Kurt von Schleicher

Kurt von Schleicher
Kurt von Schleicher. Aufnahme aus dem Jahr 1932

Kurt Ferdinand Friedrich Hermann von Schleicher (* 7. April 1882 in Brandenburg an der Havel; † 30. Juni 1934 in Neubabelsberg) war ein deutscher Offizier, zuletzt General der Infanterie, und Politiker. Von Anfang Dezember 1932 bis Ende Januar 1933 amtierte er als deutscher Reichskanzler.

Nachdem er im Kaiserreich der preußischen Armee angehört hatte, erreichte Schleicher in der Weimarer Republik eine Schlüsselstellung im Reichswehrministerium, wo er 1929 zum Chef des Ministeramtes ernannt wurde. Als Vertrauensmann des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg war er maßgeblich am Sturz der Regierung Müller im Frühjahr 1930 und der Installation der beiden Folgekabinette unter Heinrich Brüning (März 1930) und Franz von Papen (Juni 1932) beteiligt. Nachdem er unter Papen als Reichswehrminister amtiert hatte, folgte er diesem im Dezember 1932 als Kanzler nach. Sein Konzept einer Querfront-Regierung unter Spaltung der Nationalsozialisten scheiterte rasch. Die von Schleicher daraufhin anvisierte Auflösung des Reichstages ohne Neuwahlen, d. h. einen Staatsstreich, lehnte Hindenburg ab, woraufhin Schleicher am 28. Januar 1933 demissionierte und sich ins Privatleben zurückzog. Am 30. Januar 1933 wurde an seiner Stelle Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Schleicher wurde eineinhalb Jahre später während des sogenannten Röhm-Putsches erschossen.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Aufstieg

Schleicher als junger Leutnant (1900)

Kurt von Schleicher kam 1882 als Sohn des preußischen Offiziers Hermann Friedrich Ferdinand von Schleicher (1853–1906) und dessen Ehefrau Magdalene (1857–1939), geborene Heyn, der Tochter einer begüterten Reedersfamilie aus Ostpreußen, zur Welt. Er hatte eine ältere Schwester, Thusnelda Luise Amalie Magdalene (1879–1955), und einen jüngeren Bruder, Ludwig-Ferdinand Friedrich (1884–1923), der zeitweise als Farmer in Kanada lebte.

Von 1896 bis 1900 absolvierte er die Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde bei Berlin. Am 22. März 1900 wurde er zum Leutnant befördert und zum 3. Garde-Regiment zu Fuß (5. Kompanie) abkommandiert. Dort lernte er unter anderem Oskar von Hindenburg, den Sohn des späteren Reichspräsidenten, Kurt von Hammerstein-Equord, den späteren Chef der Heeresleitung (1930–34), und Erich von Manstein, Generalfeldmarschall im Zweiten Weltkrieg, kennen. Vom 1. November 1906 bis zum 31. Oktober 1909 diente er als Adjutant des Füsilier-Bataillons bei seinem Regiment. Nach seiner Ernennung zum Oberleutnant am 18. Oktober 1909 wurde er zur Kriegsakademie abkommandiert, nach deren Absolvierung am 24. September 1913 unmittelbar zum Großen Generalstab kommandiert, wo er auf eigenen Wunsch der Eisenbahn-Abteilung unter Oberstleutnant Wilhelm Groener zugeteilt wurde, der ihn in den folgenden knapp zwanzig Jahren unablässig förderte und maßgeblichen Anteil an der Karriere seines „Wahlsohnes“ (so Groeners Testament vom April 1934) Schleicher hatte. Hier lernte er unter anderem den späteren General Joachim von Stülpnagel und späteren Oberst Bodo von Harbou kennen.

Am 18. Dezember 1913 zum Hauptmann befördert, war Schleicher mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914 im Stab des Generalquartiermeisters tätig. Während dieser Zeit lernte er seinen späteren engen Freund und Mitarbeiter Erwin Planck kennen. Erstes politisches Aufsehen erregte er, als er während der Schlacht von Verdun 1916 eine Denkschrift verfasste, in der er sich gegen die übergroßen Gewinne bestimmter Industriekreise wandte, die er als „Kriegsgewinnler” brandmarkte. Die Denkschrift kursierte in diesem Jahr in den führenden politischen Kreisen der Hauptstadt, in denen sie als Sensation galt, und gelangte unter anderem in die Hände des SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert, dessen nachdrückliche Zustimmung sie fand. Schleicher gelangte so in den Ruf liberaler und sogar ausgesprochen sozialer Gesinnung.[1]

Am 23. Mai 1917 verließ er für kurze Zeit den Stab und wurde als Erster Generalstabsoffizier zur 237. Division versetzt. Mitte August kehrte er zum Stab des Generalquartiermeisters zurück. Die Ernennung zum Major erfolgte am 15. Juli 1918.

Bei Kriegsende 1918 unterstützte er das Bündnis zwischen Armeeführung und Sozialdemokratie. Durch den von seinem Vorgesetzten Wilhelm Groener und ihm initiierten und telefonisch abgeschlossenen Ebert-Groener-Pakt wurden zum Beispiel Friedrich Ebert und Otto Wels aus den Händen aufständischer Matrosen gerettet. Der Pakt bedeutete einerseits eine gewisse Stabilität für die neue Republik und andererseits eine Trennung von Staat und Militär. In der Folge der Zeit entwickelte sich die Reichswehr, unter großem Zutun von Schleicher, zu einem Staat im Staate. 1919 übernahm er die Leitung des politischen Referats im Truppenamt und avancierte zum engen Mitarbeiter und Berater des Chefs der Heeresleitung General Hans von Seeckt. Ende 1920 entwickelte Schleicher sein politisches Credo, dem er nach Aussage seines Mitarbeiters Eugen Ott bis zu seinem Rücktritt als Reichskanzler treu blieb. Vorrang hatten darin die Wiederherstellung bzw. Stärkung der Staatsgewalt, die Sanierung der Wirtschaft und die Restitution der äußeren Macht durch Revision des Versailler Vertrags.[2]

1923 hatte Schleicher maßgeblichen Anteil an der Organisation der Beilegung der Staatskrise dieses Jahres – kommunistische Aufstände in Thüringen und Sachsen, Hitlerputsch in Bayern und anderes – mit Hilfe des Notstandsartikels der Weimarer Verfassung. Nach der Beförderung zum Oberstleutnant am 1. Januar 1924 und Verwendung in der Heeres-Abteilung wurde er im Februar 1926 Chef der neugegeschaffenen Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium und kurze Zeit später zum Oberst befördert. Im Zuge der Umbildung der Wehrmachtsabteilung in das Ministeramt wurde er am 29. Januar 1929 vorzeitig zum Generalmajor befördert.

Chef des Ministeramtes

Am 1. Februar 1929 machte ihn sein langjähriger Mentor Wilhelm Groener, der 1928 Reichswehrminister geworden war, zu seinem Chef des Ministeramts, was dem Staatssekretär in anderen Ministerien entsprach. Damit war er der einzige Offizier in der preußisch-deutschen Geschichte, der eine Spitzenposition erreichte, ohne je ein Front- oder Truppenkommando innegehabt zu haben.[3] Schleicher verstand sein Amt von Anfang an politisch und entwickelte eine politische Strategie für einen Rechtsschwenk. Als zentrales politisches Problem sah er die SPD an, auf die sich bei den gegebenen Mehrheiten jede Reichsregierung stützen musste und die in Preußen den Ministerpräsidenten stellte. Wegen der Agitation dieser Partei gegen den Panzerkreuzer A und wegen ihrer Behinderung der illegalen Aufrüstung, die im östlichen Preußen unter dem Decknamen des Grenz- bzw. Landesschutz betrieben wurde, glaubte Schleicher, die Reichswehr könne mit der SPD nicht mehr zusammenarbeiten: Im sozialdemokratisch geführten Reichsinnenministerium unter Carl Severing etwa sah er lauter „wehrfeindliche Giftmänner“ am Werk.[4][5] Daher wollte er sie sowohl in Preußen als auch auf Reichsebene aus der Regierungsverantwortung verdrängen, wo sie, wie er befürchtete, nicht in der Lage sein würde, die Sparmaßnahmen durchzuführen, die mit dem Youngplan notwendig sein würden. Schleicher konzipierte nun die Möglichkeit eines „Hindenburg-Kabinetts“ ohne die SPD. Bereits im Dezember 1929 hatte Schleicher im Gespräch mit dem volkskonservativen Gottfried Treviranus und dem Staatssekretär in der Reichskanzlei Hermann Pünder als neuen Kanzler den konservativen Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, Heinrich Brüning, ins Auge. Er sollte ein Minderheitenkabinett leiten, das nur vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig sein würde. Die verfassungsrechtlich weiterhin nötige Mehrheit im Reichstag hoffte man über eine Sammlung aller bürgerlichen Kräfte zu erreichen, für die Treviranus durch die von ihm eingeleitete Spaltung der Deutschnationalen Volkspartei eine Schlüsselrolle spielte.[6]

Der Plan ging nur halb auf: Zwar wurde Brüning am 30. März 1930 wie von Schleicher geplant Kanzler eines Minderheitskabinetts, das wie geplant mit dem Notverordnungsartikel 48 regierte, bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 scheiterte die erhoffte Stärkung der rechten Mitte. Die von Treviranus erhoffte bürgerliche Sammlungspartei war nicht zustande gekommen, seine Volkskonservativen blieben unter einem Prozent; zweitstärkste Partei wurde vielmehr die NSDAP. Brüning musste sich zur Enttäuschung der Reichswehr und des Reichspräsidenten auf eine Tolerierung durch die Sozialdemokraten einlassen.

Schleicher entwickelte nun einen neuen Plan: Er wollte die neue Massenpartei an den Staat heranführen, sie dadurch zähmen und als Massenbasis für ein echtes Präsidialkabinett nutzen. In Regierungsverantwortung würde sich der Radikalismus der Nationalsozialisten bald abnutzen. Außerdem wollte er die millionenstarke SA gemeinsam mit anderen Wehrverbänden in eine staatliche Dachorganisation führen, um sie so zur raschen personellen Aufrüstung der Reichswehr nutzen zu können. Im März 1931 begann Schleicher mit dem Stabschef der SA Ernst Röhm diesbezügliche Verhandlungen.[7] Diese Pläne zerschlugen sich, als Groener, der in der Zwischenzeit auch Innenminister geworden war, unter massivem innenpolitischem Druck der Länder, die SA verbieten ließ. Weil Groener immer noch Reichswehrminister war, befürchtete Schleicher nun, dass sich die Reichswehr auf die Seite der republiktreuen Kräfte gegen die Nationalsozialisten stellen würde: Damit wäre ihre seit 1920 angestrebte Überparteilichkeit ebenso verloren wie die Aussichten, eine von der SPD unabhängige Regierung zu installieren und die NSDAP zu zähmen. Schleicher, der im Oktober zum Generalleutnant befördert worden war, begann nun, gegen Groener und Brüning zu intrigieren, von dem er nicht mehr erwartete, dass er sich von den Sozialdemokraten würde lösen können. Am 28. April 1932 begann er Geheimverhandlungen mit Hitler, der ihm zusagte, eine neue Regierung parlamentarisch zu tolerieren, wenn es dafür Neuwahlen gäbe und das SA-Verbot aufgehoben würde. Ohne eine schriftliche Zusage Hitlers ließ sich Schleicher darauf ein.

Diese Absprachen erleichterten den Sturz sowohl von Groener als auch von Brüning. Nach einer verunglückten Reichstagsrede Groeners zwang Schleicher am 12. Mai 1932 seinen alten Förderer mit der Mitteilung, die Generalität inklusive seiner Person werde andernfalls geschlossen zurücktreten, aus dem Amt.[8] Joseph Goebbels notierte zufrieden in sein Tagebuch: „Wir bekommen Nachricht von General von Schleicher: Die Krise geht programmgemäß weiter“.[9] Als nächstes ermunterte Schleicher DNVP und Reichslandbund dazu, bei Hindenburg gegen Brünings Agrarpolitik zu protestieren, die sie als „Vorfrucht des Bolschewismus“ denunzierten.[10] Hindenburg ließ den Kanzler daraufhin fallen. Als Nachfolger hatte Schleicher den Rechtsaußen der Zentrumspartei Franz von Papen ausersehen, mit dem er seit der gemeinsamen Generalstabsausbildung befreundet war. Von Papens Befähigung zum Amt hielt er nichts: Auf die erstaunte Bemerkung, Papen sei doch kein Kopf, soll er erwidert haben: „Das soll er ja auch nicht sein. Aber er ist ein Hut.“[11]

Reichswehrminister

Das Kabinett Papen. Kurt von Schleicher steht in der zweiten Reihe rechts außen.

Am 1. Juni 1932 wurde Schleicher als General der Infanterie verabschiedet, um im Kabinett von Papen parteiloser Reichswehrminister werden zu können. Wie abgesprochen, löste die neue Regierung den Reichstag auf und hob das SA-Verbot auf. Im Wahlkampf explodierte die Gewalttätigkeit der wieder legalisierten SA, Deutschland schien am Rande eines Bürgerkriegs zu stehen.[12] Die Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 machten die NSDAP zur stärksten Partei. Nach dem für viele enttäuschenden Verhandlungsergebnis, das Papen auf der Konferenz von Lausanne erreicht hatte, fühlte sich Hitler aber nicht an seine Zugabe gebunden, dessen Regierung zu tolerieren.[13] Bei Verhandlungen, die er mit Schleicher am 6. August 1932 führte, wies er dessen Angebot, als Vize-Kanzler ins Kabinett zu gehen, zurück und beanspruchte das Amt des Reichskanzlers für sich. Schleicher willigte ein und organisierte ein gemeinsames Gespräch mit dem Reichspräsidenten, der sich am 13. August 1932 aber entschieden weigerte, Hitler die Führung der Regierung zu überlassen. Das Kabinett Papen hatte somit keine Aussicht auf eine Mehrheit, wie die Eröffnungssitzung des Reichstags am 12. September mit aller Deutlichkeit zeigte: Für die Regierung stimmten 42 Abgeordnete, gegen sie 512. Die erneute Auflösung des Reichstags war die Folge.

Kurt von Schleicher (rechts) mit Franz von Papen als Zuschauer bei einem Pferderennen in Berlin-Karlshorst, 1932.

Noch gab Schleicher seine Zähmungspolitik nicht auf. Ein „Reichskuratorium für Jugendertüchtigung“ wurde gegründet, das die Wehrsportaktivitäten aller Wehrverbände, also auch der SA, koordinieren und unter Kontrolle des Staates stellen sollte, Hintergrund war die im Februar 1932 eröffnete Genfer Abrüstungskonferenz, von der sich die Deutschen rüstungspolitische Gleichberechtigung mit den Siegermächten erhofften. War diese erreicht, wollte man das große Reservoir der SA, die militärisch immerhin über eine Grundbildung verfügte, zu einer raschen Aufrüstung nutzen, wie sie das im Frühjahr 1932 von der Reichswehr beschlossene Zweite Rüstungsprogramm vorsah: Demnach sollte bis 1938/39 ein Feldheer von 21 Divisionen plus 39 Grenzschutzverbänden entstehen. Damit wäre die Reichswehr auf das Vierfache des im Versailler Vertrag Zugelassenen angewachsen und hätte zahlenmäßig mit der französischen Armee gleichgezogen.[14]

Die Neuwahl des Reichstags am 6. November brachte erwartungsgemäß keine Mehrheit für Papen, der daher am 17. November seinen Rücktritt einreichte. Im Kabinett gab es Stimmen, die sich für Schleicher als Nachfolger aussprachen, doch Hindenburg zog es am 1. Dezember 1932 vor, erneut Papen mit der Regierungsbildung zu beauftragen und deutete an, dass er den Reichstag erneut auflösen wolle, diesmal ohne Neuwahlen. Schleicher ließ daraufhin seinen Vertrauten Oberstleutnant Ott im Kabinett die Ergebnisse eines Planspiels präsentieren, das für den Fall eines Bürgerkrieges, den ein offener Bruch der Reichsverfassung durch die Regierung nach sich ziehen würde, eine Unterlegenheit der Reichswehr unter die Kräfte von SA und KPD vorhersagte. Die versammelten Minister verweigerten Papen daraufhin die Gefolgschaft und Hindenburg ernannte am 3. Dezember 1932 Schleicher zum Reichskanzler.[15] Papen vergaß seine Ausbootung durch Schleicher nie. Aus vormals guten Freunden wurden politische Gegner.

Reichskanzler

Trotz des Versuches der Umsetzung des Querfront-Konzeptes von Hans Zehrer und des Versuches einer Spaltung der NSDAP mit Unterstützung von Gregor Strasser gelang es ihm nicht, seine Politik auf eine stabile politische Basis zu stellen. Auch die finanzielle Unterstützung (aus Geldern der Reichswehr) und der Vossischen Zeitung (Redakteur war Zehrer) brachte keine bessere Reputation bei der Bevölkerung. Einerseits wurde er aufgrund seines Querfront-Konzeptes (u. a. Einbindung der Arbeiterinteressen und deren politischen Vertretung) von der Rechten als „roter General“ verspottet, andererseits von den Linken unter anderem aufgrund des Preußenschlages als reaktionäre Person betrachtet. Ein Schreiben an den Kronprinzen vom 27. Dezember 1932 gibt die politischen Spannungen und die drohende politische Entmachtung Schleichers präzise wieder: „In Berlin scheint sich eine Front zu bilden Stülpnagel – Papen – Hitler mit dem Ziel, den Kanzler über den Präsidenten zu stürzen und zwar noch vor Neuwahlen.“[16]

Der Öffentlichkeit aber entgingen diese politische Entwicklungen am Ende des Jahres 1932. Vielmehr sah man Adolf Hitler zusammen mit seinen Nationalsozialisten aus dem politischen Alltag verschwinden bzw. dem politischen Niedergang entgegen streben. So meinte der Deutschlandkorrespondent der New York Times zu dieser Zeit, dass Hitler „seine Chance wohl verpasst“ habe und nun als bayerischer Provinzpolitiker enden würde.[17] In einem Leitartikel der Frankfurter Zeitung stand zum Jahreswechsel: „Die härteste Notzeit Deutschlands ist überwunden, und der Weg aufwärts ist nunmehr frei […] Der gewaltige nationalistische Angriff auf den Staat ist abgeschlagen“.[18]

Kurt von Schleicher als Reichskanzler

Politische Beobachter der Zeit bemerkten aber die Dualität der Entwicklungen. Heinrich Brüning bemerkte zu der aktuellen politischen Situation: „Die Gefahren für Schleicher wuchsen, obwohl äußerlich sein Prestige nicht abnahm. Im Gegenteil: Durch seine außerordentlich geschickte Form der Konversation gelang es ihm nicht nur, mehr und mehr die gesamte Linkspresse einzufangen und Einfluss bei den Gewerkschaften zu gewinnen, sondern auch einzelne Persönlichkeiten aus dem Zentrum durch Versprechungen und Appelle an ihren Ehrgeiz für sich einzunehmen. Namentlich Imbusch und andere“.[19] Wie gefährlich die Zeiten für Schleicher wirklich waren, gibt ein Tagebucheintrag von Goebbels wieder: „[…] es besteht die Möglichkeit, dass der Führer in einigen Tagen eine Unterredung mit Papen hat. Da eröffnet sich eine neue Chance“.[20]

Hinter Schleichers Rücken verhandelte Papen im Auftrag von Hindenburg mit Hitler über dessen Berufung zum Reichskanzler. Entscheidend für die Demissionierung war das „Kölner Gespräch“ am 4. Januar 1933 im Hause des Kölner Bankiers Baron von Schröder. Dort einigten sich Hitler und von Papen auf die Grundsätzlichkeiten einer gemeinsamen Regierungszusammenarbeit. Da der Journalist Hellmuth Elbrechter, ein Vertrauter Schleichers und Gregor Strassers, bereits im Vorfeld von der geplanten Zusammenkunft Papens und Hitlers erfuhr, konnte er einen Fotografen nach Köln schicken, dem es gelang, die Beteiligten beim Betreten von Schröders Haus abzulichten. Noch am Abend desselben Tages legte Ellbrechter Schleicher die Fotos vor.

Am 5. Januar titelte die Tägliche Rundschau: „Hitler und Papen gegen Schleicher.“[21] Zwei Tage später erschienen in derselben Zeitung weitere Artikel zu dem Treffen in Köln mit den Titeln „Der Gegenstoß der Wirtschaft“ und „Das Geheimnis um den Kölner Querschläger“. Dort wird ziemlich genau beschrieben, wer der Initiator und die treibende Kraft bei der Zusammenführung von Hitler und von Papen gewesen ist. „Der Veranlasser der Unterredung Hitler–Papen ist als die rheinisch-westfälische Industrie-Gruppe um den Stahlhelm[22] zu identifizieren.

Mehrere improvisierte Versuche Schleichers, seine Position zu halten, scheiterten. Versuche, den Führer der DNVP Alfred Hugenberg auf seine Seite zu ziehen, kamen ebenso wenig zum Tragen wie eine nachträgliche Einbindung Gregor Strassers, dessen heimliches Zusammentreffen mit Hindenburg er arrangierte, in die Regierung. Die Bitte Schleichers an Hindenburg, ihm die Vollmacht zur Auflösung des Reichstages ohne die Ausschreibung von Neuwahlen innerhalb der nächsten zwei Monate zu gestatten (wie es die Verfassung vorschrieb), und so den Druck der regierungsfeindlichen Mehrheitsverhältnisse im Parlament abzuschütteln, wurde vom Reichspräsidenten abgelehnt. Vorschläge aus Schleichers Umfeld, der sich anbahnenden Entmachtung durch den Reichspräsidenten durch einen Staatsstreich zuvorzukommen, wie sie insbesondere von Eugen Ott und Heereschef von Hammerstein („Jetzt müssen Sie die Reichswehr einsetzen, sonst gibt es für das ganze Deutschland ein Unglück“[23]) befürwortet wurden, wies Schleicher von sich.[24] Mit ein Grund für Schleichers fehlende Kampfbereitschaft in dieser entscheidenden Phase soll einigen Zeitzeugen zufolge sein angeblich chronisch geschwächter Gesundheitszustand gewesen sein: So berichtet Fritz Günther von Tschirschky, dass Walter Schotte, der Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“, der denselben Hausarzt wie Schleicher konsultierte, von diesem Ende 1932 „unter dem Siegel der Verschwiegenheit“ erfahren habe, dass Schleicher an Anämie leide. Bereits 1930 habe der Hausarzt, so Schotte, Schleicher „eröffnen müssen“, dass er ihm, „wenn er das angespannte Leben unter großer Verantwortung wie bisher weiterführe, […] als Arzt nur noch sechs Jahre“ geben könne.[25] Ottmar Katz, der Biograph von Hitlers späterem Leibarzt Theodor Morell behauptete – etwas präziser werdend – Schleicher habe an perniziöser Anämie gelitten und sei dadurch „gesundheitlich schwer beeinträchtigt“ gewesen.[26]

Schleicher erklärte am 28. Januar 1933 nach einem Gespräch mit Hindenburg den Rücktritt seiner Regierung und empfahl dem Reichspräsidenten, Hitler zu seinem Nachfolger zu ernennen.[27][28] Reichspräsident Hindenburg antwortete daraufhin dem General: „Ich danke Ihnen, Herr General, für alles, was Sie für das Vaterland getan haben. Nun wollen wir mal sehen, wie mit Gottes Hilfe der Hase weiterläuft.“[29] Franz von Papen übernahm im offiziellen Auftrag des Reichspräsidenten Hindenburg die Regierungsverhandlungen und brachte sie am 30. Januar zu einem Abschluss.

Leben nach der Reichskanzlerschaft (1933–1934)

Schleicher im Februar 1933 am Eingang zu seiner Dienstwohnung im Reichswehrministerium.

Nach seiner Demission als Reichskanzler zog Schleicher sich zunächst ins Privatleben zurück. Seine Dienstwohnung im Reichswehrministerium musste er auf Drängen seines Nachfolgers als Reichswehrminister, Werner von Blomberg, bereits im Februar räumen.

Gemeinsam mit seiner Ehefrau Elisabeth von Schleicher, die er 1931 geheiratet hatte, einer geschiedenen Frau seines Vetters Bogislav, mit deren Tochter, seiner langjährigen Haushälterin Marie Güntel und einem Chauffeur zog er in eine Villa im Potsdamer Stadtteil Neubabelsberg. In den nächsten siebzehn Monaten widmete er sich vor allem privaten Dingen: So söhnte er sich mit seinem politischen Ziehvater Groener aus, mit dem er sich 1932 im Zusammenhang mit einem Kursstreit innerhalb der Regierung Brüning überworfen hatte, und unternahm einige Reisen mit seiner Ehefrau.

Bei den neuen Machthabern fiel Schleicher durch wiederholte Missfallensbekundungen im gesellschaftlichen Kreis auf. So äußerte er sich mehrfach in negativer Weise über die politischen Ereignisse seit dem Januar 1933 und gab abfällige Einschätzungen über die maßgebenden Männer des neuen Regimes von sich. Persönliche Freunde wie der französische Botschafter André François-Poncet[30] und der Diplomat Werner von Rheinbaben[31] ließen ihm deswegen Warnungen zukommen, in denen sie ihn zur Vorsicht mahnten. Die Bitte Eugen Otts, ihn für eine Weile in Japan zu besuchen, bis die politischen Wogen sich in Deutschland geglättet hätten, lehnte Schleicher mit der Begründung ab, dass er als „preußischer General“ nicht „landesflüchtig“ werden könne.

Ermordung

Schleicher mit seiner Ehefrau. Aufnahme aus dem Jahr 1931

Am 30. Juni 1934 wurde Schleicher im Zuge der unter der Propagandabezeichnung „Röhm-Putsch“ bekannt gewordenen politischen Säuberungswelle ermordet. Am Vormittag dieses Tages wurde Schleicher gemeinsam mit seiner Ehefrau von dem Angehörigen des SS-Nachrichtendienstes Johannes Schmidt im Büro seiner Villa in Neubabelsberg erschossen.[32] Die Untersuchungen der Mordkommission wurden auf Anweisung des Potsdamer Polizeipräsidenten Graf von Helldorf eingestellt, die Leichen von der Gestapo beschlagnahmt und eingeäschert. Die Urne mit Schleichers (angeblichen) Überresten wurde schließlich auf dem Parkfriedhof Lichterfelde, Thunerplatz 2–4, beigesetzt. Die Grabstätte gehört zu den Ehrengräbern des Landes Berlin.

Die einzige Augenzeugin des Mordes, Marie Güntel, ertrank 1935 im Heiligen See in Potsdam. Die offizielle Version, dass sie sich aus Kummer über das Schicksal der Familie Schleicher selbst das Leben genommen hätte, wurde dabei von einigen Personen aus ihrem Umkreis angezweifelt.[33]

Die Täter und die Auftraggeber für den Mord an Schleicher konnten bis heute nicht identifiziert werden. Als Initiatoren der Tat werden üblicherweise Adolf Hitler, Hermann Göring, Heinrich Himmler oder Reinhard Heydrich (oder eine Kombination von zwei oder drei von diesen oder von allen vieren zusammen) angenommen. Gegen die These, dass alle vier in den Mordplan involviert waren, spricht allerdings, dass einige Stunden nach der Ermordung Schleichers ein zweites Einsatzkommando in seinem Haus erschien, um ihn zu verhaften. Hans-Otto Meissner, der Sohn von Hindenburgs Staatssekretär Otto Meissner, berichtet in seinen Memoiren, dass Hitler später seinem Vater gegenüber „mit starkem Nachdruck behauptet“ habe, „er hätte mit dem bedauernswerten Unglück [der Ermordung Schleichers] absolut nichts zu tun“ gehabt.[34] Der ältere Meissner habe seinem Sohn außerdem später erzählt, wie Göring ihm, Meissner senior, nach dem Kriege, während ihrer gemeinsamen Internierung durch die Amerikaner, versichert habe, es habe „nicht die Absicht bestanden, Schleicher zu verhaften oder gar zu erschießen“. Dies hätten „andere Leute“ getan. Hitler sei über die Liquidation Schleichers schon deswegen sehr erbost gewesen, weil er die Reichswehr als „Stütze seiner Diktatur“ gebraucht habe und ihm die Erschießung daher „nicht in sein Konzept“ gepasst habe.[34]

Als Anlass für den Mord an Schleicher werden in der Forschung mehrere Motive diskutiert. Das am häufigsten vermutete Motiv ist der angebliche Wunsch der nationalsozialistischen Funktionäre, sich an ihrem Widersacher aus der „Kampfzeit“ zu rächen. Ein zweiter häufig ins Feld geführter Gedanke ist die Überlegung, dass seitens der nationalsozialistischen Machthaber die Furcht bestanden habe, Schleicher könnte dem Regime noch immer gefährlich werden. Für diese These spricht unter anderem die von Schleicher selbst Ende 1933 geäußerte Hoffnung, dass „man [gemeint war wahrscheinlich Hindenburg] ihn noch einmal rufen werde, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen“, nachdem die nationalsozialistischen Führer, so seine Erwartung, abgewirtschaftet haben würden. Außerdem verfügte Schleicher 1934 noch immer über eine kleine aber mächtige Anhängerschaft in der Reichswehrführung, zu der unter anderem der Generaloberst Kurt von Hammerstein-Equord zählte. Als drittes mögliches Motiv, Schleicher ins Visier zu nehmen, wird häufig die eventuelle Absicht der Urheber der Mordaktionen vom 30. Juni/1. Juli 1934 angenommen, durch das Töten von Vertretern oppositioneller Kreise jeder Schattierung nach „allen Richtungen abschreckend zu wirken“. Durch die Ermordung von Gegnern aus den unterschiedlichsten oppositionellen Lagern, von der publizistischen Linken über den politischen Katholizismus bis hin zur konservativen Rechten, von Beamten über Journalisten bis zum Militär, hätte das „Signal“ ausgesandt werden sollen, dass keine Gruppe vor dem Zugriff des Regimes sicher sei und dass deswegen niemand glauben sollte, es gäbe sichere „Nischen“, aus denen man Widerstand wagen könnte.

Freunde und Vertraute

Im Reichswehrministerium

Ehrengrab, Thuner Platz 2-4, in Berlin-Lichterfelde
  • Ferdinand von Bredow: Chef der Abwehr-Abteilung im Reichswehrministerium, von Juni 1932 bis Januar 1933 außerdem Chef des Ministeramts im Reichswehrministerium. Zentraler Mitarbeiter Schleichers und Leiter seines Nachrichtendienstes
  • Kurt von Hammerstein-Equord: seit 1930 Chef der Heeresleitung, ehemaliger Regimentskamerad und persönlicher Freund Schleichers
  • Ferdinand Noeldechen: Von 1926 bis 1933 Adjutant Schleichers
  • Eugen Ott: Von 1931 bis 1933 Chef der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium. In dieser Eigenschaft maßgeblich an der Organisation der Politik Schleichers beteiligt

weitere Regierungsstellen

  • Erwin Planck, 1932/33 Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei, Freund von Schleicher
  • Erich Marcks, seit August 1932 leitete er die Pressestelle der Reichsregierung als Reichspressechef

Freundeskreis und Dritte

  • Carl Schmitt, Kontakt lief über Erich Marcks und Eugen Ott, der einen Schüler Carl Schmitts, Horst Michael, kannte: „Schleicher nutze die Verbindung über Ott zu Schmitt gern. Carl Schmitts Veröffentlichungen ließen sich gut zur rechtlichen Absicherung von Maßnahmen benutzen, die Schleicher durchsetzen wollte.“[35]
  • Kronprinz Wilhelm von Preußen, ein Duzfreund Schleichers, mit dem er einen regelmäßigen Briefwechsel führte.[36]

Beurteilung durch Zeitgenossen und Nachwelt

Von 1929 bis 1932 spielte Schleicher eine der breiten Öffentlichkeit kaum sichtbare Rolle im politischen Bühnenhintergrund, die ihn in diesen Jahren zu einem der mächtigsten Männer Deutschlands machte. Die eigentliche Quelle von Schleichers Macht war dabei das Vertrauen des Reichspräsidenten von Hindenburg, der sich in den Jahren 1929 bis 1932 häufig auf die Ratsbeschlüsse seines „lieben jungen Freundes“, wie er Schleicher nannte, verließ. So gab Hindenburg dem Kanzler Brüning anlässlich von dessen Ernennung zum Regierungschef im Frühjahr 1930 die Belehrung mit auf dem Weg: „Halten Sie sich an den General von Schleicher. Das ist ein kluger Mann und versteht viel von der Politik.[37]

Hans-Otto Meissner zufolge, der als Sohn des Staatssekretärs im Büro Hindenburgs – Otto Meissner – das Wirken Schleichers aus nächster Nähe beobachten konnte, schätze Hindenburg Schleicher „erstmals als klugen Kopf und fleißigen Offizier aus dem Großen Hauptquartier während des Krieges. Außerdem stammte der Generalfeldmarschall aus dem gleichen Friedensregiment […] [wie Schleicher], was seinerzeit viel bedeutete.[1] In den Jahren von 1919 bis 1929 habe Schleicher sich eine vorläufig beinahe unsichtbare Machtposition als rechte Hand jedes Reichswehrministers von Noske bis Groener aufgebaut: „Weil er sich nicht in Vordergrund drängte, sondern sich mit dem Wirken aus den Kulissen zufriedengab, geriet er nie in Gefahr, wenn wieder einer der Wehrminister das Feld räumen musste – Schleicher saß fest im Sattel.

Im Gegensatz zu dem Vertrauen, das Hindenburg Schleicher entgegenbrachte, stand das Misstrauen, mit dem weite Teile der deutschen Öffentlichkeit Schleicher gegenüberstanden: Von der kommunistischen Linken und Teilen der Sozialdemokratie als Vertreter der „Gegenrevolution“, wurde Schleicher in konservativen Kreisen ironischerweise – insbesondere während seiner Kanzlerschaft – als „roter General“ abgelehnt. Von den Zeitgenossen und der Nachwelt immer wieder zitiert wurden Schleichers angebliche Intrigenfreudigkeit und Verschlagenheit. So galt er in der Öffentlichkeit als eine „feldgraue Eminenz“, die aus dem Zwielicht heraus die Fäden der deutschen Regierung ziehe. Der Exilant Sebastian Haffner beschrieb Schleicher 1939 in diesem Sinne als einen „intrigenfreudigen Bürogeneral“, der an der Spitze einer „sphinxhaften“ Armee gestanden habe.[38] Englischsprachige Beobachter wie John Wheeler-Bennet[39] oder Sefton Delmer[40] weisen wiederum immer wieder einmal ihre Leser genüsslich darauf hin, dass der Name Schleicher für deutsche Ohren klinge wie das englische Wort creeper für englische. Die Insinuation ist dabei stets, dass „Schleicher“ ein sprechender Name sei, der den Charakter seines Trägers auf das beste nach außen sichtbar mache.

Diesen breitgetretenen Negativbildern stehen jedoch auch einige Positivwahrnehmungen gegenüber. So meinte der rechtsnationale Journalist Hans Zehrer in den frühen 1930er Jahren in Schleicher den „kommenden Mann“ erkennen zu können. Im Rückblick urteilte Zehrer, der General habe als einziger ein Konzept gehabt, um das Aufkommen des Nationalsozialismus zu verhindern. „Er habe auf die ultima ratio, den Kampf hingesteuert“ und das „politische Alphabet“ von vorn beginnen und eine neue Verfassung setzen wollen. Gescheitert, so Zehrer, sei Schleicher – den er als „Typus des musischen Militärs sah“ – schließlich nicht am Nationalsozialismus. Er sei gescheitert an den einzigen Dingen, die er nicht zu brechen vermochte, die gar nicht zu brechen waren, an persönlichen Dingen.[41]

In der Reichswehr selbst war er umstritten: Zwar hatte Schleicher in der Führung der Armee einige einflussreiche Sympathisanten, in der Truppe selbst stieß der „Bürogeneral“, den viele Militärs als unsoldatische Erscheinung betrachteten, auf weitreichende Ablehnung. Hindenburgs Pressechef Walter Zechlin fasste dies mit den Worten zusammen: „In der Armee gilt Schleicher nichts, er ist ein Bürogeneral, den sie [die Reichswehr] ablehnt.[42] General Wilhelm Keitel brachte die Meinung vieler seiner Offizierskollegen zum Ausdruck, als er nach dem Zweiten Weltkrieg Schleicher als eine „Katze“ beschrieb, „die das politische Mausen“ nicht habe lassen können.[43]

Anders als die Lauterkeit seiner Absichten wurden Schleichers glänzende intellektuelle Fähigkeiten kaum bestritten: Bereits 1918 bemerkte Oberst Albrecht von Thaer über den jungen Schleicher, damals erst ein Hauptmann, dieser sei „ein Kapitel für sich […]: fabelhaft klug, vielseitig gewandt und gebildet, gerissen und mit einem Berliner Mundwerk (Schnauze) begabt“.[44] Und sogar Fritz Günther von Tschirschky, ein Mitarbeiter Papens, der angab, dass Schleicher ihm „durchaus unsympathisch“ war, gestand dem General nach dem Zweiten Weltkrieg zu: „Schleicher scheiterte nicht an den Nazis. Er scheiterte an etwas, das er nicht zu berechnen vermochte, das aber auch gar nicht zu berechnen war, nämlich an sich selbst.“[45]

Die Meinungen zu Schleichers Plänen und den Hintergedanken, die er verfolgte, gehen weit auseinander. Während Günther Gereke in seinen Memoiren hervorhebt, dass es ihm „imponiert“ habe und durchaus zur Tolerierung der Republik und Verfassung bereit gewesen sei[46], interpretierten die sozialistischen Schriftsteller Kurt Caro und Walter Oehme „Schleichers Aufstieg“ 1932 programmatisch als einen Ausdruck der „Gegenrevolution“.[47]

In der historischen Forschung lassen sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwei dominante Bewertungsstränge mit Blick auf die Person Schleichers feststellen: Der erste bewertet Schleicher im Ganzen positiv und deutet ihn – wie der programmatische Titel einer Schleicher-Biografie aus den 1980er Jahren lautet – als Weimars letzte Chance gegen Hitler. Der zweite Strang erkennt im krassen Gegensatz dazu in Schleicher eine Unheilsfigur und einen der Hauptschuldigen für die Zerstörung der Weimarer Republik. Die Vertreter dieser Linie sehen in Schleicher einen jener politischen Kavaliere, die durch ihr politische Wühlarbeit die Weimarer Republik morsch gemacht und die Machtergreifung durch den Nationalsozialismus überhaupt erst in den Bereich des Möglichen gerückt hätten. Von der modernen Forschung wird Schleicher zumeist als „intrigant, unzuverlässig, opportunistisch, treubrüchig“ beschrieben.[48] Auch die Juristin Irene Strenge, die sich in ihrer 2006 erschienenen Biographie um eine Neubewertung des politischen Generals bemüht, kommt nicht umhin, seinen Politikstil als „doppelbödig“ zu beschreiben.[49] Der Berliner Historiker Henning Köhler beklagt Schleichers „unglaublichen Leichtsinn“, mit dem er sich im Frühjahr 1932 auf nur mündlich gegebene Zusagen Hitlers verlassen hatte.[50] Wilhelm von Sternburg nennt ihn aufgrund des rasch gescheiterten Querfrontplans „einen der unbedeutendsten Kanzler seit der Reichsgründung“.[51]. Auch Hans-Ulrich Wehler meint, schlimmer hätte man Hitler gar nicht unterschätzen können, als Schleicher es mit seiner „abstrusen“ Querfront-Konzeption tat.[52]

Literatur

  • Martin Broszat: Kurt von Schleicher, in: Wilhelm von Sternburg (Hrsg.): Die deutschen Kanzler von Bismarck bis Schmidt, 1987, S. 337-347.
  • Kunrat von Hammerstein-Equord: Schleicher, Hammerstein und die Machtergreifung. In: Frankfurter Hefte. 11, 1956, ISSN 0015-9999, Heft 11, 1, S. 11–18; 11, 2, S. 117–128; 11, 3, S. 163–176; 11, 4, S. 426–430.
  • Johann Rudolf Nowak: Kurt von Schleicher. Soldat zwischen den Fronten. Studien zur Weimarer Republik als Epoche der innenpolitischen Krisen, dargestellt an leben und laufbahn des Generals und Reichskanzlers Kurt, 1969.
  • Friedrich-Karl von Plehwe: Reichskanzler Kurt von Schleicher. Weimars letzte Chance gegen Hitler. Ullstein, Berlin 1990, ISBN 3-548-33122-X.
  • Eugen Ott: „Ein Bild des Generals Kurt von Schleicher“ in: Politische Studien, 10. Jg., Heft 110, S. 360-71, München 1959.
  • Axel Schildt: Militärdiktatur mit Massenbasis ?. Die Querfrontkonzeption der Reichswehrführung um General Kurt von Schleicher am Ende der Weimarer Republik, Campus, Frankfurt 1981 ISBN 3-593-32958-1. Diss Marburg 1980
  • Irene Strenge: Kurt von Schleicher. Politik im Reichswehrministerium am Ende der Weimarer Republik. Duncker und Humblot, Berlin 2006, ISBN 3-428-12112-0.
  • Thilo Vogelsang: Kurt von Schleicher. Ein General als Politiker. Musterschmidt, Göttingen 1965.

Film

  • Das Attentat – Schleicher: General der letzten Stunde. Fernsehfilm, BR Deutschland 1967 (IMDb)

Weblinks

 Commons: Kurt von Schleicher – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Hans-Otto Meissner: Junge Jahre im Reichspräsidentenpalais. 1987, S. 315.
  2. Irene Strenge: Kurt von Schleicher. Politik im Reichswehrministerium am Ende der Weimarer Republik. Duncker und Humblot, Berlin 2006S. 16 f.
  3. Hagen Schulze: Weimar 1917–1933. Siedler, Berlin 1994, S. 118
  4. Thilo Vogelsang: Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr 1930–1933. in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1954), S. 405 (hier das Zitat)
  5. Gerhard Schulz: Deutschland am Vorabend der Großen Krise. DeGruyter, Berlin und New York 1987, S. 451 ff
  6. Johannes Hürter: Wilhelm Groener. Reichswehrminister am Ende der Weimarer Republik (1928–1932). Oldenbourg, München 1993, S. 242 ff
  7. Peter Longerich: Die brauen Bataillone. Geschichte der SA. C. H. Beck, München 1989, S. 115
  8. Johannes Hürter: Wilhelm Groener. Reichswehrminister am Ende der Weimarer Republik (1928–1932). Oldenbourg, München 1993, S. 348–351
  9. Joseph Goebbels: Tagebücher, Bd. 2: 1930–1934. hrsg. v. Ralf Georg Reuth, Piper, München und Zürich 1992, S. 657
  10. Philipp Heyde: Das Ende der Reparationen. Deutschland, Frankreich und der Youngplan. Schöningh, Paderborn 1998, S. 387 f.
  11. Thilo Vogelsang: Kurt von Schleicher. Ein General als Politiker. Musterschmidt, Göttingen 1965, S. 71
  12. Peter Longerich: Die brauen Bataillone. Geschichte der SA. C. H. Beck, München 1989, S. 156 ff
  13. Philipp Heyde: Das Ende der Reparationen. Deutschland, Frankreich und der Youngplan. Schöningh, Paderborn 1998, S. 444
  14. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949 C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 421
  15. Gerhard Schulz: Von Brüning zu Hitler. DeGruyter, Berlin und New York 1992, S. 1028 f
  16. Akten der Reichskanzlei (ADR)– Das Kabinett Schleicher: S. 222, Anm. 6.
  17. Joachim Fest: Hitler. 2002, S. 356.
  18. H. S. Hegner: Die Reichskanzlei 1933–1945. S. 24.
  19. Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934. Stuttgart 1970, S. 639 ff.
  20. H. S. Hegner: Die Reichskanzlei 1933–1945. S. 33.
  21. Ebbo Demant: Hans Zehrer als politischer Publizist. Mainz 1971, S. 105.
  22. Joachim Petzhold: Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis. München 1995, S. 141.
  23. Giselher Wirsing: Hitlers letzter Gegenspieler. Wie kam es zum 30. Januar? In: Christ und Welt. 16, Nr. 4, 25. Januar 1963, S. 6.
  24. H. S. Hegner: Die Reichskanzlei 1933–1945. S. 45.
  25. Fritz Günther von Tschirschky: Erinnerungen eines Hochverräters. 1972, S. 78.
  26. Ottmar Katz: Prof. Dr. Theo Morell. Hitlers Leibarzt. 1982, S. 107.
  27. Volker Hentschel: Weimars letzte Monate: Hitler und der Untergang der Republik. 2. Auflage. Droste, Düsseldorf 1979, S. 95.
  28. Bundesarchiv-Militärchiv (BArch-MA) Freiburg, BA-MA N 42/98 Nachlass Schleicher, S. 12.
  29. Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934. Stuttgart 1970, S. 645.
  30. Thilo Vogelsang: Ein General als Politiker.
  31. Werner von Rheinbaben: Erlebte Zeitgeschichte.
  32. Shlomo Aronson: Reinhard Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SD, 1971, S. 159.
  33. Frank Starke: Mord am Griebnitzsee. In: Die Märkische. (= Wochenmagazin der Märkischen Allgemeinen) Potsdam Ostern 2007, S. 2.
  34. a b Hans-Otto Meissner: Junge Jahre im Reichspräsidentenpalais. S. 377.
  35. Irene Strenge: Kurt von Schleicher. S. 14.
  36. Gerhard Schulz: Von Brüning zu Hitler, DeGruyter, Berlin und New York 1992, S. 472
  37. Heinrich Brüning: Memoiren 1918–1934. Stuttgart 1970, S. 388.
  38. Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen.
  39. John Wheeler-Bennett: Wooden Titan. Hindenburg in Twenty Years of German History, 1914–1934. 1938, S. 297.
  40. Sefton Delmer: Die Deutschen und Ich. 1962, S. 170.
  41. Ebbo Demant: Von Schleicher zu Springer, S. 110 f.
  42. Walter Zechlin: Pressechef bei Ebert, Hindenburg und Kopf. Erlebnisse eines Pressechefs und Diplomaten. Hannover 1956.
  43. Walter Görlitz [Hrsg.]: Generalfeldmarschall Keitel, Verbrecher oder Offizier? 1961, S. 70.
  44. Thilo Vogelsang: Kurt von Schleicher. S. 17. Thaer nennt ihn an gleicher Stelle einen „sonderbaren Menschen“.
  45. Fritz Günther von Tschirschky: Erinnerungen eines Hochverräters.
  46. Günther Gereke: Ich war königlich-preußischer Landrat. Berlin 1970.
  47. Kurt Caro, Walter Oehme: Schleichers Aufstieg. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenrevolution. Berlin 1933.
  48. Irene Strenge: Kurt von Schleicher. Politik im Reichswehrministerium am Ende der Weimarer Republik. Duncker und Humblot, Berlin 2006, S. 11
  49. Irene Strenge: Kurt von Schleicher. Politik im Reichswehrministerium am Ende der Weimarer Republik. Duncker und Humblot, Berlin 2006, S. 227
  50. Henning Köhler: Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte. Hohenheim-Verlag, Stuttgart 2002, S. 253
  51. Wilhelm von Sternburg: Die deutschen Kanzler von Bismarck bis Merkel. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2006, S. 454
  52. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949 C. H. Beck Verlag, München 2003, S. 534 und 580

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