- Erich Schwinge
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Erich Schwinge (* 15. Januar 1903 in Jena; † 30. April 1994 in Marburg) war ein deutscher Jurist. Er wurde 1931 Professor für Rechtswissenschaften und verfasste den in der Zeit des Nationalsozialismus maßgebenden Gesetzeskommentar zum NS-Militärrecht, nach dem zehntausende Todesurteile gefällt und vollstreckt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er bald erneut Rechtsprofessor und war einer der wichtigsten Gutachter der Verteidigung in Strafprozessen gegen NS-Täter. Er gab 1977 ein Standardwerk zur Wehrmachtsjustiz im NS-Staat heraus, das diese entgegen den heute bekannten Tatsachen als „antinationalsozialistische Enklave der Rechtsstaatlichkeit“ beschrieb. Damit beeinflusste er die bundesdeutsche Rechtsprechung etwa zu Entschädigungsansprüchen für Opfer der NS-Militärjustiz noch bis 1995. Der breiteren Öffentlichkeit wurde er durch die Reihe „Berühmte Strafprozesse“ bekannt, die er unter dem Pseudonym Maximillian Jacta von 1962 bis 1972 veröffentlichte.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Schwinge besuchte die Oberrealschule in Jena und studierte anschließend von 1921 bis 1924 Rechtswissenschaften an den Universitäten Jena, Berlin und München. Es folgte das Referendariat, das er in Jena, Weimar, Camburg, Berlin und Hamburg absolvierte. Er promovierte 1926 und habilitierte sich 1930 an der Universität in Bonn für Strafrecht, Strafprozessrecht, Zivilprozessrecht und Rechtsphilosophie. 1931 und 1932 war er dann zunächst Vertretungsprofessor an der Universität Kiel. Ab 1932 war er an der Universität Halle als Professor tätig.
Zeit des Nationalsozialismus
Bereits 1930 vertrat Schwinge Rechtsideen, die dem Nationalsozialismus entgegenkamen und die dieser später umsetzte: So trieb er die Methode der Auslegung von Rechtsnormen nach dem Sinn und Zweck der Vorschriften (teleologische Auslegung) im Strafrecht bis zum Äußersten voran.[1]
1933 trat er in den Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen ein. Bereits wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten forderte er eine Ablösung der seiner Meinung nach zu „milden“ und „nachsichtigen“ Strafjustiz der Weimarer Republik durch eine möglichst „autoritäre“ Strafrechtspflege.[2] Schließlich stellte er das Analogieverbot in Frage, noch bevor der Gesetzgeber dieses mit der Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935 abschaffte.
1936 wurde er auf einen Lehrstuhl an der Universität Marburg berufen. Hier verfasste er einen Gesetzeskommentar zum Militärstrafgesetzbuch, dessen sechste und letzte Auflage 1944 erschien. Sein Kommentar war die damals maßgebende, in der Praxis viel verwendete Auslegungshilfe für etwa 3000 Wehrmachtsrichter. Er propagierte darin unter anderem die „Manneszucht“ - das hieß die bedingungslose Anerkennung des soldatischen Gehorsams und soldatischer Pflichterfüllung im Sinne des Nationalsozialismus - als oberste Leitlinie. Diese müsse die Rechtsprechung unbedingt aufrechterhalten, um den inneren Zusammenhalt der Truppe und somit die Schlagkraft der Wehrmacht zu gewährleisten. Demgemäß forderte er die Todesstrafe für die „Zerstörung der Wehrkraft“, etwa durch Fahnenflucht, zur Generalprävention unabhängig von der Prüfung der Einzelmotive, also auch dann, wenn mildernde Umstände vorliegen konnten.
Diese Forderungen erfüllte die Ende August 1939 - kurz vor Beginn des Angriffs auf Polen - erlassene „Kriegssonderstrafrechtsverordnung“ (KSSVO). Im November 1939 wurde der Strafrahmen für Verstöße gegen „Manneszucht“ nochmals dahingehend verschärft, dass jedes so gewertete Vergehen nach dem Ermessen der Gerichte mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Diese Verschärfung begrüßte Schwinge in der folgenden Neuauflage seines Gesetzeskommentars, weil sie es ermöglicht habe, „in jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe zu gehen“.[3]
Von 1937 bis 1939 war Schwinge Dekan an der Marburger Universität, wechselte aber 1940 an die Universität Wien. Gemeinsam mit seinem Marburger Kollegen Leopold Zimmerl kritisierte er die Strafrechtslehre der beiden Kieler Professoren Georg Dahm und Friedrich Schaffstein. Er warf ihnen vor, einen strafrechtlichen Irrationalismus zu vertreten.[4] Dieser Streit entzündete sich vor allem am Begriff des Rechtsguts, der von den Mitgliedern der Kieler Schule als mit dem Nationalsozialismus unvereinbar abgelehnt wurde. Schwinge selbst hielt am Begriff des Rechtsguts fest und hatte bereits 1933 eine nationalsozialistische Rechtsgutlehre entwickelt: Die Rechtsgüter seien im Sinne der herrschenden Doktrin des Nationalsozialismus auszulegen.[5] Auf diese Weise glaubte er, der Doktrin der Kieler Schule eine wissenschaftlichere Methode entgegenzusetzen. 1941 wurde Erich Schwinge zunächst Staatsanwalt, dann Militärrichter bei der Division 117 in Wien. Er beantragte gegen mindestens zehn zwangsrekrutierte Deutsche, die aus verschiedenen Gründen Kriegsdienste vermeiden wollten, die Todesstrafe. In mindestens acht Fällen fällte er selbst Todesurteile, auch dann, wenn eine mildere Strafe möglich gewesen wäre.[6] Kritiker[7] werfen ihm besonders den Fall des damals siebzehnjährigen Anton Reschny vor. Dieser hatte als Wehrmachtsangehöriger, der allerdings noch nicht über seine Pflichten belehrt worden war, bei Aufräumarbeiten eine Geldbörse und zwei Armbanduhren an sich genommen und war wegen Diebstahls unter Ausnutzung der Kriegsverhältnisse (§ 242 Reichsstrafgesetzbuch, § 4 Verordnung gegen Volksschädlinge) angeklagt worden, wofür eine Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren vorgesehen war. Schwinge wandte allerdings die Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches über die Plünderung an. Das Gericht verurteilte Reschny auf dieser Basis wegen eines besonders schweren Falls zum Tode. Die Todesstrafe wurde allerdings nicht vollstreckt. [8]
Nach 1945
1945 geriet Schwinge in Kriegsgefangenschaft. Seine Schriften Soldatischer Gehorsam und Verantwortung (Elwert, Marburg 1939), Die Entwicklung der Manneszucht in der deutschen, britischen und französischen Wehrmacht seit 1914 (Schweitzer, Berlin 1941) und Militärstrafgesetzbuch (Junker u. Dünnhaupt, Berlin 1943) wurden in der Sowjetischen Besatzungszone auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.[9][10][11]
Schwinge wurde nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft aus Österreich ausgewiesen, seine Professur an der Universität Wien wurde beendet. Er wurde jedoch 1948 an die Universität Marburg als Professor berufen und amtierte dort zwanzig Jahre lang als Dekan der juristischen Fakultät, 1954/1955 auch als Rektor der Universität. Neben seiner Tätigkeit vertrat Schwinge in etwa 150 Strafprozessen ehemalige Angehörige der Wehrmacht und der Waffen-SS.
Politisch engagierte er sich in der FDP und war zeitweise Mitglied des Landesvorstandes seiner Partei in Hessen und Bundestagskandidat.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde seine unter dem Pseudonym Maximillian Jacta zwischen 1962 und 1972 veröffentlichte Sammlung „Berühmte Strafprozesse“ bekannt, die mehrfach übersetzt wurde. Dieses mehrbändige Werk ist der Literaturgattung der Pitavale zuzurechnen. Das Pseudonym wurde seinerzeit gewählt, um das Werk auch international vermarkten zu können, da der Verlag den Namen Erich Schwinge in anderen Sprachräumen als zu fremdartig ansah.[12]
Schwinge hatte mit seinem Werk Praxis des Revisionsrechts (1960) Einfluss auf die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland.[13]
In der Nachkriegszeit widmete er sich der Geschichte der Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, zu deren Richtern er ja selbst gehört hatte. So verfasste er mit Otto Schweling das erste umfassende und lange als Standardwerk betrachtete Buch zu dem Thema.[14] Er vertrat die Ansicht, dass die Härte der deutschen Militärstrafgerichtsbarkeit gerechtfertigt gewesen sei, um die Moral in der Truppe aufrechtzuerhalten. Die Militärgerichtsbarkeit sei aber weitgehend unabhängig gewesen und habe sich im Rahmen des Rechtes bewegt. Auch auf Seiten der Alliierten habe eine vergleichbare Gerichtsbarkeit mit ähnlicher Härte bestanden. Die Urteile der Militärgerichte seien daher als rechtmäßig anzuerkennen. Diese Thesen wurde zwar bereits in den 1950er Jahren kritisiert, waren aber lange herrschende Ansicht und wurden erst in den 1980er Jahren widerlegt.[15] Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes folgte dieser These lange[16], gab diese Rechtsprechung mit einem Urteil vom 11. September 1991 ausdrücklich auf und ging nunmehr vom zu vermutenden Unrechtscharakter der Urteile der Militärgerichtsbarkeit aus.[17] Aus heutiger Sicht wird die Arbeit Schwinges als Versuch gewertet die deutschen Juristen in einem besseren Licht darzustellen, der wissenschaftlich aber kaum haltbar sei.[18]
Aufsehen erregte Erich Schwinge auch durch den Umgang mit Kritikern. Nachdem etwa 1964 eine Studentenzeitung einen kritischen Beitrag zur Rolle Schwinges veröffentlicht hatte, untersagte er dessen Verbreitung und strengte erfolglos ein Disziplinarverfahren gegen die Verantwortlichen an. Gegen einen in der Folge vom ASTA herausgegebenen Reader mit unkommentierten Zitaten Schwinges ging er mit dem Mittel der Einstweiligen Verfügung gerichtlich vor. Das Vorgehen Schwinges erregte ein erhebliches Presseecho.[19]
Im Prozess Hans Filbingers gegen Rolf Hochhuth (Februar-Juli 1978) schrieb Schwinge in einem Rechtsgutachten, der Fall des Matrosen Walter Gröger, für den Filbinger wegen Fahnenflucht ins Ausland die Todesstrafe beantragt hatte und später vollstrecken ließ[20], könne Filbinger weder rechtlich noch moralisch angelastet werden[21] (siehe dazu Filbinger-Affäre).
Literatur
- Detlef Garbe: „In jedem Einzelfall … bis zur Todesstrafe“. Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge: Ein deutsches Juristenleben. Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte, Hamburg 1989, ISBN 3-927106-00-3.
- Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? 2. Auflage. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-596-16048-0.
- Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. Kindler, München 1989, ISBN 3-463-40038-3.
- Stefan Chr. Saar: Erich Schwinge (1903–1994). In: Eckart Klein u. a. (Hrsg.): Zwischen Rechtsstaat und Diktatur. Deutsche Juristen im 20. Jahrhundert (= Rechtshistorische Reihe. Bd. 326). Lang, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-631-54716-1, S. 105–129.
- Ursula Schwinge-Stumpf (Hrsg.): Erich Schwinge. Ein Juristenleben im Zwanzigsten Jahrhundert. Autobiographie. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-7973-0654-7.
- Fritz Wüllner: Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht. Nomos, Baden-Baden 1991, ISBN 3-7890-1833-3.
- Fritz Wüllner, Manfred Messerschmidt: Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende. Nomos, Baden-Baden 1987, ISBN 3-7890-1466-4.
Weblinks
- Literatur von und über Erich Schwinge im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Erich Schwinge im Katalog der Hallenser Professoren
- Bayerischer Rundfunk, 29. November 2000: Jürgen Martin Möller im Gespräch mit Militärhistoriker Prof. Dr. Manfred Messerschmidt
Einzelnachweise
- ↑ Erich Schwinge: Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, Bonn 1930
- ↑ Kurt Fricke, Die Strafanstalt Roter Ochse in Halle 1933 bis 1989, in: Werner Freitag/ Katrin Minner (Hrsg.): Geschichte der Stadt Halle. Bd. 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Mitteldeutscher Verlag, Halle a.d. Saale 2006, ISBN 3-89812-383-9, S. 127
- ↑ Volker Ullrich: „Ich habe mich ausgestoßen...“ Das Los von Zehntausenden deutschen Deserteuren im Zweiten Weltkrieg, in: Wolfram Wette (Hrsg.): Deserteure der Wehrmacht, Klartext, 1. Auflage 1995, S. 110
- ↑ Erich Schwinge: Irrationalismus und Ganzheitsbetrachtung in der deutschen Rechtswissenschaft. Bonn 1938.
- ↑ Erich Schwinge: Die gegenwärtige Lage der Strafrechtspflege, Halle 1933, S. 22
- ↑ Otto Gritschneder: Entschädigung für die Witwen hingerichteter Wehrpflichtiger, in: Wolfram Wette (Hrsg.): Deserteure der Wehrmacht, Klartext, 1. Auflage 1995, S. 255
- ↑ Etwa Tobias Walkling, Abschreckung tut not in: Ohne Uns - Zeitschrift zur Totalen Kriegsdienstverweigerung, Heft 5/93
- ↑ Ingo Müller, Furchtbare Juristen, Knaur 1989, ISBN 3-426-03960-5, S. 192
- ↑ http://www.polunbi.de/bibliothek/1946-nslit-s.html
- ↑ http://www.polunbi.de/bibliothek/1947-nslit-s.html
- ↑ http://www.polunbi.de/bibliothek/1948-nslit-s.html
- ↑ Günter Spendel, Vorwort zu Maximilian Jacta, Berühmte Strafprozesse, Genehmigte Sonderausgabe. Orbis Verlag, München 2001, ISBN 3-572-01242-2; Ernst J. Cohen, Gelehrter in Zeiten der Wirrnis in: Hans Ulrich Evers/Karl Heinrich Friauf/ Ernst Walter Hanack/Rudolf Reinhardt (Hrsg.), Persönlichkeit in der Demokratie - Festschrift für Erich Schwinge zum 70. Geburtstag. Köln-Bonn 1973, ISBN 3-7756-7700-3, S. 5
- ↑ Ernst J. Cohen, Gelehrter in Zeiten der Wirrnis in: Hans Ulrich Evers/Karl Heinrich Friauf/ Ernst Walter Hanack/Rudolf Reinhardt (Hrsg.), Persönlichkeit in der Demokratie - Festschrift für Erich Schwinge zum 70. Geburtstag. Köln-Bonn 1973, ISBN 3-7756-7700-3, S. 5.
- ↑ Schwinge/Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, Elwert-Verlag, 2. Auflage, Marburg 1978, ISBN 3-7708-0619-0; 1. Aufl. Marburg 1977, ISBN 3-7708-0590-9
- ↑ Vor allem durch Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner: Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, 1987. Zur Entwicklung: Frithjof Harms Päuser: Die Rehabilitierung von Deserteuren der Deutschen Wehrmacht unter historischen, juristischen und politischen Gesichtspunkten mit Kommentierung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile (NS-AufhG vom 28.05.1998) (Diss. München 2000); Marcus Stortz, 'Während Jünglinge und Greise zu den Fahnen eilen, wird er fahnenflüchtig'. Deserteure, deutsche Wehrmachtjustiz und die unendliche Geschichte der Rehabilitation. in: forum historiae 2002
- ↑ Vgl. zuletzt BSozG NJW 1985, 1109
- ↑ BSozG NJW 1992, 934 ff.; kritisch zum Urteil Schwinge, NJW 1993, 368; ders., Wehrmachtsgerichtsbarkeit eine Terrorjustiz? Gedanken zu einem Urteil des Bundessozialgerichts, Schriftenreihe des Ringes Deutscher Soldatenverbände, Band 3; positiv zu dem Urteil: Gritschneder, NJW 1993, 369.
- ↑ Klaus-Dieter Godau-Schüttke, Von der Entnazifizierung zur Renazifizierung der Justiz in Westdeutschland, forum historiae iuris, 2001, Randnummer 50
- ↑ FSI Jura Erlangen, Hitlers willfährige Helfer - Furchtbare Juristen vor und nach 1945
- ↑ Horst Bieber, Joachim Holtz, Joachim Schilde, Hans Schueler, Theo Sommer (Die Zeit, 12. Mai 1978): Erschießen, Sargen, Abtransportieren
- ↑ Heinrich Senfft: Richter und andere Bürger. 150 Jahre politische Justiz und neudeutsche Herrschaftspolitik, Nördlingen 1988, S. 37
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