur Anzeige zu bringen (siehe auch Blockwart#Aufgabenbereich). Zu diesem Zwecke errichtete man Sondergerichte, die politische Vergehen sofort aburteilten und zum Teil drakonische Strafen aussprachen.

Häufig kam es unter den Menschen zu einer Welle von Verdächtigungen und Verleumdungen. Oftmals geschah dies aus der Angst heraus selber als ein Sympathisant eines Täters zu gelten – oder auch einfach nur aus reiner Bosheit. Selbst vor den eigenen Verwandten und sogar den eigenen Kindern war man nicht mehr sicher. In einer derart gestörten Atmosphäre des menschlichen Zusammenlebens konnte man sich der Gefahr einer Verhaftung nur durch beharrliches Schweigen entziehen.

Weiter nutzte die Geheime Staatspolizei eine Vielzahl von Spitzeln zur Aufklärung verborgener politischer Bewegungen. Entdeckten solche Kundschafter von ihnen als staatsfeindlich angesehene Aktivitäten, so dauerte es nicht lange bis die ersten Verhaftungen durchgeführt wurden. Die meisten Betroffenen nahm man in „Schutzhaft“, wo sie zumeist gefoltert wurden oder brachte sie in Konzentrationslager. Die Verhaftungen erfolgten häufig in der Nacht, so dass Personen ohne großes Aufsehen von einem Tag zum Anderen verschwanden.

DDR

Die Deutsche Demokratische Republik vor dem Fall der Berliner Mauer wird oft als Polizeistaat klassifiziert. Der Polizeiapparat im internationalen Vergleich war überdimensioniert. In der Innen- und Außenansicht wird jedoch vor allem das mit großer Macht ausgestattete und mit geheimdienstlichen Mitteln operierende Ministerium für Staatssicherheit als zentrales Polizeistaatselement angeführt.[6] Das MfS versuchte als Geheimpolizei, allgegenwärtig sämtliche gesellschaftlichen Bereiche Ostdeutschlands zu überwachen und nahm zahlreiche angeblich „staatsfeindliche“ Personen und Aktivitäten in unzähligen Akten auf. Die Stasi beschäftigte schätzungsweise 100.000 inoffizielle Mitarbeiter. Es gab einige Tausend politische Gefangene[7][8].

Nordkorea

Nordkorea unter der Herrschaft der stalinistischen Partei der Arbeit Koreas ist ein extremer Unterdrückungs- und Polizeistaat und gehört zu den Ländern, in denen dabei die Menschenrechte am wenigsten geachtet werden. Kritik an der Führung wird streng bestraft. Die Medien werden vollständig vom Staat kontrolliert, nicht genehmigte Versammlungen sind verboten. Den Nordkoreanern ist nicht erlaubt das Land zu verlassen. Der Aufenthaltsort im Land wird von den Behörden vorgeschrieben.

Menschenrechtsgruppen berichten von Gefangenen- und Arbeitslagern, in denen viele politische Gefangene, sowie Menschen, die lediglich aufgrund ihres Glaubens verhaftet wurden, inhaftiert sind. Selbst schwangere Frauen werden in diesen Lagern zu langer und harter Arbeit gezwungen. Die Inhaftierten sind der Willkür der Wärter ausgeliefert, es existieren Berichte über Folter. Inhaftierte starben infolge Folter, Hunger oder wurden wegen geringer Vergehen hingerichtet. Hinrichtungen finden oft in der Öffentlichkeit statt. Westlichen Hilfsorganisationen zufolge sind rund 200.000 Menschen interniert (Stand 2005), von denen etwa 10 bis 20 % pro Jahr durch miserable Lagerverhältnisse oder Exekutionen umkommen. Vereinzelte Zeugen (z. B. Kang Chol-hwan oder Lee Soon-ok), denen es gelungen ist aus den Lagern und aus Nordkorea zu fliehen, berichten darüber hinaus über Menschenversuche an Gefangenen mit Gasen oder Viren. Die Religionsfreiheit in Nordkorea ist nicht gewährleistet [9][10].

China

Die Volksrepublik China ist ein autoritärer und stark repressiver Polizeistaat unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Das Einparteiensystem ist in der Verfassung verankert. Das höchste Staatsorgan ist der Nationale Volkskongress (NVK), das Parlament der Volksrepublik China. Er wählt den Staatspräsidenten, den Staatsrat (die Regierung der VR China), den Obersten Volksgerichtshof, die Zentrale Militärkommission und die Oberste Staatsanwaltschaft, jedoch jeweils nur auf Vorschlag der Kommunistischen Partei, deren Organisation mit ca. 73 Mio. Mitgliedern den Staatsapparat auf allen Stufen durchdringt und oft kaum von ihm zu trennen ist.

Politische Opposition ist strafbar, die Gründung von Gewerkschaften verboten, Presse- und Meinungsfreiheit sind nicht existent. Millionen Dissidenten sind in Arbeitslagern oder Psychiatrischen Kliniken inhaftiert. Streng zensiert wird das Internet, dort stattfindende Diskussionen werden kontrolliert, unliebsame Personen oder Regimekritiker festgenommen[11].

Tunesien

Das politische Leben in Tunesien wurde bis zur Revolution in Tunesien 2010/2011 fast vollständig von der RCD (Rassemblement Constitutionnel Democratique) beherrscht. Sie war 25 Jahre lang auch die einzig zugelassene Partei, deren Vorsitzender Zine el-Abidine Ben Ali war gleichzeitig Regierungschef und Präsident. Er kam im Oktober 1987 durch einen Putsch an die Regierung, 2002 ließ Ben Ali die Verfassung ändern, um seine Regierung über 2004 hinaus verlängern zu können. Er wurde seitdem bei Wahlen, die nach Ansicht zahlreicher Beobachter den Anforderungen wirklich demokratischer Wahlen nicht genügen, in seinem Amt bestätigt. Bei der Wahl im Oktober 2004 erzielte er nach offiziellen Angaben 94,49 %.[12] Ben Ali hält die polizeistaatlichen Strukturen im Lande aufrecht, dazu bedient er sich freiwilliger Spitzel aus der eigenen Bevölkerung. Kritiker müssen mit Gefängnisstrafen und Folter rechnen (vgl. Zouhair Yahyaoui).

Menschenrechtsaktivisten beklagten die politische Repression in Tunesien. Ein Bericht von Human Rights Watch warf der Regierung im Juli 2004 unmenschliche Behandlung zahlreicher politischer Gefangener vor. Vierzig von ihnen, ausnahmslos Islamisten, die keinerlei Gewalttaten begangen hätten, würden zum Teil seit Jahren in Isolationshaft gehalten. Seit 1991 war die Tunesische Menschenrechtsliga (LTDH), die einzige Organisation die einen einzigen Gefängnisbesuch machen durfte. Seitdem wurde keiner unabhängigen Menschenrechtsorganisation der Zugang zu den Haftanstalten gewährt.[13][14] Die Meinungsfreiheit im Internet sowie in anderen Medien ist stark eingeschränkt und unterliegt der staatlichen Zensur.[15] In Vergangenheit kam es häufiger zu Arbeiterstreiks die gewaltsam beendet wurden.[16][17] Es gibt außerdem immer wieder Berichte über Polizisten die gewaltsam gegen Kritiker, Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten vorgehen.[18]

Laut dem Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International werden hunderte Oppositionspolitiker seit Jahren ohne Anklage festgehalten und gefoltert. Auch die medizinische Versorgung der Häftlinge ist nicht gewährleistet. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit blieben im Berichtsjahr 2006 weiterhin stark eingeschränkt und die Unabhängigkeit der Justiz ist nicht gewährleistet, vielmehr ist sie weiterhin ein Instrument der regierenden Partei.[19]

Literatur und Film

Eine der bekanntesten literarischen Abhandlungen über den Polizeistaat lieferte George Orwell in seinem Roman 1984. Orwell beschrieb ein totalitäres Regime, das einen ständigen Krieg zwischen drei Großstaaten als Vorwand nutzt, um die Bevölkerung einer immer währenden Kontrolle zu unterziehen. Terry Gilliam nahm sich in seinem Film Brazil einer ähnlichen Thematik an.

Siehe auch

Literatur

  • Martin Kutscha: Auf dem Weg in einen Polizeistaat neuen Typs? In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 2/2001, S. 214-221
  • Norman Paech: Rechtsstaat oder Polizeistaat? In: Martin Kutsch und Norman Paech (Hrsg.): Im Staat der "Inneren Sicherheit. Frankfurt a.M. 1981
  • Fredrik Roggan: Auf legalem Weg in einen Polizeistaat. Bonn 2000
  • Brian Chapman: Der Polizeistaat (Aus d. Engl. von Barbara Ullmann), List, München 1972, ISBN 3-471-61560-1

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Andreas Hauer: Ruhe, Ordnung, Sicherheit. Springer, Wien, 2000, ISBN 3-211-83444-3, Seite 402 ff.
  2. Janos Vehervary, Wolfgang Stangl, Menschenrecht und Staatsgewalt, WUV Universitätsverlag, 2000, Wien, ISBN 3-85114-487-2, Seite 49
  3. Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte. Band 3, Böhlau, 5. Auflage 2008, ISBN 978-3-412-10706-2, Seite 81
  4. Janos Vehervary, Wolfgang Stangl, Menschenrecht und Staatsgewalt, WUV Universitätsverlag, 2000, Wien, ISBN 3-85114-487-2, Seite 49
  5. Michael S. Voslensky: Das Geheime wird offenbar. Moskauer Archive erzählen. 1917-1991. Langen Müller, München 1995, ISBN 3-7844-2536-4
  6. Hans-Jürgen Lange: „Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland“, Leske + Budrich Verlag, 2000, S. 89
  7. Amnesty international 1977
  8. Amnesty Jahresbericht 1985
  9. Berichte von amnesty international
  10. Bericht von Radio Bremen
  11. Amnesty international. Jahresbericht 2005
  12. Ben Ali 2004
  13. Die Welt: Im Inneren ist Tunesien ein Polizeistaat
  14. ASYL.net
  15. HRW.org
  16. Videoreportage über den Polizeistaat Tunesien
  17. Labornet
  18. Morgenpost.de
  19. amnesty.de

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