NS-Prozesse

NS-Prozesse

Als NS-Prozesse bezeichnet man in einer verbreiteten Kurzform die Strafprozesse zu Verbrechen des Nationalsozialismus. Einen Teil davon bezeichnet man oft auch als Kriegsverbrecherprozesse.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Die juristische Verfolgung von in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen war von den Alliierten im Kriegsverlauf beschlossen worden und begann sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Dachauer Prozesse vor amerikanischen Militärgerichten begannen bereits am 15. August 1945 im Internierungslager Dachau, auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau. Dabei kam zur Sprache, dass in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern Kriegsgefangene misshandelt und getötet worden waren, auch durch Menschenversuche. Die Nürnberger Prozesse fanden zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 im Justizpalast Nürnberg statt. Der einleitende Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher fand vor einem eigens eingerichteten Internationalen Militärtribunal (IMT) statt; die zwölf Folgeprozesse wurden hingegen von US-Militärgerichten durchgeführt. Bis dahin hochrangige Militär- und Regierungsangehörige Deutschlands und Österreichs, ähnlich auch Japans, wurden wegen Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt und meist verurteilt. Dabei wurden die Rechtsgrundlagen geschaffen, nach denen zehntausende Folgeverfahren gegen untergeordnete Einzeltäter durchgeführt wurden, die unter deutscher Besatzung an Verbrechen verschiedener Art beteiligt waren.

Diese Folgeprozesse wurden schon nach wenigen Jahren in vielen Bereichen der nationalstaatlichen Justiz jener Staaten überlassen, auf deren Gebieten die jeweiligen Verbrechen stattgefunden hatten, da sie zwischen 1939 und 1945 vom Deutschen Reich und Kaiserreich Japan besetzt oder angegriffen worden waren: Darunter waren Bulgarien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Jugoslawien, die Niederlande, Norwegen, Polen, Rumänien, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Ungarn.[1] Zwei Einzelverfahren, nämlich der Eichmann-Prozess und der Prozess gegen John Demjanjuk, wurden in Israel durchgeführt.

Für Deutschland, dem die meisten NS-Täter angehörten, hatten die Alliierten die Entnazifizierung beschlossen. Diese sollte ein erster Schritt zur strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Zeit sein. Dazu wurden die Angeklagten in „Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Nichtbelastete“ eingeteilt. Dies führte besonders in der amerikanischen Besatzungszone dazu, dass sich zuerst die Masse der Minderbelasteten und Mitläufer vor den Spruchkammern verantworten musste. Die für später geplanten Verfahren gegen stärker Belastete wurden dann kaum noch durchgeführt. Dieses Vorgehen stieß in der deutschen Bevölkerung auf zunehmend starke Ablehnung (bis zu 70 Prozent laut einer Umfrage im Jahre 1949). Die Verfahren vor den Spruchkammern wurden 1951/1952 in den einzelnen Bundesländern beendet.

Weitere NS-Prozesse wurden seit den 1950er Jahren von der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreich durchgeführt: Dort waren sie wesentlicher Teil der juristischen und moralischen Vergangenheitsbewältigung. Die politischen Umstände, vor allem der Kalte Krieg, hatten bei den weiteren NS-Prozessen in den beteiligten Staaten bedeutende Unterschiede im Umfang, in der Intensität, den Rechtsgrundlagen, Verfahrensweisen und Zielsetzungen zur Folge. Manche NS-Verbrechen wurden gar nicht strafverfolgt oder führten zu keiner angemessenen Bestrafung der Täter.

Beschlüsse zur Strafverfolgung von NS-Verbrechern

Seit 1942 erklärten die Alliierten öffentlich wiederholt ihre Entschlossenheit zur Bestrafung der NS-Verbrecher, besonders der für den Krieg und die Judenvernichtung Verantwortlichen.

Am 13. Januar 1942 versammelten sich im Londoner St.-James-Palast Vertreter der besetzten Staaten Belgien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Polen und Tschechoslowakei. China, Großbritannien, UdSSR und USA schickten Beobachter. Die besetzten Staaten forderten, die Bestrafung der an ihren Staatsbürgern verübten Besatzungsverbrechen zu einem alliierten Hauptkriegsziel zu erklären und gelobten in der St. James Palace Declaration, „im Geiste internationaler Solidarität darauf zu achten, dass

  • jene Schuldigen oder Verantwortlichen, unabhängig von ihrer Nationalität, aufgespürt, der Rechtsprechung übergeben und abgeurteilt werden
  • die verkündeten Urteile vollstreckt werden“

Dieser Deklaration traten später auch China und die UdSSR bei.[2] Der beständige Druck der Exilregierungen der besetzten Staaten führte dazu, dass das britische Außenministerium zusammen mit Vertretern der USA im Oktober 1942 die Gründung der United Nations Commission for the Investigation of War Crimes (UNWCC) beschlossen, die Beweismaterialien für Kriegsverbrechen der Achsenmächte zusammentragen sollte. Diese Institution, die im Oktober 1943 als die United Nations War Crimes Commission ihre Tätigkeit aufnahm, wurde noch vor der UNO gegründet. Sie hatte keine exekutiven Befugnisse, sondern berichtete den später der UNO angehörenden Nationen bis 1949 über Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs, die deren Regierungen dann nach eigenem Ermessen verfolgten.[3]

In der Moskauer Deklaration der Drei Mächte vereinbarten Großbritannien, die USA und die Sowjetunion am 1. November 1943, die Hauptkriegsverbrecher, deren Verantwortung nicht geographisch auf ein Land begrenzt sei, vor zentrale internationale Strafgerichte zu bringen. Sonst aber sollten Kriegsverbrecher in den Ländern vor Gericht gestellt werden, in denen sie ihre Verbrechen begangen hatten. Ferner wurde die globale Aufspürung, Festsetzung und Auslieferung von mutmaßlichen NS-Straftätern vereinbart.

Das Potsdamer Abkommen sah vor, NS-Kriegsverbrechern auch vor Gerichten der Alliierten in ihren jeweiligen Besatzungszonen den Prozess zu machen. Das Abkommen, das die Alliierten am 8. August 1945 im Potsdamer Schloss Cecilienhof unterzeichneten, formulierte die Charta des Internationalen Militärgerichtribunals (IMT), das Londoner Statut. Diese IMT-Charta bildete das Fundament dieses Gerichtshofes. Es erläuterte den Zweck, legte das Procedere des Strafverfahrens fest und bestimmte die einzelnen Anklagepunkte.

Am 20. Dezember 1945 erließ der Alliierte Kontrollrat der vier Siegermächte das Kontrollratsgesetz Nr. 10, das ein einheitliches Verfahren für die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen festlegte. Danach durften die Befehlshaber der vier deutschen Besatzungszonen Strafprozesse wegen kriegerischer Aggression, Verletzung des Kriegsrechtes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mitgliedschaft in entsprechenden Organisationen in eigener Regie durchführen. Die Militärgerichte der Alliierten beschränkten sich jedoch meist auf die Verfolgung von Taten, bei denen ihre eigenen Staatsangehörigen und die ihrer Verbündeten als Opfer betroffen waren.

Prozesse der Alliierten in Deutschland

Erster Nürnberger Prozess

Das IMT führte unter dem Vorsitz von Richtern aller vier Siegermächte vom 1. Oktober 1945 bis zum 18. Oktober 1946 den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher durch, in dem zunächst 24 deutsche und österreichische Hauptkriegsverbrecher angeklagt, 22 davon verurteilt wurden.

Die Anklage umfasste ursprünglich vier Punkte: Gemeinsamer Plan zur Verübung von Kriegsverbrechen (Verschwörung), Verbrechen gegen den Frieden (vor allem Vorbereitung eines Angriffskrieges), Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit wurde erstmals in der Geschichte versucht, Führer eines einen Krieg auslösenden Regimes und seiner Armee für im Rahmen ihrer Politik, ihrer Kriegsplanung und Kriegführung begangene Verbrechen haftbar zu machen. Diese Anklagen richteten sich nach dem Statut des IMT prinzipiell gegen alle Führer, Organisationen, Anstifter und Gehilfen solcher Verbrechen, auch die, die diese nicht persönlich begangen hatten, aber an der Entscheidung dazu, an ihrer Planung, Verabredung und Organisation beteiligt waren.

Der Anklagepunkt Verabredung zur Verübung von Kriegsverbrechen wurde jedoch im Verlauf des Verfahrens nicht eigens verfolgt; er wurde dem Anklagepunkt Verbrechen gegen den Frieden subsumiert. Damit auch alle an solchen Verbrechen mittelbar Beteiligten verfolgt werden konnten, ohne ihnen im gesonderten Verfahren eigene Straftaten nachzuweisen zu müssen, erklärte das IMT die Organisationen der NSDAP, SS, Gestapo zu kriminellen Vereinigungen. Von einem pauschalen Strafvorwurf ausgenommen wurden die mit rein administrativen Aufgaben befassten Mitglieder von SD und Gestapo sowie niederrangige Funktionäre der NSDAP und der Waffen-SS.

Der erste Nürnberger Prozess wurde in großen Teilen der deutschen Bevölkerung gutgeheißen und als Entlastung von eigenem Verschulden empfunden.

In Japan kam es nach dem Vorbild des Nürnberger Hauptprozesses zu den Tokioter Prozessen gegen militärische und politische Führer Japans vor einem multinational besetzten IMT von elf Richtern.

Zwölf Nürnberger Folgeprozesse

Hauptartikel: Nürnberger Prozesse

Auf dieser Basis fanden vom Dezember 1946 bis April 1949 ebenfalls im Justizpalast Nürnberg zwölf Folgeprozesse vor US-Militärgerichten gegen 177 weitere hochrangige Vertreter des Deutschen Reiches statt: darunter führende Angehörige der Reichsministerien, Gestapo, SS, Wehrmacht, Staatsbeamte der Justiz- und Medizinalverwaltung und Industrielle. Die Richter waren diesmal 30 zivile US-Juristen, ebenso die etwa 100 Ankläger, beide meist von Obersten Gerichtshöfen von US-Bundesstaaten. Die Verteidiger waren 200 meist deutsche Rechtsanwälte.

Prozesse in der Sowjetischen Besatzungszone

In der Sowjetischen Besatzungszone unterstanden die Verfahren direkt dem sowjetischen Geheimdienst NKWD. Nach offiziellen sowjetischen Angaben wurden rund 122.600 Personen inhaftiert, wozu noch weitere 34.700 mit ausländischer, vorwiegend sowjetischer Nationalität kamen, die als Fremd- oder Zwangsarbeiter in Deutschland waren. Die Gesamtzahl der dort Verurteilten wird auf 45.000 geschätzt, wovon etwa ein Drittel zur Zwangsarbeit deportiert wurde, die meisten der übrigen in Speziallagern festgehalten wurde. Die Zahl der Todesurteile ist unbekannt.

Gesamtzahlen

Insgesamt wurden von Gerichten der Siegermächte in Deutschland und anderen Ländern wegen NS-Verbrechen etwa 50.000 bis 60.000 Personen verurteilt.[4]

In den drei Westzonen verurteilten alliierte Militärgerichte insgesamt 5025 deutsche Angeklagte. In 806 Fällen wurden Todesurteile ausgesprochen, von denen 486 vollstreckt wurden.

Freilassungen

Die Folgeprozesse der Siegermächte wurden in Deutschland zunehmend als Siegerjustiz interpretiert. Hochrangige Kirchenvertreter, einflussreiche Parteipolitiker und andere exponierte Persönlichkeiten forderten vehement eine Amnestie für die in den alliierten Gefängnissen von Landsberg (USA), Werl (UK) und Wittlich (Frankreich) einsitzenden Kriegsverbrecher und NS-Täter. Wortführer unter den Parlamentariern Westdeutschlands waren die Fraktionen der FDP und der Deutschen Partei. Während sie eine sofortige Revision der Urteile und die unterschiedslose Freilassung forderten, setzte sich der erste Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) für eine schrittweise Amnestierung ein.

Ende der 1940er Jahre änderten die westlichen Alliierten wegen des Kalten Krieges ihre Politik gegenüber Deutschland. Die noch in Landsberg einsitzenden verurteilten Täter wurden hingerichtet oder, in der Mehrzahl der Fälle, freigelassen. Im Zusammenhang mit Wiederbewaffnung und Koreakrieg gab der amerikanische Hochkommissar John J. McCloy schrittweise der Forderung nach Freilassung der Verurteilten nach, begnadigte fast alle der zum Tode Verurteilten, reduzierte die Strafhaft um ein Drittel und entließ 1950/51 Prominente wie Friedrich Flick, Ernst von Weizsäcker und Alfried Krupp aus der Haft. Das hatte in Westdeutschland eine gesellschaftliche Signalwirkung. Man hielt die eigentlichen Verbrecher nun für abgeurteilt und weitere Strafverfahren für unangemessen.

Von den in Landsberg zusammengeführten Häftlingen wurden 1958 die letzten vier entlassen, darunter drei ursprünglich zum Tode verurteilte Einsatzgruppenführer. Danach waren nur noch Verurteilte aus dem ersten Nürnberger Prozess in Haft, für die es aufgrund des sowjetischen Vetos keine Begnadigung gab – als letzter Rudolf Heß bis zu seinem Tode im Jahre 1987.

Folgen

Die Nürnberger Prozesse haben eine Anzahl von Anwälten hervorgebracht, deren revisionistische Verteidigungsstrategien die Einstellung von Teilen der Bevölkerung stark beeinflusst hat, und das nicht nur in Deutschland. So erließ der Oberste Gerichtshof Kanadas 1994 in einem Revisionsprozess ein Urteil, in dem der Holocaust als organisierte rassisch begründete Massenvernichtung geleugnet und die Judenverfolgung in den Zusammenhang des Kriegsgeschehens gerückt wurde. Antisemitische Propaganda wurde als Begründung dafür akzeptiert, dass Vertreter staatlicher Autorität wie die Polizei sich am Massenmord beteiligten.[5]

Bundesrepublik Deutschland

Während die Nürnberger Prozesse der Alliierten vor allem Hauptverantwortliche und Schreibtischtäter in Ministerien und Verwaltungen vor Gericht gestellt hatten, richtete sich die westdeutsche Strafverfolgung zunächst vor allem gegen diejenigen, die den nationalsozialistischen Terror eigenhändig ausgeübt hatten. Gewaltverbrechen bildeten nun den Schwerpunkt.

Prozesse nach dem Kontrollratsgesetz

Artikel III des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 bestimmte unter anderem:

Für die Aburteilung von Verbrechen, die deutsche Staatsbürger oder Staatsangehörige begangen haben, können die Besatzungsbehörden deutsche Gerichte für zuständig erklären.

Deutsche Gerichte konnten demnach anfangs nur mit Zustimmung der Besatzungsbehörden der jeweiligen Zone Strafverfahren einleiten, und zwar nur gegen Deutsche, die Verbrechen gegen andere Deutsche oder Staatenlose begangen hatten. Diese Ermächtigung wurde in der britischen und der französischen Besatzungszone allgemein, in der sowjetischen im Einzelfall erteilt. In der amerikanischen Zone erfolgte keine derartige Ermächtigung. Dort kam bei der Verfolgung von NS-Verbrechen durch deutsche Gerichte allein das deutsche Strafgesetzbuch zur Anwendung.

Bis zur Zurücknahme der alliierten Ermächtigung 1951 wurden auf der Basis des Kontrollratsgesetzes und des deutschen Strafrechts von deutschen Gerichten 1.865 Personen angeklagt und 620 Personen verurteilt. Diese Urteile betrafen überwiegend weniger schwerwiegende Delikte wie Denunziationen, Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen, Nötigungen. Tötungsdelikte wurden im Rahmen von Strafverfahren gegen KZ-Personal, Euthanasie-Beteiligte und Hinrichtungen oder Morden an Soldaten und Zivilisten, die sich in der „Endphase“ der letzten Kriegswochen weiteren militärisch sinnlosen Kriegsdiensten verweigert hatten, verfolgt. Fast alle dieser Verfahren kamen durch Anzeigen von Geschädigten oder deren Angehörigen gegen bekannte oder zufällig entdeckte Täter zustande.

Die deutschen Strafjuristen zogen meist die eigene Justiztradition vor und nutzten die Tatbestände der Gewaltverbrechen nach dem Deutschen Strafgesetzbuch. Zusätzlich veranlasste die US-Militärregierung im Mai 1946 die Länder ihrer Besatzungszone (Bayern, Württemberg-Baden, Groß-Hessen), Gesetze zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten zu verabschieden. Diese sahen ausdrücklich vor, dass die Strafverfolgung nicht dadurch gehindert werde, dass die Tat zu irgendeiner Zeit durch ein Gesetz, eine Verordnung, einen Erlass oder [..] für rechtens erklärt worden ist.

Die Bundesamnestie von 1949 und das Zweite Straffreiheitsgesetz vom Juli 1954 amnestierten jedoch nicht nur Vergehen wie Schwarzmarkt-Delikte, sondern – gewollt oder ungewollt – zugleich auch viele Täter der Novemberpogrome 1938 und die meisten Endphaseverbrechen des Krieges. Die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen NS-Straftaten sank von rund 1.950 im Jahre 1950 auf 162 im Jahre 1954. In den folgenden fünf Jahren wurden insgesamt nur 101 Personen rechtskräftig verurteilt.

Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde im Jahre 1956 förmlich aufgehoben, jedoch nach einer vom Bundesjustizministerium aufgrund rechtlicher Bedenken veranlassten Rücknahme der alliierten Ermächtigungen schon am 31. August 1951 faktisch nicht mehr angewendet. Seitdem konnten auf dieser Basis keine Verfahren mehr eröffnet oder Urteile gefällt werden. Nunmehr war allein das bundesdeutsche Strafgesetzbuch maßgebend, das jedoch nach herrschender Rechtsauffassung nicht rückwirkend angewandt werden durfte und daher für die Strafverfolgung von NS-Verbrechen nur begrenzt geeignet war.

Prozesse nach 1957

Neue Impulse erhielt die Strafverfolgung, als die DDR ab dem Jahre 1957 in Propagandakampagnen belastendes Material gegen westdeutsche Richter und Beamte verbreitete. Dadurch rückte die hohe personelle Kontinuität im westdeutschen Justizdienst in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Allerdings konnte kein einziger Richter wegen Rechtsbeugung rechtskräftig verurteilt werden, weil der Bundesgerichtshof an den hierfür nötigen Nachweis des Vorsatzes außerordentlich hohe Anforderungen stellte. Als exemplarisch für das Scheitern dieser Prozesse kann das Verfahren gegen den Kammergerichtsrat Hans-Joachim Rehse betrachtet werden, der an zahlreichen Todesurteilen des Volksgerichtshofs mitgewirkt hatte.

1957/58 wurde im Ulmer Einsatzgruppen-Prozess der Massenmord an den Juden im Baltikum erstmals genau untersucht. Der erste große Prozess gegen nationalsozialistische Täter vor einem deutschen Strafgericht weckte ein außerordentliches Interesse der Öffentlichkeit, denn es wurde deutlich, dass es sich hier nur um ein Beispiel für eine Vielzahl noch nicht ermittelter NS-Verbrechen handelte. Ende 1958 gründeten die Landesjustizminister die Ludwigsburger Zentrale Stelle, die sich um die Aufklärung von NS-Verbrechen, nicht aber um die von Kriegsverbrechen kümmern sollte. Durch ihre Vorermittlungen wurden zahlreiche Prozesse ausgelöst.

Weil in Westdeutschland ab 1958 Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs von der juristischen Aufklärung faktisch ausgeschlossen wurden, wurden in den deutschen NS-Prozessen vorwiegend Tötungsverbrechen an Zivilpersonen verhandelt, die abseits von Kampfhandlungen und Kampfgebieten begangen wurden. Schwerpunkte waren die Straftaten in Konzentrationslagern, Zwangsarbeitslagern, Ghettos sowie die Morde, die von den Einsatzkommandos und Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD begangen worden waren. Die Unterscheidung der beiden Verbrechenstatbestände „NS-Verbrechen“ und „Kriegsverbrechen“, die von den Landesjustizministern 1958 bei der Gründung der Ludwigsburger Zentralen Stelle beschlossen wurde, zielte darauf ab, die ideologisch begründeten Vernichtungsaktionen, also die Ermordung der europäischen Juden sowie der Sinti und Roma, aufzuklären, nicht aber die Verbrechen der Wehrmacht, beispielsweise das geplante Verhungernlassen von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener.[6]

Noch 1960 ließ der Gesetzgeber die Verjährungsfrist für Delikte wie Körperverletzung mit Todesfolge ungehindert verstreichen. Die Verjährungsfrist für Mord wurde vom Bundestag später mehrfach verlängert und 1979 schließlich ganz aufgehoben.

Ab 1963 wurde in den Auschwitz-Prozessen gegen die Lagermannschaften dieses Vernichtungslagers verhandelt. Auch hier gab es ein reges Interesse der Medien, so dass dieser Teil der unbewältigten Vergangenheit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kam. Die große Verjährungsdebatte im Deutschen Bundestag vom 10. März 1965 wurde als Sternstunde des Parlaments wahrgenommen und ermöglichte die weitere strafrechtliche Verfolgung noch unentdeckter Täter. Bei einer Meinungsumfrage unter der Bevölkerung hatte sich zuvor noch eine knappe Mehrheit für ein Ende aller Prozesse ausgesprochen.

Im Mai 1968 wurde in den § 50 des Strafgesetzbuchs im Rahmen der Strafrechtsreform der Großen Koalition ein Absatz 2 eingefügt, der eine obligatorische Strafminderung für Beihilfe vorsah, falls die „Gehilfen“ die niedrigen Motive der Haupttäter nicht teilten. Dieser unscheinbare Wandel hatte große Auswirkungen: Da die Justiz in den meisten Fällen von NS-Verbrechen Schuldsprüche nur wegen „Beihilfe zum Mord“ fällte und die Angeklagten eigene „niedrige Motive“ gewöhnlich abstritten, galt nun für sie nur noch der Strafrahmen für Totschlag – was zur Folge hatte, dass die Taten verjährt waren, wie der Bundesgerichtshof in einem aufsehenerregenden und umstrittenen Urteil am 20. Mai 1969 entschied. Bereits weit fortgeschrittene Ermittlungsverfahren gegen 730 „Schreibtisch-Täter“ des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) wurden nun wegen Verjährung eingestellt. Diese Wendung, in zeitgenössischen Debatten häufig als „Panne“ bezeichnet, wird heute in der rechtshistorischen und zeitgeschichtlichen Debatte sehr kontrovers diskutiert: Handelte es sich wirklich um eine Panne oder ging das Malheur auf vorsätzliche Manipulationen früherer Nazis, vor allem Eduard Dreher, im Bundesjustizministerium zurück – oder war diese Verjährungsfolge hauptsächlich auf den politischen Willen und die Positionierung der Rechtsprechung selbst zurückzuführen?[7]

Gesamtzahlen

Nach den letzten Forschungsergebnissen[8] ergibt sich für die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen durch die deutsche Justiz in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich West-Berlins und des Saarlands) das folgende Ergebnis:

Die Staatsanwaltschaften leiteten nach dem 8. Mai 1945 bis Ende des Jahres 2005 in 36.393 Ermittlungsverfahren gegen 172.294 Beschuldigte ein. Von 16.740 Angeklagten wurden 6656 rechtskräftig verurteilt, davon

  • 16 zum Tode (4 davon vollstreckt),
  • 166 zu lebenslanger Freiheitsstrafe,
  • 6.297 zu zeitlich begrenzter Freiheitsstrafe,
  • 130 zu Geldstrafe und
  • 47 von Strafe abgesehen/unbekannte Strafen.

Die hohe Zahl der Beschuldigten kam teilweise dadurch zustande, dass die Staatsanwaltschaften ganze Dienststellen und Einheiten der Wehrmacht, deren Angehörige für eine Tatbeteiligung in Betracht kamen, förmlich beschuldigt haben. Dies schien geboten, um vorsorglich eine drohende Verjährung abzuwenden.

Die Höchststrafe wurde in 182 Fällen verhängt. In der Mehrzahl der Fälle wurden die Angeklagten auch bei Tötungsdelikten nicht als Täter mit eigenem Tatvorsatz verurteilt, sondern nur der Beihilfe für schuldig befunden.

Inzwischen geht die Strafverfolgung aus biologischen Gründen, Tod oder Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten, verstorbene Zeugen, etc. dem Ende zu. Allerdings laufen immer noch mehrere Ermittlungsverfahren und vereinzelt finden auch noch Prozesse statt.

Deutsche Demokratische Republik

Bereits in der SBZ fanden parallel zu den geheimen sowjetischen Militärtribunalen Verfahren vor deutschen Gerichten statt, die nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 und landeseigenen Gesetzen durchgeführt wurden. Sie wurden von einer Arbeitsgruppe zu NS-Straftaten in der Justizverwaltung koordiniert.

Im August 1947 befahl die sowjetische Militäradministration den Innenministerien der fünf Länder der SBZ, weitere NS-Straftaten zu ermitteln. Im Februar 1948 befahl sie, die eingeleiteten NS-Prozesse abzuschließen. Bis 1949 verurteilten ostdeutsche Gerichte 8055 Personen wegen NS-Verbrechen, die fast alle auf dem Gebiet der SBZ stattgefunden hatten: z. B. im KZ Radeberg oder bei der „Euthanasie“-Aktion T4. 3115 Angeklagte wurden wegen Massenverbrechen, 2426 wegen Denunziationen, 901 wegen Mitgliedschaft in NS-Organisationen und 147 wegen Justizverbrechen verurteilt.

1950 schlossen die sowjetischen Besatzungsbehörden die letzten Internierungslager in der DDR und übergaben mehr als 3.400 Häftlinge sowie die volle Kompetenz zur Strafverfolgung von NS-Tätern an die DDR-Justiz. Diese seit 1945 Internierten wurden noch im selben Jahr in den sogenannten Waldheimer Prozessen verurteilt. Dabei wurden 33 Todesurteile verhängt, von denen 24 vollstreckt wurden. Nach heutigen Erkenntnissen waren nicht alle der Verurteilten NS-Täter.

Bis 1956 sank die Zahl der verurteilten NS-Täter in der DDR auf Null. In den 1960er Jahren folgten einige spektakuläre Anklagen in Abwesenheit gegen ehemalige NSDAP-Angehörige, die in der Bundesrepublik in Staats- und Regierungsämter aufgestiegen waren: so gegen Theodor Oberländer 1960 und Hans Globke 1963. Damit wurde der staatliche Antifaschismus propagandistisch gegen die Bundesrepublik gerichtet.

1968 legte eine große Strafrechtsreform in der DDR alle Straftatbestände für NS-Verbrechen umfassend fest. Bis zur Wende von 1989 wurden danach weitere NS-Prozesse gegen offiziell etwa 10.000 Personen – zusätzlich zu den 3.000 Waldheim-Urteilen von 1950 – durchgeführt. Besonderes Aufsehen erregte der Prozess gegen Horst Fischer, Lagerarzt in Auschwitz-Monowitz.

Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurden die in den Waldheimprozessen zu Unrecht mitverurteilten Täter rehabilitiert; die dort gefällten Todesurteile wurden aufgehoben, gegen einige beteiligte DDR-Richter wurden Verfahren wegen Rechtsbeugung eingeleitet.[9]

Belgien

Am 20. Juni 1947 verabschiedete Belgien ein Gesetz über die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit für Kriegsverbrechen. 75 Deutsche wurden vor belgischen Militärgerichten zur Verantwortung gezogen.

Bulgarien

Bulgarien verurteilte 11.122 Inländer, davon 2.730 zum Tode. Deutsche, die man der Teilnahme an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdächtigte, sollen an die Sowjetunion ausgeliefert worden sein. Die Gesetzesverordnung über die Aburteilung der für den Eintritt Bulgariens in den Weltkrieg gegen die Alliierten Nationen und für die damit verbundenen Verbrechen Verantwortlichen vom 6. Oktober 1944 richtete sich ausschließlich gegen Bulgaren.

Dänemark

In Dänemark wurden 14.049 Personen wegen Kollaboration mit den Deutschen zu Haftstrafen verurteilt. 78 Todesurteile wurden verhängt, wovon 46 vollstreckt wurden.[10] Ungefähr 13.500 wurden wegen Landesverrats verurteilt. Das dänische Gesetz über den Landesverrat wurde im Sommer 1945 vom dänischen Reichstag verabschiedet. Es galt mit rückwirkender Kraft ab dem 9. April 1940, dem ersten Tag der deutschen Besetzung Dänemarks. Von diesen 13.500 Personen wurden ca. 7.500 wegen militärischer Kollaboration verurteilt. Sie hatten im Frikorps Danmark oder in anderen Militäreinheiten auf deutscher Seite gekämpft, viele hatten sich auch an deutschen Wach- oder Antisabotagekorps beteiligt. 2.000 hatten bei der deutschen Polizei gedient, 1.100 wurden wegen Denunziation, Mord, Folter oder anderer Gewalttaten verurteilt. Wegen Hochverrats wurden einige Führer der dänischen Nazipartei DNSAP verurteilt, die Mitgliedschaft an sich war jedoch nicht strafbar. Ungefähr 600 kommunale oder staatliche Beamte wurden allerdings wegen der Mitgliedschaft in der DNSAP entlassen. Etwa 1.100 Personen wurde wegen wirtschaftlicher Kollaboration verurteilt, 318 Millionen Kronen wurden konfisziert.[11] Außerdem wurden 80 Deutsche verurteilt.

Frankreich

Am 28. August 1944 wurde eine Verordnung über die Bestrafung von Kriegsverbrechen erlassen, die durch ein Gesetz vom 15. September 1948 ergänzt wurde. Am 26. Dezember 1964 erklärte das Gesetz Nr. 64/1326 Verbrechen gegen die Menschlichkeit für unverjährbar.

Die genauen Verurteilungszahlen sind unklar: zum Teil werden 10.519 Hinrichtungen angegeben, von denen nur 850 aufgrund eines Gerichtsurteils ergangen sind; andere Quellen gehen von 4.783 Todesurteilen (ca. 2.000 vollstreckt) und 50.000 Haftstrafen aus.[12] Durch verschiedene Kommissionen zur Épuration/Reinigung/Säuberung sollte in einer zweiten Phase nicht nur der Polizeidienst auf sein Handeln in der Vichy-Zeit und Kollaboration allgemein in einer einigermaßen rechtlich nachvollziehbaren Weise überprüft werden.

siehe auch: Klaus Barbie

Großbritannien

Die ersten britischen Militärgerichtsverfahren basierten auf einem Königlichen Sonderedikt (Royal Warrant) vom 14. Januar 1945.

Israel

In Israel erließ die Knesset 1950 ein in seinem räumlichen Geltungsbereich nicht eingeschränktes Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazihelfern. Auf dieser Basis wurde 1961 Adolf Eichmann, ehemaliger Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt, zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Italien

siehe auch: Erich Priebke

Jugoslawien und Albanien

Jugoslawien und Albanien haben keine Statistik der Strafverfahren veröffentlicht. Aber noch vor dem Nürnberger Nachfolgeprozess gegen die Generale in Südosteuropa wurden 19 deutsche Generale in Jugoslawien hingerichtet. Bereits 1946 wurden die Auslieferungen von mutmaßlichen Kriegsverbrechern von den Westalliierten stark eingeschränkt, nachdem Bedenken aufgetreten waren, ob sie ein faires Verfahren erhalten würden.

Niederlande

In den Niederlanden wurden 35.615 Personen wegen Kollaboration mit den Deutschen verurteilt. Von ca. 200 ausgesprochenen Todesurteilen wurden 38 vollstreckt.[13] Dazu kamen 204 Urteile gegen Deutsche.

Norwegen

Direkt nach dem Krieg wurden gegen 92.805 Norweger Verfahren eröffnet, vorwiegend wegen Landesverrats. 46.085 Personen wurden bestraft, davon 28.919 mit Geldbußen und Rechtsverlust, 17.136 mit Haft. 30 Personen wurden zum Tode verurteilt, 25 Todesurteile wurden vollstreckt. Nach einer Aufstellung des norwegischen Justiz- und Polizeiministeriums ahndeten die Strafen[14] in

  • 1.971 Fällen Ausübung von Ämtern in der norwegischen Verwaltung
  • 7.146 Fällen Aktivitäten in Organisationen und Gliederungen der norwegischen faschistischen Partei Nasjonal Samling (NS)
  • 2.784 Fällen Propaganda für die NS oder für die Teilnahme am Krieg auf deutscher Seite
  • 9.649 Fällen Zugehörigkeit zum Hird, der SA der NS, und zu den bewaffneten Hird-Abteilungen, zur Germanischen SS und ähnlichen Organisationen
  • 4.816 Fällen Kriegsteilnahme auf deutscher Seite, auch als Krankenschwester beim Deutschen Roten Kreuz
  • 1.295 Fällen Zugehörigkeit zur deutschen Sicherheitspolizei (Sipo) sowie zur norwegischen Staats- und Grenzpolizei
  • 1.043 Fällen Beteiligung an Mord- und Gewalttaten
  • 4.765 Fällen Denunzianten- und Spitzeltätigkeit für die Sipo
  • 290 Fällen Spionage- und Abwehrtätigkeit für die Besatzungsmacht
  • 3.208 Fällen „Wirtschaftlicher Landesverrat“
  • 5.014 Fällen Tätigkeit in deutschen Dienststellen, Betrieben und Einrichtungen
  • 40.072 Fällen Zugehörigkeit zur NS und ihr angeschlossenen Organisationen
  • 1.907 Fällen Landesverrat in anderen Formen bzw. andere strafbare Handlungen

Außerdem wurden in Norwegen 80 Deutsche verurteilt.

Österreich

Hauptartikel: Volksgericht (Österreich)

In Österreich wurden 13.625 eigene Staatsbürger verurteilt. Die Gesetzgebung zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde wiederholt novelliert, das erste Verbotsgesetz stammt vom 8. Mai 1945. Zuletzt 1992 geändert, gilt es heute noch. Am 26. Juni 1945 wurde ein Verfassungsgesetz … über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz)[15] erlassen, das 1957 aufgehoben wurde.

Polen

In Polen wurden insgesamt 5.385 Deutsche und Österreicher unter dem Vorwurf verurteilt, nationalsozialistische Verbrechen verübt zu haben. Mehr als jeder dritte der in Polen verurteilten deutschen NS-Täter ist von den vier Besatzungsmächten dorthin überstellt worden, vorwiegend aus der amerikanischen Besatzungszone.

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren in Polen Straftaten nach dem „Dekret für die Strafzumessung für die faschistisch-nazistischen Verbrecher, die sich der Mordtaten und der Misshandlung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen schuldig gemacht haben, sowie der Verräter des polnischen Volkes vom 31. August 1944“, geändert und ergänzt am 22. Januar und 28. Juni 1946 sowie am 3. April 1948.

Sowjetunion

In der Sowjetunion wurden seit 1941 Rechtsgrundlagen zur Strafverfolgung von NS-Tätern geschaffen. Diese wurde in vielen sogenannten Molotow-Noten angekündigt. Am 2. November 1942 wurde dazu die Außerordentliche Staatskommission zur Untersuchung der Verbrechen der deutsch-faschistischen Besatzer gegründet. Diese blieb bis 1948 bestehen. Der United Nations War Crimes Commission trat die Sowjetunion nicht bei.

NS-Prozesse wurden in der SU nach dem Militärstrafrecht der Einzelrepubliken durchgeführt. Der Kriegsverbrecher-Erlass vom 19. April 1943 definierte dazu die Strafmaße genauer. Im Juli 1943 fand in Krasnodar auf dieser Basis der erste NS-Prozess überhaupt statt: Dieses Verfahren gegen sowjetische Helfer des Sonderkommandos 10a machte den Einsatz deutscher Gaswagen für Massenmorde international bekannt. Im Dezember 1943 folgte in Charkow ein Prozess gegen drei deutsche und einen sowjetrussischen Angeklagten.[16] Fast alle Angeklagten beider propagandistisch begleiteten Prozesse wurden zum Tod verurteilt.

Bis 1950 folgte eine unbekannte Zahl von Prozessen gegen als Kollaborateure angeklagte einheimische Staatsbürger, deutsche Kriegsgefangene und von den Westmächten ausgelieferte mutmaßliche NS-Verbrecher. Der NKGB, ab 1946 NGB, führte die geheimen Ermittlungen, während die Verfahren vor NKWD- bzw. MVD-Gerichten stattfanden.

Ende 1945 begann eine Prozessreihe gegen hochrangige SS- und Wehrmachtsführer, u. a. in Minsk und Riga, darunter gegen Friedrich Jeckeln. Diese Serie hielt bis 1948 an. Ab 1949 folgten viele Schnellverfahren vor allem gegen deutsche Kriegsgefangene, niedrige NS-Ränge und vermutete Kollaborateure. Letztere wurden oft ohne rechtsstaatliche Verfahren und Berufungsgarantien wegen Landesverrat und „Konterrevolution“ verurteilt, nach zeitweiliger Abschaffung der Todesstrafe meist zu 25 Jahren Zwangsarbeit.

Tschechoslowakei

Am 19. Juni 1945 erließ der Staatspräsident ein Dekret über die Bestrafung der Naziverbrecher, Verräter und ihrer Helfershelfer und über außerordentliche Volksgerichte, das am 24. Januar 1946 eine Gesetzesfassung erhielt. Es trat am 31. Dezember 1948 außer Kraft, danach waren allgemeine Strafrechtsnormen die Grundlage für weitere Verurteilungen. Die Zahl der in der Tschechoslowakei verurteilten Deutschen wird auf etwa fünfzig Prozent der verurteilten 33.463 NS-Täter geschätzt.

Ungarn

Ungarn verurteilte seit 1945 auf Basis der Verordnung Nr. 81/45 über die Volksgerichtsbarkeit, Kriegsverbrechen und volksfeindliche Vergehen über 19.000 von 40.000 als NS-Verbrecher und Kollaborateure angeklagten Personen. Es wurden 380 Todesurteile verhängt. Wie viele Verurteilte Deutsche waren, ist unbekannt.

Die provisorische Regierung Ungarns nahm die Strafverfolgung von NS-Tätern schon seit Dezember 1944 auf und setzte sofort nach Kriegsende Sondergerichte – genannt „Volkstribunale“ – für ihre Verfahren ein. Diese wurden seit der Machtübernahme der Kommunistischen Partei Ungarns beschleunigt durchgeführt. Bis Ende 1946 verurteilten die Sondergerichte die meisten ungarischen Politiker, die mit dem Deutschen Reich und den Nationalsozialisten kooperiert oder diese Kooperation vorbereitet hatten.

Exemplarisch für die ungarischen Verfahren war der Prozess gegen László Bárdossy, der als Ministerpräsident Ungarns 1941–1942 dessen Kriegserklärung an die Sowjetunion durchgesetzt hatte. Er wurde eines Verfassungsbruchs und der Beteiligung an Judenmorden in Kamenz-Podolski und Novi Sad schuldig gesprochen und am 10. Januar 1946 durch Hängen hingerichtet.

Die Todesurteile gegen Márton Zöldy und Jozsef Grassy, die am Massaker von Novi Sad beteiligt waren, wurden von einem Berufungsgericht aufgehoben. Doch nach ihrer späteren Auslieferung an Jugoslawien, auf dessen Gebiet das Massaker stattgefunden hatte, wurden sie dort erneut zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Am 1. März 1946 wurde auch Bardossys Vorgänger Béla Imrédy hingerichtet: Er sollte als Ministerpräsident Ungarns von 1938 bis 1939 die ersten beiden antijüdischen Gesetze vorbereitet und das zweite unterzeichnet haben. Er wurde aber nach 1989 rehabilitiert.

Die meisten Regierungsmitglieder der Kabinette von Döme Sztójay und Ferenc Szálasi wurden ebenfalls im März/April 1946 hingerichtet: darunter Andor Jaross, der frühere Innenminister, und zwei seiner Staatssekretäre. Sie sollten bei Plünderungen jüdischen Besitzes und Deportationen ungarischer Juden federführend gewesen sein. Wegen erwiesener Mitwirkung daran wurden auch Emil Kovacs, Führer der Pfeilkreuzler, Peter Hain, Chef der ungarischen Geheimpolizei und deutscher Agent, und Laszlo Ferenczy von der Gendarmerie hingerichtet.

1967 wurden weitere führende Pfeilkreuzler angeklagt. 16 davon wurden zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt, Vilmos Kroszl, Lajos Németh und Alajos Sándor wurden hingerichtet.[17]

Siehe auch

Literatur

  • Bundesminister der Justiz (Hrsg.): Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus – Katalog zur Ausstellung. Köln 1989, ISBN 3-8046-8731-8.
  • Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1999, ISBN 3-423-30720-X.
  • Norbert Frei (Hrsg.):Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006.
  • Jörg Friedrich: Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-596-24308-4.
  • Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation. Neuauflage. Berlin 1998, ISBN 3-548-26532-4.
  • Kerstin Freudiger: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Mohr Siebeck, Tübingen 2002, ISBN 3-16-147687-5.
  • Joachim Perels, Rolf Pohl (Hrsg.): NS-Täter in der deutschen Gesellschaft. Hannover 2002.
  • Adalbert Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung. Heidelberg 1982.
  • Adalbert Rückerl: NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung: Möglichkeiten, Grenzen, Ergebnisse. Müller, 1984, ISBN 3-7880-2015-6.
  • Adalbert Rückerl (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno. dtv 2904, München 1977, ISBN 3-42302904-8. (dokumentiert Auszüge aus Gerichtsurteilen und wichtigen Zeugenaussagen)
  • Christian Frederic Rüter, Dick W. de Mildt (Hrsg.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1965. Band I–XXII. Amsterdam 1968 ff.
  • Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952. 2. Auflage. Fischer, ISBN 3-596-13589-3.
  • Günther Wieland: Justitielle Ahndung von Okkupationsverbrechen. In: Werner Röhr (Hrsg.): Europa unterm Hakenkreuz. Analysen, Quellen, Register. Band 8. Heidelberg 1996, ISBN 3-7785-2338-4.
  • Heiner Lichtenstein, Otto R. Romberg (Hrsg.): Täter Opfer Folgen. ISBN 3-89331231-5.
  • Helge Grabitz u. a. (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Festschrift für Wolfgang Scheffler. Ed. Hentrich, Berlin 1994, ISBN 3-89468-142-X (Teil 3: Die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Teil 4: Überblick über die Gutachtertätigkeit und Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Scheffler. S. 299–531)
  • Nathan Stoltzfus, Henry Friedlander (Hrsg.): Nazi Crimes and the Law. Cambridge University Press, Cambridge 2008, ISBN 978-0-5218-9974-1 (Publications of the German Historical Institute).[18]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Günther Wieland: Die Nürnberger Prinzipien im Spiegel von Gesetzgebung und Spruchpraxis sozialistischer Staaten. In: G. Hankel, G. Stuby (Hrsg.): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Hamburg 1995, ISBN 3-930908-10-7.
  2. Europa unterm Hakenkreuz. Band 8. S.352
  3. Wolfgang Form: Justizpolitische Aspekte west-alliierter Kriegsverbrecherprozesse 1942–1950. In: Ludwig Eiber, Robert Sigl (Hrsg.): Dachauer Prozesse – NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945–1948. Göttingen 2007, S. 47ff.
    Lothar Kettenacker: Die Behandlung der Kriegsverbrecher als anglo-amerikanisches Rechtsproblem. In: Gerd R. Ueberschär: Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952. Frankfurt am Main 1999, S. 19f.
  4. Karl Dietrich Erdmann: Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten. In: Bruno Gebhardt (Hrsg.): Handbuch der deutschen Geschichte. Band 22. 9. Auflage. München 1999, ISBN 3-423-59040-8, S. 106
  5. Ruth Bettina Birn: Die Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen. In: Hans-Erich Volkmann: Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau. München 1995, ISBN 3-492-12056-3
  6. Wolfram Wette: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt 2005, ISBN 3-596-15645-9, S. 238f.
  7. Eine gute Zusammenfassung des Vorgangs und der Debatte bietet Hubert Rottleuthner: Hat Dreher gedreht? Über Unverständlichkeit, Unverständnis und Nichtverstehen in Gesetzgebung und Forschung. In: Rechtshistorisches Journal. Nr. 20, 2001, S. 665–679. Vgl. auch Norbert Frei: Karrieren im Zwielicht … Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-593-36790-4, S. 228f.
  8. [7a]Vgl. Andreas Eichmüller: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 624 ff.
  9. Artikel NS-Prozesse. In: Enzyklopädie des Holocaust. 1998, S. 1037f
  10. Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Heidelberg 1982, S. 103.
  11. Bundesarchiv (Hrsg.): Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration (1938–1945). Ergänzungsband 1. Berlin, Heidelberg 1994, ISBN 3-8226-2492-6, S.111ff.
  12. Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Heidelberg 1982, S. 102.
  13. Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Heidelberg 1982, S. 103.
  14. Bundesarchiv (Hrsg.): Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration (1938–1945). Ergänzungsband 1. Berlin, Heidelberg 1994, ISBN 3-8226-2492-6, S. 119ff.
  15. Kriegsverbrechergesetz (KVG)
  16. Norbert Frei (Hrsg.): Transnationale Vergangenheitspolitik, Wallstein-Verlag Göttingen, 2006, S.218
  17. Artikel NS-Prozesse. In: Enzyklopädie des Holocaust. 1998, S. 1044
  18. Vgl. Kim Christian Priemel: Rezension zu: Stoltzfus, Nathan; Friedlander, Henry (Hrsg.): Nazi Crimes and the Law. Cambridge 2008. In: H-Soz-u-Kult, 4. Februar 2010.

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