Konkordanzdemokratie

Konkordanzdemokratie

Als Konkordanzdemokratie wird ein Typus der Volksherrschaft bezeichnet, der darauf abzielt, eine möglichst große Zahl von Akteuren (Parteien, Verbände, Minderheiten, gesellschaftliche Gruppen) in den politischen Prozess einzubeziehen und Entscheidungen durch Herbeiführung eines Konsenses zu treffen. Demzufolge spielt die Mehrheitsregel als Entscheidungsmechanismus keine zentrale Rolle im politischen System. Das Gegenmodell zur Konkordanzdemokratie wird als Konkurrenzdemokratie oder Mehrheitsdemokratie bezeichnet.[1] Der Begriff Konkordanzdemokratie, der alltagssprachlich vor allem in der Schweiz Verwendung findet, wurde Ende der 1960er Jahre als sozialwissenschaftlicher Fachbegriff vor allem von Gerhard Lehmbruch im Deutschen und Arend Lijphart im Englischen („consociational democracy“) fruchtbar gemacht.[2]

Reinformen der Konkordanzdemokratie oder Mehrheitsdemokratie gibt es nicht. In Europa gilt das politische System Luxemburgs als ausgeprägt konkordanzdemokratisch, die Schweiz, die Niederlande, Belgien sowie Österreich wiesen in der Geschichte zeitweise konkordanzdemokratische Züge auf.

Inhaltsverzeichnis

Konkordanzdemokratie in der Schweiz

Die Konkordanz der Schweiz ist nicht – wie zum Beispiel die Berücksichtigung der verschiedenen Landesteile – von der Verfassung aufgetragen, sondern vielmehr während Jahrzehnten langsam, durch den in der Schweiz stark ausgeprägten Minderheitenschutz – erkennbar am Referendumsrecht oder am Ständemehr – entstanden.

Die Regierung der Schweiz, der Bundesrat, besteht aus sieben Mitgliedern. Als 1943 mit Ernst Nobs der erste sozialdemokratische Bundesrat gewählt worden war, waren alle wesentlichen Parteien in die Regierung eingebunden. Sein Nachfolger, der Sozialdemokrat Max Weber, trat allerdings 1953 nach einer verlorenen Volksabstimmung über die Finanzreform zurück, und die Sozialdemokratische Partei war wieder in der Opposition. 1959 kam es nach dem Rücktritt von vier Bundesräten zur so genannten Zauberformel, in der die wichtigsten Parteien nach ihrem damaligen Gewicht im siebenköpfigen Bundesrat vertreten waren: je zwei Sitze erhielten FDP, CVP, und SP, einen die BGB, die Vorgängerin der SVP. Diese Parteizusammensetzung blieb bis 2003 unverändert. Die vier Bundesratsparteien erreichten bei den Wahlen vom 19. Oktober 2003 einen Wähleranteil von zusammen 81,6 Prozent und besetzen zusammen 217 der 246 Sitze im Parlament, nämlich 171 von 200 im Nationalrat und 46 von 46 im Ständerat (Stand Dezember 2003).

Im Dezember 2003 beanspruchte die SVP als mittlerweile prozentual im Nationalrat (Volkskammer), nicht aber im Ständerat (Länderkammer) grösste Partei einen zweiten Sitz im Bundesrat, Ruth Metzler (CVP) wurde zugunsten von Christoph Blocher nicht wiedergewählt, worauf sich der Bundesrat neu aus zwei SVP-, zwei FDP-, einem CVP- und zwei SP-Mitgliedern zusammensetzte.

Die Konkordanzdemokratie bewirkt Stabilität, kontinuierliche Entwicklung. Alle Parlamentarier, ihre Parteien – und vor allem alle Wähler – sind anteilsmässig vertreten und können sich «auf gleicher Augenhöhe» auf sachliche Auseinandersetzungen und Lösungen konzentrieren. Sie können ohne grosse Umwälzungen ihre Arbeit auch vor und nach den Wahlen fortsetzen. Denn eine eigentliche Opposition im Parlament gibt es seit längerem nicht mehr. Die Parlamentarier müssen sich nicht in den, in Konkurrenzsystemen üblichen, Koalition–Oppositions-Auftritten laufend abgrenzen. Auch müssen sie nicht, wie auch die Regierungen nicht, nach den Wahlen eine Koalitionen bilden, sich aufwändig suchen.

Auch ist es in der Schweiz auf keiner Ebene möglich, die Regierung durch einen Misstrauensantrag aus dem Amt zu stürzen. Da der Bundesrat – wie auch die kantonalen und kommunalen Regierungen – eine Kollegialbehörde ist, deren sieben Minister die nach außen vertretene Regierungspolitik durch bindende, interne Mehrheiten festlegen, kann sich eine Regierungspartei zeitweise gegen die Regierung stellen. Dies, und auch, wenn das Volk an der Urne gegen die Meinung der Regierung stimmt, heißt aber nicht, dass der Bundesrat zurücktreten muss. Die in einer Abstimmung unterlegenen Kräfte müssen sich dem Gremium, beziehungsweise dem Volk unterordnen und ihre weitere Regierungsarbeit durch die gefassten Beschlüsse bestimmen lassen. Die Konkordanz verlangt von allen Mitgliedern eine starke Konsensfähigkeit, da ansonsten die Regierungstätigkeit blockiert werden kann.

Mögliche Probleme und ihre Lösungen

Auch in einer Konkordanzdemokratie kann eine stark polarisierende Parteipolitik Probleme verursachen. Andererseits gibt es Befürchtungen, dass eine außerhalb der Konkordanz stehende, gut funktionierende Opposition durch eine Referenden- und Initiativflut das politische System der Schweiz ebenfalls nachhaltig blockieren könnte. Dies führte 1891 zur Regierungseinbindung von CVP und 1959 zur Regierungseinbindung der Sozialdemokraten und war ein Faktor bei der Wahl von Christoph Blocher 2003.

Es gehört allerdings zur Tradition der Konkordanzdemokratie, dass nicht mehrheitsfähige Kandidaten unter formaler Wahrung der Konkordanz verhindert werden können, indem die Parlamentsmehrheit anstelle der von der Partei nominierten Kandidaten gemäßigtere Vertreter der entsprechenden Partei wählt.

Besonders häufig geschah das mit Kandidaten der SP: So wurde der 1959 von der SP nominierte Parteipräsident Walter Bringolf wegen seiner kommunistischen Vergangenheit nicht gewählt und an seiner Stelle zog Hans-Peter Tschudi in den Bundesrat ein. Auch Willi Ritschard war nicht der Wunschkandidat der Sozialdemokraten. 1983, als die SP die Politikerin Lilian Uchtenhagen als erste Frau für den Bundesrat nominierte, wählte die Bundesversammlung Otto Stich, der sich allerdings im Nachhinein als so fähiger sozialdemokratischer Finanzminister erwies, dass die bürgerliche Mehrheit des Öfteren bedauerte, ihn gewählt zu haben.

Zu einem Eklat kam es 1993, als Christiane Brunner von der SP nominiert wurde, und statt ihrer Francis Matthey gewählt wurde. In der Folge der Wahl kam es zu landesweiten Protesten, insbesondere durch Frauen, so dass Matthey auf die Annahme der Wahl verzichtete. An seiner Stelle wurde Ruth Dreifuss gewählt.

Bei den Bundesratswahlen 2007 wurde statt dem von der SVP nominierten Christoph Blocher Eveline Widmer-Schlumpf gewählt. Die SVP schloss in der Folge den bereits gewählten SVP-Bundesrat Samuel Schmid und Widmer-Schlumpf von der Teilnahme an der Fraktion aus und erklärte den Gang in die Opposition, bis zwei von der Partei nominierte Kandidaten in den Bundesrat gewählt worden seien. Während die SVP-Fraktion selbst und viele Kommentatoren im Ausland dies als Zusammenbruch des Konkordanzsystems werteten,[3] sahen Schweizer Parlamentarier aller übrigen Parteien in der neuen Konstellation die Konkordanz gewahrt und sogar inhaltlich gestärkt. [4] [5] [6]

Auch innerhalb der SVP war der Gang in die Opposition des radikaleren Zürcher und Ostschweizer Flügels nicht unbestritten – die gemässigteren Berner und Bündner Kantonalparteien der SVP hielten zu „ihren“ lokal sehr populären Bundesräten, und die in kantonale Konkordanzsysteme eingebundenen amtierenden Regierungsräte der SVP standen einer radikalen Oppositionspolitik sehr skeptisch gegenüber.[7]. In der Folge forderten Ortssektionen eine Wiederaufnahme der amtierenden SVP-Bundesräte in die Fraktion, andere hingegen einen Parteiausschluss. Am 1. Juni 2008 schloss der Zentralvorstand der SVP Schweiz die SVP Graubünden, inklusive der zur Kantonalsektion zugehörigen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, aus.[8]. Sie und weitere gemässigteren SVP-Politiker gründeten die, schon vor dem Ausschluss vorbereitete, BDP.

Bei der Bundesratswahl 2008 wurde als Ersatz für den zurückgetretenen Samuel Schmid der langjährige SVP-Präsident Ueli Maurer gewählt, womit die SVP wieder in die Regierung eingebunden und deren Opposition beendet wurde.[9].

Vergleich mit Konkurrenzdemokratie

Die Unterscheidung zwischen Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie untersuchte der Politikwissenschaftler Arend Lijphart in seiner Studie „Patterns of Democracy“. Dabei stellte er je zehn Kriterien auf, welche eine Konkordanz- resp. eine Mehrheitsdemokratie ausmachen. Diese beiden Idealtypen stellte er in seiner weiteren Forschungsarbeit einander gegenüber und fand heraus, dass die Konkordanzdemokratie nicht weniger effizient, aber repräsentativer sei als die Mehrheitsdemokratie. Damit scheint er die Konkordanzdemokratie als der Mehrheitsdemokratie überlegen einzustufen. Außerdem erwähnenswert ist die Unterscheidung zwischen Konsens und Konkordanz. Die Konsensdemokratie strebe nach Machtteilung, die Konkordanzdemokratie hingegen erfordere sie und schreibe vor, dass hierbei alle wichtigen Gruppen berücksichtigt werden.

Häufig wird der Begriff Konsensdemokratie mit Konkordanzdemokratie gleichgesetzt. Untersucht man die Interaktion der politischen Kräfte, spricht man eher von Konkordanzdemokratie (als Gegenmodell hier die Konkurrenzdemokratie). Wird hingegen der Weg der Meinungsfindung als Unterscheidungsmerkmal gewählt, verwendet man die Begriffe Konsensdemokratie und Mehrheitsdemokratie.

Literatur

  • Roland Czada, Manfred G. Schmidt (Hrsg.): Verhandlungsdemokratie, Interessenvermittlung, Regierbarkeit. Festschrift für Gerhard Lehmbruch. Westdeutscher Verlag, Opladen 1993, ISBN 3-531-12473-0
  • Clemens Jesenitschnig: Gerhard Lehmbruch – Wissenschaftler und Werk. Eine kritische Würdigung. Tectum, Marburg 2010, ISBN 978-3-8288-2509-3, Kap. 3 (zur wissenschaftlichen Genese der Analysekategorie „Konkordanzdemokratie“)
  • Gerhard Lehmbruch: Verhandlungsdemokratie. Beiträge zur vergleichenden Regierungslehre. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-531-14134-1
  • Gerhard Lehmbruch: Artikel Konkordanzdemokratie. In: Manfred G. Schmidt (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 3: Die westlichen Länder. C.H. Beck, München 1992, S. 206–211.
  • Gerhard Lehmbruch: Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich. Mohr, Tübingen 1967
  • Arend Lijphart: Thinking about Democracy. Power Sharing and Majority Rule in Theory and Practice. Routledge, London 2008, ISBN 978-0-415-77267-9
  • Arend Lijphart: Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-six Countries. Yale University Press, New Haven 1999, ISBN 978-0-300-07893-0

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. vgl. Zapf, Wolfgang [1997, S. 31ff] "Entwicklung als Modernisierung"; in : Schulz, Manfred [1997, Hg.]: "Entwicklung. Die Perspektive der Entwicklungssoziologie", Opladen (Westdeutscher Verlag)
  2. Vgl. Jesenitschnig 2010, op.cit., Kap. 3. Dort mit weiteren Nachweisen.
  3. Ftd:Schweizer Regierungssystem zerbricht
  4. Stellungnahme CVP
  5. Swissinfo: Zwischen Wut und Freude
  6. Oppositionsstrategie sorgt in der SVP für rote Köpfe
  7. SVP-Basis hält nichts von Opposition, Sonntags-Zeitung, 16. Dezember 2007
  8. SVP Schweiz schliesst Bündner Sektion aus, NZZ Online, 2. Juni 2008
  9. Die Zukunft liegt in der kleinen Konkordanz, NZZ Online, 10. Januar 2009

Weblinks


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