Lebensreform

Lebensreform

Lebensreform ist der Oberbegriff für verschiedene seit Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere von Deutschland und der Schweiz ausgehende Reformbewegungen, deren gemeinsame Merkmale die Kritik an Industrialisierung beziehungsweise Materialismus und Urbanisierung, verbunden mit einem Streben nach dem Naturzustand, waren. Eine übergreifende Organisation besaßen die verschiedenen Bewegungen nicht, dagegen bestanden zahlreiche Vereine. Ob die Reformbewegungen der Lebensreform eher als modern oder als anti-modern und reaktionär einzuordnen sind, ist in der Literatur umstritten; beide Thesen werden vertreten.[1]

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Die einzelnen Bewegungen entstanden als Reaktion auf Entwicklungen der Moderne, die sie nicht als Fortschritt, sondern als Verfallserscheinungen ansahen. Wesentlich für ihre Entstehung war die Befürchtung, dass die moderne Gesellschaft beim Einzelnen zu „Zivilisationsschäden“ und Zivilisationskrankheiten führe, die durch eine Rückkehr zu „naturgemäßer Lebensweise“ vermieden und geheilt werden könnten. „Der Mensch in seiner zivilisationsbedingten Not sollte allerdings nicht im banalen Sinne geheilt werden. Die Lebensreform wollte sein Heil, seine Erlösung. (...) Die Weltanschauung der Lebensreform beinhaltet im Kern eine säkularisierte gnostisch-eschatologische Erlösungslehre.“[2]

Vertreter der Lebensreform propagierten eine naturnahe Lebensweise, ökologische Landwirtschaft, Vegetarismus, Reformkleidung, Naturheilkunde etc. und reagierten damit auf die aus ihrer Sicht negativen Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert. In geistiger Hinsicht wandte sich die Lebensreform neuen religiösen und spirituellen Anschauungen zu, unter anderem Theosophie, Mazdaznan und Yoga.

Ihre bauliche Ausprägung erhielt die Lebensreform zunächst in Siedlungsexperimenten wie dem Monte Verità und später in der Gartenstadtbewegung, wie der Siedlung Hellerau und vieler anderer, deren bekanntester Vertreter der Architekt Heinrich Tessenow (1876–1950) war. Die erste Gründung in Deutschland war im Jahre 1893 die Obstbau-Genossenschaft Eden bei Oranienburg.

Die Lebensreform war eine hauptsächlich bürgerlich dominierte Bewegung, an der auch viele Frauen teilnahmen. In der Körperkultur ging es darum, unter dem Eindruck von Industrialisierung und Verstädterung den Menschen zum Ausgleich viel frische Luft und Sonne zu verschaffen.

Einige Bereiche der Lebensreformbewegung, wie z. B. die Naturheilkunde oder der Vegetarismus, waren in Vereinen organisiert und erfuhren regen Zulauf, was sich in den Mitgliederzahlen widerspiegelt.[3] Zur Verbreitung ihrer Inhalte und Prinzipien gaben sie Zeitschriften wie Der Naturarzt oder Die vegetarische Warte heraus.

Teil der Lebensreform waren darüber hinaus die Freikörperkultur (FKK, auch Naturismus) und die Turnbewegung. Es bestehen auch enge Kontakte zur Bodenreformbewegung (Adolf Damaschke u. a.), zur Freiwirtschaftsbewegung Silvio Gesells, zur frühen Jugendbewegung sowie zu anderen sozialreformerischen Bewegungen.

Einzelne Reformbewegungen

Naturheilkunde

Die Grundgedanken der Naturheilkundebewegung des 19. Jahrhunderts stammen von Jean-Jacques Rousseau, der seinen Erziehungsroman Émile oder über die Erziehung 1762 mit dem Satz einleitete: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen“. Er forderte eine Rückkehr zu naturgemäßer Lebensweise, postulierte eine körpereigene „Naturkraft“, die durch Abhärtung zu fördern sei, und lehnte Medikamente ab.

Als erste Vertreter der Naturheilbewegung gelten Vinzenz Prießnitz und Johann Schroth, beide Landwirte und medizinische Laien. Sie setzten bei den nach ihnen benannten Kuren nur auf natürliche Heilmittel wie Wasser, Wärme und Luft und wurden bald als „Wunderdoktoren“ bezeichnet, wobei sie dieselben Krankheiten teilweise völlig gegensätzlich behandelten. Wesentliches Merkmal der entstehenden Naturheilkunde war die Überzeugung, dass der Körper über Selbstheilungskräfte verfüge, die lediglich angeregt und unterstützt werden müssten. Diese Ansicht ging auf Paracelsus zurück. Der bekannteste Naturheiler des 19. Jahrhunderts war Sebastian Kneipp. Im deutschen Sprachraum wurden so genannte Naturheilanstalten gegründet. 1891 waren 131 davon im Dachverband der Naturheilvereine organisiert.[4]

Zentrale Ansichten der Naturheilkunde nannte Meyers Konversationslexikon Ende des 19. Jahrhunderts: „Die Krankheitsvorgänge betrachtet sie als Heilsvorgänge, durch welche die den Lebensakt störenden Stoffe unter den Zeichen des Fiebers, der Entzündung, der Gärung und Fäulnis, d. h. durch Zersetzungsprozesse, unschädlich gemacht werden. Auf diesem Weg ist die Naturheilkunde so weit gekommen, beispielsweise Masern, Pocken, Scharlach für von der Natur für ein bestimmtes Lebensalter eingesetzte Reinigungsprozesse zu erklären, deren Lebensgefährlichkeit erst durch das hinfällige Menschengeschlecht sowie durch die Arzneiheilkunde selbst geschaffen worden sei.“[5]

1883 wurde der Deutsche Verein für Naturheilkunde und für volksverständliche Gesundheitspflege gegründet. Im Jahr 1900 benannte er sich um in Deutscher Bund der Vereine für naturgemäße Lebens- und Heilweise. 1889 waren in diesem Dachverband 142 Ortsvereine mit etwa 19.000 Mitgliedern organisiert, 1913 waren es bereits 885 Vereine mit 148.000 Mitgliedern. Der Verband besaß einen Verlag, der die Zeitschrift Der Naturarzt herausgab.

Auch die ältere alternativmedizinische Methode der Homöopathie erfuhr ab 1870 einen verstärkten Zulauf, der zur Gründung zahlreicher homöopathischer Laienvereine in Deutschland führte.

In den 1920er Jahren verlor die Naturheilkunde insgesamt an Popularität, der Zenit dieser Bewegung war überschritten. Eine Ausnahme bildete nur der 1897 gegründete Kneipp-Bund, der in den 1960er Jahren etwa 65.000 Mitglieder hatte.[4]

Nach 1933 wurde die „Deutsche Lebensreform-Bewegung“ gleichgeschaltet und ging in der Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweise der NSDAP auf. „Die Nationalsozialisten erhofften sich durch die Instrumentalisierung von Lebensreform und naturgemäßer Heilkunde die Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes, seine ‚rassische‘ Gesundheit und physische Robustheit zu steigern.“[6] Die NSDAP propagierte die Einbeziehung von Naturheilverfahren in die allgemeine Medizin unter dem Begriff Neue Deutsche Heilkunde (NDH). Die entsprechenden Pläne scheiterten aber letztlich am Widerstand der Ärzteschaft.[4]

Kleidungsreform

Hauptartikel: Reformkleidung

Im Umfeld der Lebensreform-Bewegungen gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland mehrere Ansätze zu einer Reform der Kleidung, wobei sich die ersten Überlegungen auf die Männerkleidung bezogen. Heftige Kontroversen gab es zur Frage, welches Material der Gesundheit besonders zuträglich sei. Gustav Jäger hielt ausschließlich Wolle für geeignet, während Heinrich Lahmann Baumwolle befürwortete und Sebastian Kneipp vor allem Leinen. Jäger gründete ein eigenes Bekleidungsunternehmen für die von ihm entworfene sogenannte Normalkleidung für Männer, die einige Jahrzehnte lang recht erfolgreich auf dem Markt war, nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in England. Er gründete einen eigenen Verein und gab eine monatliche Zeitschrift heraus.[7]

Bei den Reformansätzen der Frauenkleidung ging es vor allem um die Abschaffung des Korsetts, die nicht nur von Frauenrechtlerinnen, sondern auch von einigen Medizinern nachdrücklich gefordert wurde. Der Arzt Samuel Thomas Sömmering hatte schon 1788 einen Aufsatz mit dem Titel „Über die Schädlichkeit der Schnürbrüste“ geschrieben. In der Folgezeit häuften sich öffentliche Vermutungen, die starke Einschnürung führe zur Deformierung innerer Organe und vor allem zur Schädigung der Gebärmutter, begünstige Verstopfung und könne zu einer Schnürleber führen. Tatsächlich nachweisbar waren Atemnot und eine Neigung zu Ohnmachten sowie eine stark eingeschränkte Beweglichkeit.[7]

In den USA forderte Amelia Bloomer als eine der ersten Frauen um 1850 ein Reformkleid und trug es auch einige Zeit. Die amerikanische Reformbewegung scheiterte jedoch. 1881 wurde in England die Rational Dress Society gegründet, 1896 folgte in Deutschland der Allgemeine Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung mit zunächst 180 Mitgliedern. Im Jahr 1900 entwarfen bekannte Künstler sogenannte Künstlerkleider ohne Korsett, unter anderem Henry van de Velde. Diese Modelle waren aber nicht für die Massenproduktion gedacht. 1903 entstand die Freie Vereinigung für Verbesserung der Frauenkleidung, die 1912 in Deutscher Verbund für Frauenkleidung und Frauenkultur umbenannt wurde. Nach 1910 verzichtete die Haute Couture auf das Korsett, ohne dass die Damenmode dadurch bequem wurde. Erst der Stoffmangel und ein verändertes Frauenbild zur Zeit des Ersten Weltkrieges sorgten für eine starke Veränderung der Frauenkleidung im Sinne der Reformer.[7]

Freikörperkultur

→Hauptartikel: Freikörperkultur

Auch die FKK-Bewegung entstand als Teil der Lebensreform-Bewegungen. Der Schweizer Arnold Rikli gründete bereits 1853 eine „Sonnenheilanstalt“ und verordnete seinen Patienten „Lichtbäder“ ohne jede Bekleidung. 1906 gab es in Deutschland 105 so genannte Luftbäder.

Als eigentlicher Pionier der Freikörperkultur, nämlich außerhalb hygienisch-medizinischer Kuren, gilt jedoch der Maler und Kulturreformer Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913), der sie mit seinen Schülern in der Einsiedelei Höllriegelskreuth bei München und später auf dem Himmelhof bei Wien praktizierte. Durch ihn und gegen ihn kam es im Jahre 1888 zum ersten Nudistenprozess der Geschichte. Diefenbach wirkte auf Nachfolger wie Heinrich Pudor, Guntram Erich Pohl, Richard Ungewitter und Hugo Höppener-Fidus.

1891 veröffentlichte Heinrich Pudor eine Schrift mit dem Titel Nackende Menschen. Jauchzen der Zukunft, in der er Nacktheit als Gegenmittel gegen die angebliche Degeneration der Menschen als Folge der Zivilisation preist. „Pudors Kombination aus Gesundheitsratschlägen, Kleiderreform, Vegetarismus, Antimodernismus und Antisemitismus fand in den folgenden Jahren zahlreiche Nachahmer.“[8] Auch der FKK-Aktivist Richard Ungewitter vertrat völkisch-antisemitisches Gedankengut. Er gründete 1910 die Loge für aufsteigendes Leben und warb für „strenge Leibeszucht“ und „nackte Gattenwahl“ mit dem Ziel, gesunde und „rassereine“ Nachkommen zu zeugen.[8] Zitat: „Würde jedes deutsche Weib öfter einen nackten germanischen Mann sehen, so würden nicht so viele exotischen fremden Rassen nachlaufen. Aus Gründen der gesunden Zuchtwahl fordere ich deshalb die Nacktkultur, damit Starke und Gesunde sich paaren, Schwächlinge aber nicht zur Vermehrung kommen.“[9]

Von Pornografie und freier Sexualität distanzierten sich die führenden Vertreter der Freikörperkultur entschieden. „Bis in die 20er Jahre hinein gab es eine breite Bewegung in der FKK-Kultur, die sehr viel stärker auf Disziplinierung, Körperkontrolle, Selbstkontrolle abzielte, (...) Werte, die durchaus kompatibel waren mit der NS-Ideologie", so der Historiker Hans Bergemann.[9] Die bürgerlichen FKK-Vertreter kritisierten zwar heftig die allgemeine Prüderie, vertraten jedoch selbst keine liberalen Ansichten, sondern definierten den Begriff der „Unmoral“ um. Für sie war der bekleidete Mensch unmoralisch. Hans Bergemann: „Sie haben einfach gesagt: es ist die Kleidung, die den Körper sexualisiert und erst das schwüle Begehren schafft, und dem gegenüber müsste man sich nackt ausziehen, das würde dann das sexuelle Begehren mindern bzw. man könnte es besser kontrollieren.“[9] So heißt es in einer FKK-Publikation: „Und endlich muss an dieser Stelle auch die moderne Badehose erwähnt werden, dieses unanständigste Kleidungsstück, das sich denken lässt, weil sie den Blick mit Gewalt auf diese gewisse Stelle lenkt und mit Fingern auf sie zeigt (...)“[9].

Die Anhänger der FKK-Bewegung gehörten jedoch verschiedenen ideologischen Richtungen an, auch wenn die bekanntesten Publizisten völkisch-national waren. Gefördert wurde die Nacktkultur durch die Wandervogel-Bewegung, die damit sportliche Aktivitäten verband.

Der Gymnastiklehrer Adolf Koch gehörte politisch dem Lager des Sozialismus an und verfolgte sozialreformerische Ziele innerhalb der Arbeiterschaft. Er bemühte sich auch um Sexualaufklärung, körperliche Kräftigung und medizinische Beratung. Koch gründete so genannte „Körperschulen“, die in den 1920er Jahren deutlich mehr Anhänger hatten als die bürgerlichen FKK-Gruppen.[10] 1932 gab es im Deutschen Reich rund 100.000 organisierte FKK-Anhänger, davon etwa 70.000 in den Körperschulen.

Die konservativen FKK-Gruppen gründeten 1923 die Arbeitsgemeinschaft der Bünde deutscher Lichtkämpfer, die sich ab 1926 Reichsverband für Freikörperkultur (RFH) nannte. Die sozialistischen Gruppen bildeten den Bund für sozialistische Lebensgestaltung und Freikörperkultur. Im März 1933 wurde ein Erlass zur Bekämpfung der „Nacktkulturbewegung“ herausgegeben. Nachdem sich der RFH zum NS-Staat bekannt hatte, folgte die Gleichschaltung und die Umbenennung in Kampfring für völkische Freikörperkultur.[10]

Ernährungsreform

Ein weiterer Teilbereich der Lebensreform war die Ernährungsreform, die in engem Zusammenhang mit Ideen der Naturheilkunde entstand. Der moderne Vegetarismus in Deutschland kann als spezielle Variante dieser Bewegung angesehen werden. Die Reformer lehnten die Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten im 19. Jahrhundert ab, die in Zusammenhang standen mit der Modernisierung der Lebensmittelindustrie, sinkenden Preise für einige Produkte wie Zucker und Weißmehl sowie der Einführung von Konserven und ersten Fertigprodukten wie Fleischextrakt und Brühwürfeln. Die führenden Vertreter von Ernährungsreformen waren Mediziner, die die moderne „Zivilisationskost“ als Hauptursache für viele Krankheiten ansahen. Nur möglichst naturbelassene Lebensmittel seien wirklich gesund, so ihre These. Es gab keine einheitliche Theorie zur Ernährung, gemeinsam war den Ernährungskonzepten der Reformer aber der weitgehende Verzicht auf Fleisch, die Bevorzugung von Rohkost und Vollkornprodukten und die Ablehnung von Genussmitteln wie Tabak, Kaffee, Alkohol, aber auch von Zucker und starken Gewürzen.[11]

Die Ansichten der Ernährungsreformer standen im Widerspruch zu den Theorien der Ernährungswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts, die tierisches Protein als wichtigsten Energielieferanten der menschlichen Ernährung ansahen. Die Bedeutung der Vitamine war noch unbekannt.

Theodor Hahn schrieb 1857/58 sein Buch Die naturgemäße Diät und etwas später das Praktische Handbuch der naturgemäßen Heilweise, in dem er Vollkornprodukte, Milch, rohes Gemüse und rohes Obst als optimale Lebensmittel bezeichnete. Gustav Schlickeysen bezeichnete den Menschen als Fruchtfresser und lehnte sowohl gekochte als auch tierische Kost völlig ab. Dieser Theorie folgen heute die Frutarier. Bekannter ist Maximilian Oskar Bircher-Benner, der nicht nur das Müsli erfand, sondern eine eigene Ernährungslehre entwickelte, die Sonnenlichtnahrung. Die Gedanken der Ernährungsreform wurden vor allem in Kurkliniken aufgegriffen und verbreitet.[11] Eine Reihe heute bekannter Ernährungslehren, die als „Alternative Ernährung“ bezeichnet werden, hat ihren Ursprung in dieser Bewegung.

Auf die Arbeiten der Ernährungsreformer griff auch Werner Kollath zurück, der 1942 sein Hauptwerk Die Ordnung unserer Nahrung veröffentlichte. Darin bezeichnete er die „Zivilisationskost“ als minderwertige „Halbnahrung“, während unverarbeitete Produkte „vollwertig“ seien. Sein Ernährungskonzept nannte er Vollwertkost.

Der Vegetarismus entwickelte sich zu einer eigenständigen Bewegung, die sich auch vereinsmäßig organisierte. Ein wichtiger Vertreter war Gustav Struve, dessen Buch Pflanzenkost. Die Grundlage einer neuen Weltanschauung 1869 erschien. Der Pfarrer Eduard Baltzer hatte 1867 in Nordhausen den ersten Verein für naturgemäße Lebensweise gegründet, der sich in der Folgezeit vor allem der Ernährung widmete. 1892 entstand der Deutscher Vegetarierbund mit Sitz in Leipzig. 1912 gab es 25 deutsche Vegetariervereine mit rund 5000 Mitgliedern.[12]

Die in Deutschland und Österreich heute noch im Lebensmittelhandel aktiven Reformhäuser gehen auf die Lebensreformbewegung zurück.

Landkommunen

Als Folge von Industrialisierung und Urbanisierung kam es vor allem innerhalb des Bildungsbürgertums zu einer „agrarromantischen Großstadtfeindlichkeit“[13] und zu einer regelrechten Flucht aufs Land unter dem Motto „Zurück zur Natur“. Einige begnügten sich mit der Anlage von Schrebergärten oder zogen in neu entstehende Gartenstädte, andere gründeten mit Gleichgesinnten Kommunen auf dem Land mit dem Anspruch, benötigte Lebensmittel weitgehend selbst zu erzeugen. Der marxistische Autor Ulrich Linse schreibt: „Es war eine anti-urbanistische Revolte der städtischen, progressiv ausgerichteten Intelligenz, es war Landkult und Agrarutopismus der Großstadtliteraten“[13]. Linse bezeichnet diese Strömung als Form des Eskapismus. Innerhalb der entstehenden Kommunen waren um 1900 die Ideen der Lebensreform zu gesunder Lebensweise und Ernährung dominierend, daneben spielten auch der Gedanke der Genossenschaften und Ideen zur Bodenreform eine Rolle.

Er unterteilt die Landkommunen nach der jeweils vorherrschenden Weltanschauung in sozialreformerische, völkische, anarcho-religiöse und evangelikale. Als völkisch ist z. B. die Siedlung Heimland in Nordbrandenburg anzusehen, die aber bald wieder einging. Als sozialreformerisch und anarcho-religiös die Siedlung Monte Verità bei Ascona. Ein Beispiel für eine reine Frauensiedlung war das Projekt Schwarzerden bei Darmstadt, das eher der Frauenbewegung zuzurechnen ist als der Lebensreform. Die zeitweilige Popularität der Siedlungsidee führt Linse vor allem auf politische und wirtschaftliche Krisen des Deutschen Reiches um 1900 und dann erneut nach dem Ersten Weltkrieg zurück.

Vorbild vieler Landkommunen wurde die Vegetarische Obstbausiedlung Eden, die 1893 von 18 Anhängern der Lebensreform in der Nähe von Oranienburg gegründet wurde. Das Siedlungsgelände wurde in so genannte Heimstätten aufgeteilt und in Erbpacht zunächst ausschließlich an Vegetarier vergeben. Aus finanziellen Gründen wurden ab 1901 jedoch auch Nicht-Vegetarier aufgenommen und der Name in Gemeinnützige Obstbausiedlung geändert. Die Tierschlachtung und der Verkauf von Fleisch blieb innerhalb von Eden jedoch verboten. Jede Heimstätte wirtschaftete für sich, darüber hinaus gab es den genossenschaftlichen Obstbau als Erwerbsquelle. 1894 hatte Eden 92 Mitglieder, 22 Heimstätten waren verpachtet, 1895 waren es 45. Nach einem starken Mitgliederschwund um 1900 stieg die Zahl wieder an. 1930 gab es 230 Siedlungshäuser und rund 850 Bewohner.[13] [14] Die Produkte wurden an Reformhäuser und Naturheilanstalten verkauft. 1933 wurde das schon länger völkisch orientierte [15] Eden von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet, bestand aber weiterhin. Auch in der DDR wurde unter der Marke Eden weiterhin produziert. Die Genossenschaft besteht auch heute noch und ist in verschiedenen Geschäftsbereichen aktiv.

Eine Sonderform der Landkommunen waren die Künstlerkolonien, zum Beispiel die Künstlerkolonie Worpswede um Paula Modersohn-Becker oder in Höllriegelskreuth und Wien um Karl Wilhelm Diefenbach. Besonders bekannt wurde der Monte Verità bei Ascona in der Schweiz, der im Jahr 1900 als lebensreformerisches Sanatorium gegründet wurde, weil sich hier zahlreiche Künstler für einige Zeit aufhielten.

Bekannte Lebensreformer

Literatur

  • Uwe Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland. Campus, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-593-37955-4.
  • Florentine Fritzen: „Gesünder Leben“. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 3-515-08790-7
  • Judith Baumgartner und Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbrüche, Seitenpfade, Abwege. Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Ulrich Linse. Königshausen und Neumann, Würzburg 2004, ISBN 3-8260-2883-X
  • Bernd Wedemeyer-Kolwe: „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Königshausen und Neumann, Würzburg 2004, ISBN 3-8260-2772-8
  • Renate Foitzik Kirchgraber: Lebensreform und Künstlergruppierungen um 1900. Dissertation Basel 2003. Online: Lebensreform und Künstlergruppierungen um 1900.
  • Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Herausgegeben von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann und Klaus Wolbert. Katalog zur Ausstellung im Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Darmstadt 2001, ISBN 3-89552-081-0.
  • Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Hammer, Wuppertal 1998, ISBN 3-87294-787-7.
  • Ulrich Linse: Das „natürliche“ Leben. Die Lebensreform. In: Richard van Dülmen (Hrsg.): Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Böhlau, Wien 1998, ISBN 3-205-98873-6, S. 435-456.
  • Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Campus, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-593-35759-3.
  • Cornelia Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914). Steiner, Stuttgart 1995, ISBN 3-515-06432-X.
  • Wolfgang R. Krabbe: „Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreformbewegung ist der Nationalsozialismus“. Zur Gleichschaltung einer Alternativströmung im Dritten Reich. In: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 431–461.
  • Claus Bernet: Lebensreform in Oberfranken. Hans Klassen und die Kommune Neu-Sonnefeld. In: Jahrbuch für fränkische Landeskunde 67 (2007), S. 241–354.
  • Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 1987, ISBN 3-423-04514-0.
  • Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974, ISBN 3-525-31813-8.
  • Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der Zwanziger Jahre. Siedler , Berlin 1983, ISBN 3-88680-088-1.
  • Ulrich Linse (Hrsg.): Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933. DTV, München 1983, ISBN 3-423-02934-X.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Henning Eichberg: Nacktkultur, Lebensreform, Körperkultur - Neue Forschungsliteratur und Methodenfragen (pdf)
  2. Wolfgang R. Krabbe: Lebensreform/Selbstreform. In: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, S. 74.
  3. Siehe dazu: Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung
  4. a b c Wolfgang R. Krabbe: Naturheilbewegung. In: Kerbs/Reulecke, S. 77 ff.
  5. Artikel Naturheilkunde. In: Meyers Konversationslexikon, ca. 1895
  6. Krabbe, Naturheilbewegung, S. 82
  7. a b c Karen Ellwanger, Elisabeth Meyer-Renschhausen: Kleidungsreform. In: Kerbs/Reulecke, S. 87 ff.
  8. a b Rolf Koerber: Freikörperkultur. In: Kerbs/Reulecke, S. 105.
  9. a b c d Arna Vogel: Wenn die Hüllen fallen – Geschichte der Freikörperkultur
  10. a b Koerber, Freikörperkultur, S. 103 ff.
  11. a b Judith Baumgartner: Ernährungsreform. In: Kerbs/Reulecke, S. 15 ff.
  12. Judith Baumgartner: Vegetarismus. In: Kerbs/Reulecke, S. 127 ff.
  13. a b c Ulrich Linse: Landkommunen in Deutschland 1890–1933 (Auszug)
  14. Werner Onken: Modellversuche mit sozialpflichtigem Boden und Geld (pdf)
  15. George L. Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Hain, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-445-04765-0, S. 123f.

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