Jüdische Gemeinde Warburg

Jüdische Gemeinde Warburg
Schutzbrief der Stadt Warburg für Simon von Cassel von 1559 (StA Warburg)

Die Jüdische Gemeinde Warburg bestand vom 16. Jahrhundert bis 1943 in Warburg und gehörte zu den bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Westfalen. 1686 bis 1806 waren ihre Rabbiner gleichzeitig Oberlandesrabbiner.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Die Anfänge in der frühen Neuzeit

Die frühesten Belege jüdischen Lebens in Warburg stammen aus dem 16. Jahrhundert. So stellten Bürgermeister und Rat der Städte Warburg am 3. Januar 1559 den Juden Simon von Cassel und Moses zu Calenberge einen Schutzbrief aus, nach dem sie „mit Weib und Kinde und Hausgesinde“ gegen Zahlung von 25 Talern "Beiwohnergeld" pro Jahr innerhalb der Stadt wohnen dürfen. 1565 wurde dem Juden Heinemann erlaubt, in Warburg Handel zu treiben und 1587 erhielt der Jude Sötekind die Erlaubnis, sich zusammen mit seinem Sohn in Warburg niederzulassen. Aufgrund ihres Sonderstatus musste die Juden zudem extra Straßenbenutzungsgebühren und das doppelte an Eichgebühren zahlen wie die Warburger Bürger. Es waren offensichtlich vor allem wirtschaftliche Interessen der Stadt, solche Schutzbriefe auszustellen. Unterstützt wurde diese Politik durch die Landesherren, die Fürstbischöfe von Paderborn, denen an einer Stärkung der Wirtschaftskraft ihrer Stadt gelegen war. Die vollen Bürgerrechte, insbesondere der Erwerb von Grundeigentum oder die Ausübung zünftiger Handwerksberufe wurden den Juden jedoch verwehrt, wodurch sie insbesondere in Handelsberufe gedrängt wurden. 1603 pachteten jüdische Kaufleute das Recht auf Salzhandel. Weitere Geschäftsfelder waren der Handel mit Hopfen- und Rübsamen, Wein, Tabak und Textilien.

Die frühere Obere Straße. Vorn das 1722–1943 von jüdischen Familien bewohnten Berg-Goldschmidt-Haus (Nr. 28). Dahinter das nicht mehr bestehende Rabbinerhaus (Nr. 26), hinter dem sich die noch erhaltene Synagoge befand

Die Entwicklung der Gemeinde unter den Fürstbischöfen im Absolutismus

Seit 1619 ist ein Rabbiner in Warburg belegt. Die Notzeiten im und nach dem Dreißigjährigen Krieg führten zu einer relativen Stärkung der jüdischen Gemeinde. Während Warburger Bevölkerung insgesamt von ca. 4000 auf ca. 2500 abnahm und die Stadt immer mehr Selbstverwaltungsrechte an den Landesherrn abgeben musste, wuchs die jüdische Gemeinde zur größten innerhalb des Hochstifts Paderborn. Zu den Tätigkeitsbereichen kam nun der Handel mit Getreide, Vieh und anderen Landwaren aus der fruchtbaren Warburger Börde sowie das Kreditgeschäft hinzu. Die Größe und Wirtschaftskraft der Gemeinde verdeutlichen die Zahlen. So mussten 1651 die Warburger Juden 41 Reichstaler und 24 Groschen nach Paderborn entrichten, während die Paderborner Juden nur insgesamt 24 Taler aufbrachten. Für die Jahre 1675–1678 hatten 12 Juden in Paderborn 1532 Taler, 29 Juden in Warburg dagegen 13.242 Taler zu entrichten. Der Einzug der Abgaben erfolgte seit 1660 durch einen Vorsteher, den die Juden des Hochstiftes seit 1660 zu bestimmen hatten. 1675 reklamierte der Fürstbischof Ferdinand von Fürstenberg das alleinige Recht zu Verleihung des Geleitschutzes an Juden und die Belegung mit Steuern und Abgaben für das Hochstift. In Krisenzeiten wurden die Abgaben erhöht und weitere eingeführt. Während des Siebenjährigen Krieges erfolgte zum Beispiel eine Erhöhung des Kopfschatzes um ein Drittel. Auch musste die Hälfte der Strafgelder der jüdischen Gerichte an den Landesherrn abgeführt werden.

Im Übrigen genossen die Juden in Warburg größere Freiheiten als in anderen Städten. Ihre Wohnstätten waren überall in der Stadt verteilt, sie konnten ihre rechtlichen Angelegenheiten selbst regeln und wurden nicht zum Anhören von Missionspredigten gezwungen. Es entwickelte sich eine jüdische Kultusgemeinde mit großer Ausstrahlung weit über die Stadt hinaus. 1644 wurde ein Rabbiner erwähnt, 1649 sogar zwei. Spätestens seit 1686 war Warburg Sitz des Oberlandesrabbinates von Westfalen. Unter Samuel ben Gerson Steg wurde in Warburg die einzige Jeschiwa in Westfalen gegründet. Steinhardt holte zur Besetzung der Beverunger Rabbineradjunkt-Stelle Abraham Sutro, den späteren Landesrabbiner der Provinz Westfalen, und für die Bielefelder Stelle Moses Friedheim, beide stammen aus seinem Heimatort Bruck bei Erlangen. Das Warburger Landesrabbinat genoss eine landesübergreifende Autorität. So war der Warburger Landesrabbiner auch für die Grafschaft Rietberg und das Fürstbistum Corvey verantwortlich. Als die Grafschaft Lippe und das Herzogtum eigene Rabbiner bekamen, behielten sie den Titel Vizerabbiner, denn sie bildeten mit dem Warburger Vorgesetzten quasi ein fiktives Rabbinerkollegium.

1687 folgte die Pachtung einer eigenen Begräbnisstätte im Mollhauser Graben vor der nordwestlichen Stadtmauer der Warburger Neustadt.

1805 versuchte der letzte Landesrabbiner Mandel Steinhardt, das bisher individuell gehandhabte Schulwesen zu regeln.

Unter preußischer Verwaltung

Bei der Übernahme des Hochstiftes Paderborn durch Preußen wurden 1805 in der Kernstadt Warburg 43 jüdische Familien mit insgesamt 197 Personen erfasst. Bei 2011 Einwohnern insgesamt stellten sie somit einen Bevölkerungsanteil von 9,8 %. Die Summe der gezahlten Schutzgeldsteuer betrug 1037 Reichsthaler und 19 Silbergroschen.

Im Rahmen der napoleonischen Reformen mussten 1808 alle Juden einen Familiennamen annehmen. 1812 erließ Friedrich Wilhelm III. schließlich das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden“, durch das auch den Warburger Juden die volle Gleichberechtigung als preußische Staatsbürger zuerkannt wurde. An dem folgenden wirtschaftlichen Aufschwung nahmen auch die Juden maßgeblich teil.

Nach der endgültigen Übergang des Hochstifts Paderborn in die neue preußische Provinz Westfalen nach dem Wiener Kongress ging das Landesrabbinat auf Abraham Sutro in Münster über. Das Warburger Rabbinat blieb jedoch Mittelpunkt der Gemeinden des neugebildeten Landkreises Warburg, der 1921 mit 1125 Personen die weitaus meisten Juden eines Kreises der Provinz Westfalen aufwies.

In den folgenden Jahren wurde hinter dem Rabbinerhaus in der Oberen Straße (heute Joseph-Kohlschein-Straße 26) in der Altstadt eine Synagoge aus Fachwerk gebaut, die im Inneren eine Empore und eine Kuppel hatte und von der Gasse An der unteren Burg aus zugänglich war.

1829–1832 folgte die Anlage eines neuen Judenfriedhofes am Burgberg, direkt angrenzend an den gleichzeitig innerhalb der Burgbergmauern angelegten städtischen Friedhof.

1861 richtete der Rabbiner Juda Oppenheim eine öffentliche einklassige jüdische Schule ein. Sie befand sich direkt an der Synagoge. 1909 wurde ein eigenes Schulgebäude mit Lehrerwohnung in der Menner Straße gebaut.

Viele führende Geschäfte in Warburg waren jüdische Familienunternehmen, aber auch bei den freien Berufen und im Handwerk waren jüdische Familien erfolgreich und sozial integriert.

1890 gab es 299 jüdische Einwohner in der Kernstadt, bei 5043 Einwohnern ergab das einen Anteil von immer noch 5,8 %. Allerdings war bereits eine Abwanderung in größere Städte wie Berlin und ins Ausland zu beobachten, wobei die kleinen Landgemeinden des Umlandes noch mehr Mitglieder verloren. Daher organisierte sich die Warburger Synagogengemeinde gegen Ende des Jahrhunderts neu. Ihr wurden die Orte Welda, Wormeln, Germete, Dössel und Hohenwepel zugeschlagen. Als Filiale mit eigener Synagoge, jedoch ohne Rabbiner, wurden Herlinghausen (mit Dalheim und Calenberg), Rösebeck (mit Daseburg), Ossendorf (mit Nörde und Menne) sowie Rimbeck (mit Scherfede) von Warburg aus betreut.

1912 wurde Julius Cohn Rabbiner und setzte sich auch in öffentlichen Versammlungen engagiert für die Interessen der Gemeinde ein. Er war Syndicus des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und wurde in die Warburger Stadtverordnetenversammlung gewählt.

Die Vernichtung der Gemeinde im Nationalsozialismus

Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten gab es noch 160 Juden in der Kernstadt Warburg, bei 6814 Einwohnern insgesamt. Am 30. April 1933 erfolgten als erste Einschüchterungsmaßnahmen der SA Schmierereien an jüdischen Geschäften, Boykottaufrufe und Schikanierungen der Gemeindemitglieder, die zu Umsatzrückgängen und Ausreiseanträgen führten. Die jüdische Schule wurde im gleichen Jahr geschlossen. Julius Cohn wurde mehrfach verhaftet und schließlich 1934 in das KZ Esterwegen bei Papenburg eingeliefert. Er starb 1941 in Lodz.

Es folgten erste Geschäfts- und Hausverkäufe. Fünf Juden absolvierten eine Ausbildung zur Vorbereitung einer Einwanderung nach Palästina (Hachschara), andere emigrierten in andere europäische Länder, die USA und nach Südamerika. Beim Novemberpogrom 1938 stürmten die Warburger SA- und SS-Mitglieder, unterstützt von Kräften der SS-Division Germania Arolsen die Synagoge, zerstörten das Innere, transportierten die Sakralgegenstände auf den Altstädter Marktplatz und steckten sie an. Auch die meisten jüdischen Geschäfte wurden zerstört und viele Wohnungen beschädigt. Ein Teil der männlichen Juden wurden in Konzentrationslager Buchenwald und Dachau eingeliefert und erst nach einigen Wochen wieder freigelassen. 1939 wohnten nur noch 96 Juden in der Kernstadt.

Am 10. Dezember 1941 erfolgte die erste Massendeportation aus Warburg, bei der über 50 aus der Stadt und dem Amt Warburg-Land über Bielefeld in das Ghetto nach Riga „umgesiedelt“ wurden. Erst 6 Tage später kamen sie dort an, 36 von ihnen starben dort.

Die nächsten Transporte direkt aus Warburg erfolgten am 28. März, 28. Juli und 27. August 1942. Sie gingen über Bielefeld nach Minsk, Theresienstadt und Auschwitz und führten überwiegend in den Tod.

Weitere Orte, in denen Gemeindemitglieder aus Warburg inhaftiert und ermordet wurden, waren Buchenwald, Bergen-Belsen, Lodz, Warschau, Gurs und Sobibor.

Lediglich fünf Warburger und sieben Rimbecker Juden überlebten und kehrten 1945 zunächst zurück. Drei blieben in Warburg und bauten sich eine neue Existenz auf, die anderen emigrierten in die USA und nach Palästina.

Die Synagoge wurde 1945 renoviert und kurzzeitig für Gottesdienste genutzt. Mangels Gemeindemitglieder wurde sie jedoch später verkauft und zunächst zu einer Süßmosterei, später zu einem Wohnhaus umgebaut.

Auf dem jüdischen Friedhof blieben trotz der Demolierungen während der NS-Zeit noch 265 Grabsteine erhalten. Aus zerstörten Grabsteinen wurde 1945 auf Veranlassung der Militärregierung ein Mahnmal zur Erinnerung an die ermordeten Juden errichtet.

Rabbiner

  • Gemeinde- und Oberlandesrabbiner
    • 1686–???? Mathias Hirsch
    • 1755–1779 Ruben Oppenheimer
    • 1779–1797 Samuel ben Gerson Steeg
    • 1797–1805 Samuel Steeg
    • 1805–1806 Mandel Steinhard
  • Gemeinderabbiner
    • 1806–???? Mordechai Steeg
    • 1848–1891 Juda Oppenheim
    • 1912–1934 Julius Cohn [1]

Bekannte Gemeindemitglieder

  • Juspa Joseph Warburg, 1668 nach Hamburg-Altona ausgewandert, Stammvater der Bankiersfamilie Warburg
  • Hermann Oppenheim (1858–1919), Sohn Juda Oppenheims, Neurologe und Hochschullehrer in Berlin
  • Emil Herz (1877–1971), Verleger und Schriftsteller in Berlin
  • Walter Flechtheim (1881-1949) alias Walther Monroe, Varietékünstler; Familie hatte eine Privatbank in Warburg

Einzelnachweise

  1. http://www.nw-news.de/lokale_news/warburg/warburg/5276266_Ein_juedisches_Schicksal.html abgerufen 09. Nov. 2011

Literatur

  • Martha Evers: Geschichte der Juden der Stadt Warburg zur fürstbischöflichen Zeit. Diss. Uni Münster, 1920 (Wiederauflage mit Vorwort von Franz Mürrmann und einer aktualisierten Bibliographie. Hermes, Warburg 1978, ISBN 3-922032-01-X (Warburger Schriften 1)).
  • Hermann Hermes: Deportationsziel Riga. Schicksale Warburger Juden. Hermes, Warburg 1982, ISBN 3-922032-03-6.
  • Hermann Hermes: Ausschnitte aus der Geschichte der Juden in Warburg. In: Franz Mürmann (Hrsg.): Die Stadt Warburg. 1036–1986. Beiträge zur Geschichte einer Stadt. Band 2. Hermes, Warburg 1986, ISBN 3-922032-07-9.
  • Emil Herz: Denk ich an Deutschland in der Nacht. Die Geschichte des Hauses Steg. Verlag des Druckhauses Tempelhof, Berlin 1951 (Ergänzter und illustrierter Nachdruck. Hermes, Warburg 1994, ISBN 3-922032-32-X (Schriftenreihe des Museumsvereins Warburg e.V. 8 = Warburger Schriften 10)).
  • Carsten L. Wilke: Die ungeliebte Tradition: Rabbiner in Westfalen 1619–1943. In: Westfalen. 84, 2006, ISSN 0043-4337, S. 9–25.
  • Heiko Bewermeyer: Von Warburg nach Ghetto Lodz: Das Schicksal von Julius Cohn (1880--1942) und seiner Familie, Die Warte, Nr. 151, 2011, S. 14-22


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