- Alexander Rüstow
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Alexander Rüstow (* 8. April 1885 in Wiesbaden; † 30. Juni 1963 in Heidelberg) war ein deutscher Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler. Er war ein Großneffe von Wilhelm Rüstow.
Rüstow erschuf 1938 den Begriff Neoliberalismus als Bezeichnung für eine erneuerte liberale Ordnung, die sich vom Laissez-faire-Liberalismus unterscheiden sollte. Im Laufe der Zeit erfuhr der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch einen Bedeutungswandel.[1] Er ist ein Hauptvertreter des dieser heterogenen Denkrichtung zugeordneten Soziologischen (Neo-)Liberalismus,[2] Zudem wird er als einer der Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet.[3] Das im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte konstruktive Misstrauensvotum geht teilweise auf Rüstows Kritik der Weimarer Verfassung zurück.[4]
Inhaltsverzeichnis
Leben
Rüstow wurde in eine preußische Offiziersfamilie geboren. Die strenge preußische Erziehung des Vaters und die pietistische Erziehung der Mutter prägten ihn dergestalt, dass er zeitlebens ein kritische Einstellung zum Wilhelminischen Deutschland und ein ambivalentes Verhältnis zur Kirche hatte.[5] Er legte 1903 vorzeitig seine Reifeprüfung am Bismarck-Gymnasium (heute Goethe-Gymnasium) zu Deutsch-Wilmersdorf bei Berlin (seit 1912 Berlin-Wilmersdorf) ab. Er studierte von 1903 bis 1908 in Göttingen, München und Berlin Mathematik, Physik, Philosophie, Altphilologie, Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre. In Göttingen studierte er bei dem Neukantianer Leonard Nelson. 1908 promovierte Rüstow bei Paul Hensel an der Universität Erlangen mit seiner Arbeit Der Lügner. Theorie, Geschichte und Auflösung, in der er sich mit dem Lügner-Paradoxon auseinandersetzte.
In den Jahren 1908-1911 war Rüstow verantwortlicher wissenschaftlicher Abteilungsleiter im Verlag B. G. Teubner in Leipzig tätig. Er arbeitete von 1911 bis 1914 an einer Habilitationsschrift über die Erkenntnistheorie des Parmenides. Diese Arbeit wurde wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs abgebrochen. Rüstow meldete sich als Freiwilliger zur Armee, wo er mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse und dem Königlichen Hausorden der Hohenzollern ausgezeichnet wurde.
Rüstow war schon seit der Vorkriegszeit mit Avantgarde-Trends in Kunst und Psychologie vertraut. Seine erste Frau war die Malerin Mathilde Herberger, die mit Käthe Kollwitz eng befreundet war. In ihrem Tagebuch erwähnt Käthe Kollwitz mehrmals Alexander Rüstow mit seiner ersten und zweiten Frau.[6] Bei Kriegsende teilte er die Ansichten der Sozialisten, begrüßte die deutsche Revolution vom November 1918 und soll sich sogar daran beteiligt haben. Noch mit Mathilde Herberger verheiratet lernte Alexander Rüstow am Anfang der Münchner Räterepublik seine spätere zweite Frau und Völkerkundlerin Anna Bresser kennen, die dort studierte.
Der neuen Reichsregierung fehlten ausgebildete Akademiker. 1918 übernahm Rüstow einen Posten im Reichswirtschaftsministerium als Referent für die Nationalisierung der Kohleindustrie des Ruhrgebiets. Rüstow war schnell von der sozialistischen Planungsweise desillusioniert. Statt einer dynamischen Reform der Gesellschaft begegnete er bei seiner Tätigkeit den Verteidigern etablierter Interessen und einer zähen Bürokratie.
1924 verließ Rüstow das Reichsministerium für Wirtschaft und übernahm eine Stelle als Syndikus und Leiter der Wirtschaftspolitischen Abteilung beim Verein deutscher Maschinenbau-Anstalten (VdMA).
1933 musste Rüstow, da er unter anderem von Kurt von Schleicher in einem zur Verhinderung der Machtergreifung aufgestellten Schattenkabinett als Wirtschaftsminister vorgesehen war, emigrieren. 1933 wurde Rüstow auf einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftsgeschichte an die Universität Istanbul berufen. In der Ruhe des türkischen Exils entstand unter anderem Rüstows Opus Magnum Ortsbestimmung der Gegenwart, eine universalgeschichtliche Kulturkritik. In Ankara hielt Rüstow sowohl Verbindung mit dem deutschen Botschafter Franz von Papen, den ehemaligen Reichskanzler, als auch mit nachrichtendienstlichen Kreisen von amerikanischer Seite. Rüstow machte die Amerikaner auf Helmuth James von Moltke aufmerksam, der zum deutschen Widerstand („Kreisauer Kreis“) gehörte und im Juli 1943 Ankara besuchte.
1949 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde 1950 als Ordinarius auf einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an die Universität Heidelberg berufen. Bis zu seiner Emeritierung (Wintersemester 1955/56) war er gleichzeitig Direktor des Alfred-Weber-Instituts, war von 1951 bis 1956 der erste Vorsitzende und später Ehrenvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, hatte die Funktion als Gesellschafter und Kurator der FAZIT-Stiftung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung inne und war bis 1962 Vorsitzender und später Ehrenvorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM).
In Heidelberg wohnte er seit den 1950er Jahren in einer Etage im Haus Mönchhofstraße 26. Er war in dritter Ehe mit Lorena (* 3. März 1905, † 19. Februar 1999), geb. Gräfin Vitzthum von Eckstädt, einer Tochter von Christoph Johann Friedrich Vitzthum von Eckstädt, verheiratet. Seinen Ehen entsprangen insgesamt sieben Kinder. Am 30. Juni 1963 starb Alexander Rüstow in Heidelberg im Alter von 78 Jahren.
Rüstows umfangreicher Nachlass befindet sich im Bundesarchiv in Koblenz.
Bildung des Begriffs Neoliberalismus
1938 fand das Colloque Walter Lippmann statt, auf dem die Thesen Lippmanns über den Niedergang des Liberalismus und die Chancen einer erneuerten liberalen Ordnung, die sich vom Laissez-faire Liberalismus unterscheiden sollte, zu diskutieren. Dabei setzte sich Alexander Rüstows Begriffsschöpfung des Neoliberalismus gegen Alternativen wie Neo-Kapitalismus, sozialer Liberalismus oder sogar libéralisme de gauche (franz. Linker Liberalismus) durch.[7] Neoliberalismus ist ein Kompositum aus νέος neos (altgriech. neu), und Liberalismus. Der Begriff Neoliberalismus gelangte später durch die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, aber auch durch die auf den Ideen Friedrich August von Hayek oder Milton Friedmans beruhenden Liberalisierungen und Deregulierungen der Weltwirtschaft, und damit auch der Globalisierung, zu großer Bekanntheit. Heute wird der Begriff hauptsächlich als Schimpfwort verwendet.[8]
Dem Begriff Neoliberalismus lag von Beginn an kein homogenes Theoriengebäude zugrunde. Bereits beim Colloque Walter Lippmann zeigten sich neben der Übereinstimmung in den elementaren Grundlagen der Befürwortung von Privateigentum und Vertragsfreiheit andererseits auch kontroverse Vorstellungen etwa hinsichtlich der Rolle des Staates.[9] Rüstow plädierte im Gegensatz zu anderen Teilnehmern wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek für einen starken Staat.[10][11] Er bedauerte im Nachhinein, dass damals durch den gefundenen Kompromiss der Schein der Einheit mühsam aufrechterhalten wurde, obwohl in Wirklichkeit „der schärfste und fruchtbarste subkonträre Gegensatz vorlag.“[12] In einem Brief an Wilhelm Röpke schrieb Rüstow, die Neoliberalen hätten den Altliberalen „so vieles vorzuwerfen, haben [wir] in solchem Maße einen anderen Geist wie sie, dass es eine völlig verfehlte Taktik wäre [...] uns mit dem Ruf der Verranntheit, Überholtheit und Abgespieltheit zu bekleckern, der ihnen mit vollem Recht anhaftet. Diesen ewig gestrigen frisst kein Hund mehr aus der Hand, und das mit Recht.“ Hayek und „sein Meister Mises gehören in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe heraufberschworen haben.“[13] Später wurde der Begriff Neoliberalismus von Rüstow synonym mit dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft verwendet.[14] Er sprach jedoch auch von „Sozialliberalismus“, um seine wirtschaftspolitischen Auffassungen zu charakterisieren, die er unter Rückgriff auf den freiheitlichen Sozialismus Franz Oppenheimers als „Dritten Weg“ bezeichnete.[15]
Rüstow selbst wies darauf hin, dass sein Begriff des Neoliberalismus keinen Markenschutz genieße:
„Der Markt hat jedoch einen überwirtschaftlichen Rahmen, der durch Gesetze usw. gebildet wird, und innerhalb dieses Rahmens kann die Sache gar nicht planmäßig genug hergehen. (...) An dieser Planmäßigkeit des Rahmens, insbesondere auf dem Gebiet der Sozialpolitik, fehlt es leider Gottes noch sehr. Dadurch unterscheiden wir Neuliberalen uns ja von den Altliberalen, daß wir uns der Notwendigkeit des Rahmens und seiner Gestaltung bewußt sind. Leider wird dieser Unterschied dadurch verwischt, daß es eine Anzahl von Altliberalen, zum Teil von sehr intransigenten Altliberalen gibt, besonders in Amerika, die sich fälschlicherweise- und irreführenderweise 'Neuliberale' nennen und damit große Verwirrung stiften. Leider können wir dagegen nicht mit Patentprozessen und Markenschutz vorgehen.“
– Alexander Rüstow: Sozialpolitik diesseits und jenseits des Klassenkampfes. In: Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (Hrsg.): Sinnvolle und sinnwidrige Sozialpolitik. Ludwigsburg 1959, S. 20.
Peter Ulrich vertritt folgende Meinung: „Ganz anders verstanden wird der Primat der Politik dagegen von der ordoliberalen Position, die sich ursprünglich bis in die 50er Jahre selbst als „neoliberal“ bezeichnet hat, dann aber eine neue Selbstbezeichnung wählte, als der Begriff des Neoliberalismus zunehmend von den Marktradikalen okkupiert wurde.“[16]
Heute werden mit dem Begriff Neoliberalismus häufig ökonomistisch verengte libertäre Minimalstaatskonzeptionen bezeichnet, also Politikkonzepte, die dem Laissez-faire Liberalismus des 19. Jahrhunderts ähnlich sind. Ironischer Weise handelt es sich dabei um den Wirtschaftsliberalismus, den Neoliberale - im ursprünglichen Sinne - wie Rüstow, Walter Eucken, und Wilhelm Röpke kritisiert haben und gegenüber dem sie sich durch den Begriff Neoliberalismus abgrenzen wollten.[17]
Wissenschaftliches Werk
Rüstows Ziel war die Überwindung der systembedingten Mängel des Laissez-faire-Liberalismus, nämlich:
- mangelnde Berücksichtigung der Lebensumstände der Bevölkerung
- Mangel an sozialer Grundsicherung, insbesondere bei unverschuldeten Notlagen
- teilweise menschenunwürdige Arbeitsbedingungen
- die höchst ungleichmäßige Verteilung von Chancen, Einkommen und Vermögen
durch eine aktive Wettbewerbspolitik, die
- Monopolbildung verhindert,
- das unternehmerische Eigeninteresse in Richtung des Gemeinwohls kanalisiert
- ein liberaler Interventionismus sollte etabliert werden und
- ein leistungsstarkes, mittelständisches Unternehmertum sollte gefördert werden
Die Wettbewerbspolitik soll durch eine konsistente Sozialpolitik umfassenden Typs, Vitalpolitik genannt, ergänzt werden. Diese beinhaltet die Verbesserung des Lebensumfelds dergestalt, dass das individuelle Wohlbefinden positiv beeinflusst wird und eine subsidiäre soziale Sicherung.[18]
Wirtschaftspolitische Grundpositionen
Rüstows liberales Weltbild stand insbesondere unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, dessen Erfolg er auf das Versagen des Wirtschaftsliberalismus zurückführte. Als Grund sah er vor allem den Aberglauben an die Unsichtbare Hand, den er auf überkommene metaökonomische und pseudoreligiöse Ursprünge zurückführte.[19]
Monopole führen nach Rüstow zu wirtschaftlicher Ineffizienz und schränken durch das Entstehen willkürlicher Machtpositionen die Freiheit ein. Seit seiner Tätigkeit im Reichswirtschaftsministerium und beim VdMA betrachtete er Monopolisten auch als Gefahr für das politische System, da diese zu politischer Einflussnahme neigten. Zur Verhinderung von Monopolen sollte daher eine staatliche Wettbewerbsbehörde installiert werden, wobei diese nach dem Verbotsprinzip arbeiten sollte, d.h. das der Antragsteller seinen Ausnahmeantrag begründen muss. Das Missbrauchsprinzip, nach dem die Beweislast für einen Missbrauch bei der Wettbewerbsbehörde liegt, könne nicht funktionieren, da die Wettbewerbsbehörde den Informationsvorsprung der Kartellmitglieder kaum einholen können und der Mißbrauchsnachweis daher regelmäßig scheitern müsse.[20]
Rüstow beobachtete in den 1920er und 30er Jahren, dass Erhaltungssubventionen zum Schutz der heimischen Wirtschaft marktwirtschaftliche Anpassungsprozesse aushöhlten und die Dosierung der Subventionen stetig erhöht werden musste, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Rüstow schlug daher den liberalen Interventionismus, einen Dritten Weg zwischen einem Nichtinterventionismus und einem sich stetig ausweitenden Interventionismus vor. Subventionen sollten nur dann eingesetzt werden, wenn sie geeignet sind eine Störung tatsächlich zu beseitigen und die Funktionsfähigkeit der Marktmechanismen nicht beeinträchtigen. Als Sinnvoll erachtet werden Anpassungssubventionen, wenn diese in zeitlich und materiell begrenztem Umfang oder in außergewöhnlichen Situationen (Eingliederung der Heimatvertriebenen, der Bewältigung großer Umschulungsaufgaben, der Bewältigung massiv angestauter Anpassungsnotwendigkeiten etc.) gewährt werden. In diesen Fällen soll das Ergebnis eines Strukturwandels durch gezielte, marktkonforme Eingriffe beschleunigt herbeigeführt werden, um die Anpassungskosten zu minimieren.[21]
Wettbewerb als Organisationsprinzip des Marktes funktioniere nur dann richtig, wenn wettbewerbsneutrale Start- und Arbeitsbedingungen bestehen. Nach seiner Beobachtung hat die Bevorzugung großer wirtschaftlicher Einheit in der Weimarer Republik zu einem Niedergang des Mittelstandes geführt. Der Mittelstand müsse aber ganz im Gegenteil gefördert werden.[22]
Rüstow setzte sich für eine stabile Währungsordnung ein. Unter den möglichen Inflationsursachen bewertete er die Geldmengenausweitung (M1) zur Haushaltsfinanzierung als die schlechteste. Sie sei auch moralisch verwerflich, da dies vor allem zu Lasten der Besitzer von geringerem Vermögen gehe. Als zweite Ursache sah er die Lohn-Preis-Spirale bei überzogener Tarifpolitik. Als dritte Ursache nannte er die importierte Inflation aufgrund der Interventionsverpflichtung der Bundesbank.[23]
In der Außenwirtschaftspolitik forderte Rüstow, dass realistische Wechselkurse bestehen sollen, quantitative Handelsbeschränkungen beseitigt werden, Zollprotektionismus abgebaut wird, sowie Freizügigkeit für Menschen, Kapital, Waren und Dienstleistungen.[24]
Staats- und Gesellschaftspolitische Konzeption
Nach Rüstow Vorstellung hat der Markt eine dienende Funktion, er soll die materielle Versorgung des Einzelnen und der Gesellschaft sicherstellen. In der Sphäre des Marktes ist der Wettbewerb das Organisationsprinzip. Das Wettbewerbsprinzip befördert aber keine soziale Integration, alleine auf diesem Prinzip kann eine Gesellschaft nicht beruhen. Deshalb unterscheidet Rüstow als zweite Sphäre den Marktrand, worunter er das eigentlich Menschliche versteht, also Kultur, Ethik, Religion und Familie. Hier sind moralische Werte das Organisationsprinzip. Diese Sphäre hat die Aufgabe, Integration, Solidarität und Versittlichung zu gewährleisten. Der Staat hat die Aufgabe die beiden Sphären voneinander abzugrenzen, und innerhalb der jeweiligen Sphäre den Ordnungsrahmen zu setzen und zu garantieren. Rüstows Staatsvorstellung ist die eines starken Staates, der über den Interessen steht und sich gleichzeitig nur da in die Sphären einmischt, wo die Selbstorganisation nicht funktioniert (Subsidiaritätsprinzip).[25] Darin unterscheidet er sich explizit von Mises und Hayek.
Vitalpolitik
Vitalpolitik ist eine Begriffsschöpfung von Rüstow, eine ähnliche Konzeption erarbeitete auch Wilhelm Röpke.[26] Kerngedanke ist, dass den Marktkräften die lebensdienliche Ausrichtung ordnungspolitisch vorgegeben werden muss. Sie kann nicht automatische Folge des freien Marktes sein, ist aber ethische Voraussetzung einer legitimen Marktwirtschaft.[27]
Die Bürger sollen nach Rüstows Vorstellung gleiche Startchancen haben. Dies beinhaltet eine Bildungsförderung für begabte Jugendliche aus minderbemittelten Familien. Radikal sind seine Vorstellungen im Steuerrecht. Die Erbschaftsteuer soll mit einer hohen Steuerprogression ausgestaltet werden. Dabei soll die Erbschaftsteuer so hoch ausfallen, dass einerseits die Vermögensverhältnisse der Bürger durch Erbschaften nicht zu stark auseinandergehen können und andererseits der Steuerertrag so hoch ist, dass die Steuersätze von Massensteuern (Einkommensteuer, Umsatzsteuer) gesenkt werden können.[28]
Der ganzheitliche Ansatz der Vitalpolitik zielt auch auf eine Gestaltung des gesamten Lebensumfeldes der Bürger. So sieht Rüstow ein ländlicheres Lebensumfeld in einem Eigenheim mit Garten als Ideal, das durch Standortpolitik gefördert werden soll.[29] Familienpolitisch soll u.a. durch Siedlungspolitik und Industrieansiedlung die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so ausgestaltet werden, dass für jedes Elternpaar ausreichend Erwerbsmöglichkeiten bestehen. Längerfristige Geldleistungen seien nur da sinnvoll, wo eine ausreichende Erwerbsmöglichkeit nicht besteht.[30] Er erkennt, dass die Konkurrenz zwischen den Betrieben wenig geeignet ist Solidarität zu verbreiten. Umso wichtiger sei es, dass innerbetrieblich ein Wir-Gefühl und ein positives Betriebsklima bestehe. Als sehr positiv hob er die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes 1952 hervor, als positiver Ansatz zur Schaffung innerbetrieblicher Solidarität.[31]
Die subsidiäre soziale Sicherung wurde für den Bereich der Gestaltung der Sozialhilfe in der Ordnung der Bundesrepublik Deutschland nach der Rüstowschen Konzeption umgesetzt.[32] Die Kritik Rüstows an der mangelnden Berücksichtigung des Äquivalenzprinzips und der fehlenden Wahlfreiheit in den bismarckschen Sozialversicherungen fand jedoch keine Berücksichtigung. Auch Rüstow legte aber Wert darauf, dass die Versicherungspflicht nicht weniger weit ging, als eventuelle Sozialhilfeansprüche. Denn Bürger, die sich selbst absichern können, sollen nicht der Allgemeinheit zur Last fallen.[33]
Verfassungsrecht
Aus der Beobachtung der Instabilität der Weimarer Verfassung leitete Rüstow die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Änderung des politischen Bewusstseins, aber auch der Verfassung ab. 1929 warnte er in einer Rede vor der Deutschen Hochschule für Politik vor einem Abgleiten in die Diktatur[34] und schlug vor, die verfassungsrechtliche Stellung des Kanzlers zu stärken.[35] In den Grundzügen entwarf er schon damals die Richtlinienkompetenz des Kanzlers und das konstruktive Misstrauensvotum. Der Kanzler sollte allein dem Parlament gegenüber verantwortlich sein, nicht auch die Minister (wie es die Weimarer Verfassung vorsah).[36] Des Weiteren schlug er vor, dass der Kanzler eine Karenzzeit von ca. einem Jahr haben sollte, um sein Regierungsprogramm durchzuziehen, ohne unter dem Druck zu stehen jederzeit abgewählt werden zu können. Nach diesem Jahr sollte der Kanzler wieder abwählbar sein. Rüstow versprach sich davon, dass politische Entscheidungen an ihren Konsequenzen beurteilt werden und die Entscheidungsfindung sich so versachliche.[37] Damit aus der verfassungsmäßig garantierten Freiheit auch eine tatsächlich gelebte Freiheit wird, müsse sich jeder einzelne Bürger auch politisch betätigen, zumindest in Form einer gedanklichen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemen.[38]
Werke
- Der Lügner. Theorie, Geschichte und Auflösung. Diss. phil. Erlangen, 1910. (PDF-online)
- Schutzzoll oder Freihandel? 1925.
- Das Für und Wider der Schutzzollpolitik. 1925.
- Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus. drei Auflagen mit wechselnden Titeln:
- Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem. In: Istanbuler Schriften. Nr. 12, Istanbul/Zürich/New York 1945.
- Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus. 2. Auflage. Bad Godesberg 1950.
- Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus : Das neoliberale Projekt. 3. überarbeitete und kommentierte Auflage. 2001 mit Register und Übersetzungen der französischen, lateinischen und griechischen Zitate, herausgegeben von Frank und Gerhard Maier-Rigaud, ISBN 3-89518-349-0.
- Zwischen Kapitalismus und Kommunismus. 1949.
- Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik. 3 Bände, 1950 - 1957.
- Band 1: Ursprung der Herrschaft.
- Band 2: Weg der Freiheit.
- Band 3: Herrschaft oder Freiheit?
- Wirtschaft und Kultursystem. 1955.
- Die Kehrseite des Wirtschaftswunders. 1961.
- Rede und Antwort. 21 Reden und viele Diskussionsbeiträge aus den Jahren 1932 bis 1963. Hrsg. von Walter Horch, 1963.
- Die Religion der Marktwirtschaft. mit einem Nachwort v. Sibylle Tönnies. 2. Auflage. Münster 2004, ISBN 3-8258-4848-5.
Weblinks
Commons: Alexander Rüstow – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien- Informationen zu Alexander Rüstow mit Literaturverzeichnis, Nachlass-Findbuch, Bild- und Tondokumenten
- Literatur von und über Alexander Rüstow im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Moltkes Denkschrift an Wilbrandt und Rüstow über die Zustände in Deutschland sowie den Warschauer Ghettoaufstand (9. Juli 1943)
- Alexander Rüstow: Starker Staat in schwierigen Zeiten, Bert Losse, Wirtschaftswoche, 11. März 2009
Einzelnachweise
- ↑ Andreas Renner: Die zwei „Neoliberalismen“. In: Fragen der Freiheit. Nr. Heft 26, Oktober/Dezember 2000
- ↑ Nils Goldschmidt, Michael Wohlgemuth, Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Mohr Siebeck, 2008, Tübingen, ISBN 978-3-16-148297-7, S. 10–12.
- ↑ Otto Schlecht, Grundlagen und Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, S. 8.
- ↑ Rudolf Wildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen- und Aussenpolitik, Band 6 von Demokratie und Frieden, Band 2 von Kölner Schriften zur politischen Wissenschaft, Westdt. Verlag, 1963, S. 80.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 15.
- ↑ Kollwitz, Käthe und Jutta Bohnke-Kollwitz: Die Tagebücher, Berlin, Siedler Verlag, 1989, ISBN 3-88680-251-5.
- ↑ Philip Mirowski, Dieter Plehwe: The Road From Mont Pelerin. 2009, ISBN 978-0-674-03318-4, S. 13.
- ↑ Wolfgang Köhler: Crash 2009 – Die neue Weltwirtschaftskrise. 1. Auflage. Mankau Verlag, 2009, ISBN 978-3-938396-31-5, S. 52.
- ↑ Wolfgang Köhler: Crash 2009 – Die neue Weltwirtschaftskrise. 1. Auflage. Mankau Verlag, 2009, ISBN 978-3-938396-31-5, S. 52.
- ↑ Wolfgang Köhler: Crash 2009 – Die neue Weltwirtschaftskrise. 1. Auflage. Mankau Verlag, 2009, ISBN 978-3-938396-31-5, S. 53.
- ↑ Joerg E. Schweitzer, Die Brennende Krise der Gegenwart – oder weder so noch so: Wilhelm Röpke, GRIN Verlag, 1. Auflage. 1998, ISBN 3-640-63482-9, S. 36.
- ↑ Katrin Meyer-Rust: Alexander Rüstow – Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993, ISBN 3-608-91627-X, S. 69.
- ↑ Katrin Meyer-Rust: Alexander Rüstow – Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993, ISBN 3-608-91627-X, S. 69.
- ↑ Jan Hegner: „Alexander Rüstow: ordnungspolitische Konzeption und Einfluss auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland“, Lucius & Lucius DE, 2000, ISBN 3-8282-0113-X, 12f.
- ↑ Helga Grebing und Walter Euchner: „Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland: Sozialismus - katholische Soziallehre - protestantische Sozialethik“, VS Verlag, 2005, ISBN 3-531-14752-8, S. 402f.
- ↑ Peter Ulrich: Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung. Haupt, Bern 2010, S. 157.
- ↑ Andreas Renner: Die zwei Neoliberalismen, in: Ingo Pies, Martin Leschke, Walter Euckens Ordnungspolitik, Mohr Siebeck, 2002, ISBN 3-16-147919-X, S. 176.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 83, 84.
- ↑ Walter Eucken Archiv: Vorwort von Walter Oswalt zu Walter Eucken, Die Religion der Marktwirtschaft, Lit-Verlag, 3. Auflage. (2009), ISBN 3-8258-4848-5, S. 8.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 70, 71
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 72, 73.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 73.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 76.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 79.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 43.
- ↑ Prof. Dr. Peter Ulrich, Marktwirtschaft als Rechtszusammenhang. Die Perspektive der integrativen Wirtschaftsethik in: ARSP, Wirtschaftsethik und Recht, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2001, ISBN 3-515-07899-1, S. 32, 33
- ↑ Prof. Dr. Peter Ulrich, Marktwirtschaft als Rechtszusammenhang. Die Perspektive der integrativen Wirtschaftsethik in: ARSP, Wirtschaftsethik und Recht, Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2001, ISBN 3-515-07899-1, S. 34.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 62.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 65.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 66.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 68.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 171.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 135.
- ↑ Daniela Rüther, Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft: die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler, Schöningh, 2002, ISBN 3-506-77529-4, S. 24.
- ↑ Evelyn Schmidtke, Der Bundeskanzler im Spannungsfeld zwischen Kanzlerdemokratie und Parteiendemokratie, Marbur, Tectum Verlag, 2001, ISBN 3-8288-8278-1, S. 39.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 49.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 50.
- ↑ Jan Hegner, Alexander Rüstow: Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2000, ISBN 3-8282-0113-X, S. 51.
Kategorien:- Militärperson (Preußen)
- Militärperson (Heer des Deutschen Kaiserreiches)
- Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich)
- Träger des Hausordens von Hohenzollern
- Soziologe (20. Jahrhundert)
- Ökonom (20. Jahrhundert)
- Person des Liberalismus
- Mitglied der Mont Pelerin Society
- Ordoliberalismus
- Deutschsprachiger Emigrant zur Zeit des Nationalsozialismus
- Deutscher
- Geboren 1885
- Gestorben 1963
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