Gruppenintelligenz

Gruppenintelligenz

Kollektive Intelligenz, auch Gruppen- oder Schwarmintelligenz genannt, ist ein emergentes Phänomen. Kommunikation und spezifische Handlungen von Individuen können intelligente Verhaltensweisen des betreffenden „Superorganismus”, d. h. der sozialen Gemeinschaft, hervorrufen. Zur Erklärung dieses Phänomens existieren systemtheoretische, soziologische und pseudowissenschaftliche Ansätze.

Inhaltsverzeichnis

Systemtheorie

Francis Heylighen, Kybernetiker an der Vrije Universiteit Brussel, betrachtet das Internet und seine Nutzer als Superorganismus: „Eine Gesellschaft kann als vielzelliger Organismus angesehen werden, mit den Individuen in der Rolle der Zellen. Das Netzwerk der Kommunikationskanäle, die die Individuen verbinden, spielt die Rolle des Nervensystems für diesen Superorganismus”. Der Schwarm ersetzt das Netzwerk dabei also nicht, sondern bildet nur die Basis. Diese Sicht geht konform mit der Betrachtung des Internet als Informationsinfrastruktur. Die Bedeutung des Begriffes verschiebt sich dabei jedoch weg von künstlicher Intelligenz hin zu einer Art Aggregierung menschlicher Intelligenz.

Soziologische Beschreibung

So versteht eine soziologische Interpretation unter kollektiver Intelligenz gemeinsame, konsensbasierte Entscheidungsfindung. Kollektive Intelligenz ist ein altes Phänomen, auf das Fortschritte in Informations- und Kommunikationstechnologien neu und verstärkt hinweisen. Das Internet vereinfacht wie nie, dezentral verstreutes Wissen der Menschen zu koordinieren und so deren kollektive Intelligenz nutzbar zu machen.

So formuliert Howard Rheingold in Smart Mobs: „The ‚Killer-Apps’ of tomorrow's mobile infocom industry won't be hardware devices or software programs but social practices.” (Die Killerapplikationen der mobilen IT-Industrie von morgen werden nicht Hardware oder Software sein, sondern soziale Handlungen.). Dem Leitbild der Schwarmintelligenz wird das Potential unterstellt, Gesellschaft und Märkte zu transformieren. Als Beispiel hierfür werden Smart Mobs wie die Critical Mass-Bewegung angeführt.

Naturwissenschaftliche Beschreibung

Die Individuen staatenbildender Insekten agieren mit eingeschränkter Unabhängigkeit, sind in der Erfüllung ihrer Aufgaben jedoch sehr zielgerichtet. Die Gesamtheit solcher Insektengesellschaften ist überaus leistungsfähig, was Forscher auf eine hochgradig entwickelte Form der Selbstorganisation zurückführen. Zur Kommunikation untereinander nutzen Ameisen beispielsweise Pheromone; Bienen den Schwänzeltanz. Ohne zentralisierte Form der Oberaufsicht ist das Ganze also mehr als die Summe der Teile.

Nach Ansicht des britischen Biologen Rupert Sheldrake liegt ein nicht näher definiertes biologisches (und potentiell gesellschaftliches) morphisches Feld zugrunde, das eine „formbildende Verursachung“ für die Entwicklung von Strukturen sein soll.

Klassisches Beispiel ist der Ameisenstaat. Einzelne Ameisen haben ein sehr begrenztes Verhaltens- und Reaktionsrepertoire. Im selbstorganisierenden Zusammenspiel ergeben sich jedoch immer wieder Verhaltensmuster, die „intelligent“ genannt werden können.

In gewisser Weise ist auch ein Gehirn das Zusammenspiel eines Superorganismus aus für sich „dummen” Individuen, nämlich den Neuronen. Ein Neuron ist annähernd nichts weiter als ein Integrator mit Reaktionsschwelle, genauer, einer sigmoiden Reaktionskurve. Erst das komplexe und spezifischen Regeln unterliegende Zusammenwirken von Milliarden von Neuronen ergibt, was wir unter Intelligenz verstehen.

Beschreibung in der Informatik

Schwarmintelligenz (engl. swarm intelligence), das Forschungsfeld der Künstlichen Intelligenz (KI), das auf Agententechnologie basiert, heißt auch Verteilte Künstliche Intelligenz (VKI). Das Arbeitsgebiet versucht, komplexe vernetzte Softwareagentensysteme nach dem Vorbild staatenbildender Insekten wie Ameisen, Bienen und Termiten, sowie teilweise auch Vogelschwärmen zu modellieren. G. Beni und J. Wang hatten den Begriff swarm intelligence 1989 im Kontext der Robotikforschung geprägt.[1]

Die VKI-Forschung geht davon aus, dass die Kooperation künstlicher Agenten höhere kognitive Leistungen simulieren kann; Marvin Minsky bezeichnet dies als The Society of Mind. Ein Einsatzbeispiel für diese so genannten Ameisenalgorithmen stellten Sunil Nakrani von der Oxford University und Craig Tovey vom Georgia Institute of Technology 2004 auf einer Konferenz über mathematische Modelle sozialer Insekten vor; sie modellierten die Berechnung der optimalen Lastverteilung bei einem Cluster von Internet-Servern nach dem Verhalten der Bienen beim Nektarsammeln [2].

Für die Kommunikation zwischen den Agenten wird häufig die Knowledge Query and Manipulation Language (KQML) eingesetzt.

1986 bildete Craig Reynolds mit dem Computerprogramm Boids eine Simulation des Schwarmfluges ab.

Neben dem Forschungsfeld der VKI ist Schwarmintelligenz auch ein unscharfes Mode-Schlagwort, wie bereits ab etwa 2000 das Peer-to-Peer. Während letzteres antrat, das Paradigma der Client-Server-Architektur durch dezentralisierte P2P-Architekturen abzulösen, soll Schwarmintelligenz nun hardwarebasierte Netzwerke ersetzen.

Forscher an der Princeton University befassen sich unter der Leitung von Roger Nelson seit 1988 mit dem Phänomen der kollektiven Wahrnehmung von Menschen und haben dazu Messstationen auf der ganzen Welt stationiert. Das „Global Consciousness Project“ sammelt die empirischen Daten und vergleicht sie mit der Nachrichtenlage, um zu erkennen, ob ein Ereignis bereits, bevor die Nachricht verbreitet wurde, neuronale Reaktionen hervorruft. Hierzu wurden signifikante, wenn auch minimale empirische Belege geliefert [3]

Anwendungsbeispiele

In der Didaktik

Es ist naheliegend, dass an Orten, an denen gemeinsam nachgedacht und kollektiv Wissen konstruiert wird, das Prinzip der kollektiven Intelligenz besondere Beachtung findet. So wird versucht, Lernergruppen so umzugestalten, dass die Ressourcen der einzelnen Lerner stärker ausgeschöpft werden als es bei dem tradierten Frontalunterricht der Fall ist. Das Gehirn wird als Modell herangezogen und die Lerner werden metaphorisch als Neurone definiert. Auf der Basis intensiver Interaktionen zwischen den Lernern „emergieren“ kollektive Gedanken. Dieses Prinzip wird in der Unterrichtsmethode Lernen durch Lehren (nach Martin) systematisch eingesetzt.

Das Internet

Auch der Cyberspace wurde schon als kollektive Intelligenz bezeichnet. Im heutigen Zustand des Internet mit seinen Milliarden von größtenteils zusammenhanglosen, statischen Dokumenten wird jedoch gelegentlich auch etwas vorsichtiger von kollektivem (Un-)Wissen gesprochen (ein Stichwort Informationsmüll). Allerdings werden Internetinhalte zunehmend dynamischer (Beispiele: Newsfeed, Blogs, Wikis).

Die Verwendung der Gehirnstruktur als Modell für Organisationen hat eine lange Tradition [4]. Bei Aufkommen des Internets wurden von Anfang an Analogien zwischen dem Internet und dem Gehirn gezogen, wobei die Interaktionen zwischen Benutzern mit Interaktionen zwischen Neuronen oder Neuronenensembles verglichen werden können. Nach anfänglicher Skepsis wächst die Anzahl an Publikationen, die das Internet metaphorisch als Weltgehirn betrachten. Auch wenn der Vergleich noch zahlreiche Schwachpunkte aufweist, so zeigt sich die Metapher als heuristisches Instrument sehr fruchtbar[5].

Siehe auch

Personen

Quellen

  1. Peter Miller: "Schwarm-Intelligenz: Weisheit der Winzlinge", in: "National Geographic Deutschland", Heft 08/2007
  2. vgl. [1]
  3. siehe Current Results, Empirical Normalization unter http://noosphere.princeton.edu
  4. vgl. u.a. Heinz-Kurs Wahren: Lernende Unternehmen. Theorie und Praxis des organisationalen Lernens. Berlin. New-York: de Gruyter. 1996
  5. vgl. Florian Rötzer (1999): Megamaschine Wissen: Vision: Überleben im Netz. New York:Campus Verlag. Jean-Pol Martin (1998): Forschungshomepage – Homepageforschung, in: E. Piepho, A. Kubanek-German (Hrsg.): I beg to differ'. Beiträge zum sperrigen interkulturellen Nachdenken über eine Welt in Frieden. Festschrift für Hans Hunfeld. München: Judicum 1998: 205–213, (PDF-Datei).Jean-Pol Martin (2002): „Wissenscontainer: Online-communities und kollektive Lernprozesse“, In: Christiane Neveling (Hrsg): Perspektiven für die zukünftige Fremdsprachendidaktik. (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). Gunter Narr Verlag Tübingen. S. 89–102. PDF Jean-Pol Martin (2006): „Gemeinsam Wissen konstruieren: am Beispiel der Wikipedia“. In: Klebl, Michael, Köck, Michael (Hg.)(2006): Projekte und Perspektiven im Studium Digitale. Medienpädagogik, 3: 157–164. LIT Verlag Berlin. PDF

Literatur

  • Pierre Lévy: Die kollektive Intelligenz. Eine Anthropologie des Cyberspace, Mannheim 1997
  • Ray Kurzweil: Homo S@piens
  • Christopher Adami: Introduction to Artificial Life. Springer (1998)
  • James Surowiecki: Die Weisheit der Vielen
  • Angelika Karger: Wissensmanagement und „Swarm intelligence“ - Wissenschaftstheoretische, semiotische und kognitionsphilosophische Analysen und Perspektiven in „Die Zukunft des Wissens: XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie Konstanz 1999 Workshop-Beiträge, Hrsg. von Jürgen Mittelstrass, Universitätsverlag Konstanz, ISBN 3-87940-697-9
  • Jean-Baptiste Waldner: Nanocomputers & Swarm Intelligence, ISTE, London, 2007, ISBN 1-84704-002-0
  • Lynne E. Parker: Multi-robot systems - From swarms to intelligent automata. Springer, Dordrecht 2005, ISBN 1-4020-3388-5
Fiktion

Weblinks

Disziplinübergreifend
Naturwissenschaften
Informatik
Gesellschaft, Ökonomie und Management

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