- Antworttendenz
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Antworttendenz (engl. response set, response bias) oder Antwortverzerrung ist eine systematische Verzerrung der in Befragungen, Interviews, Meinungsumfragen u.a. sozialwissenschaftlichen Erhebungen, psychologischen Tests und Fragebogen erhaltenen Reaktionen. Die Daten bilden dann nicht die zutreffenden (eigentlichen und „wahren“) Einstellungen und Sachverhalte ab. Die Gründe solcher Abweichungen sind bei den Befragten, bei den Fragen und in der Gestaltung des Fragebogens, in der besonderen Situation oder beim Interviewer zu suchen.
Inhaltsverzeichnis
Antwortverhalten
Jede Befragung durch einen Interviewer oder einen Fragebogen stellt eine soziale Situation dar, die einen Einfluss auf die Antworten haben kann. Auch die Untersucher können durch ihre Anwesenheit und durch ihre Erwartungen unabsichtlich einen Einfluss auf die Antworten und andere Verhaltensweisen ausüben. Vor allem werden sich jedoch die individuellen Einstellungen der Befragten und ihre Persönlichkeitseigenschaften auswirken, denn jede Selbstbeurteilung ist zugleich auch eine Selbstdarstellung. Deshalb können ausgeprägte Antworttendenzen zugleich als wichtige Facetten von Persönlichkeitseigenschaften angesehen werden.
Die Verzerrung durch Antworttendenzen gilt als ein typisches Methodenproblem von Fragebogen. Doch solche Effekte werden zweifellos auch in Interviews und bei den meisten anderen Verfahren der psychologischen Diagnostik auftreten. Die Effekte der methodischen Reaktivität, d.h. der Beeinflussung der Ergebnisse durch die angewendete Untersuchungsmethodik, sind ein fundamentales Problem nahezu jeder psychologischen Methodik, sogar vieler medizinischer Untersuchungsmethoden, und haben Entsprechungen in den Naturwissenschaften (siehe Heisenbergsche Unschärferelation). Psychologische und medizinische Untersuchungen können auch zum Phänomen der Reaktanz führen, d.h. zu Abwehrreaktionen und Verweigerung der Teilnahme.
Antworttendenzen wurden aus verschiedenen fachlichen Perspektiven untersucht, u.a. testmethodisch, differenziell-psychologisch, sozialpsychologisch, kognitionspsychologisch. Zu diesem Thema gehören auch schematische Urteilstendenzen, charakteristische Urteilsfehler und systematische Erinnerungstäuschungen. Ein verwandtes Thema bilden die aus der medizinischen Diagnostik, insbesondere in der Psychiatrie, bekannten Phänomene der Simulation, Aggravation, Dissimulation von Beschwerden und Befunden; die häufigen Abweichungen zwischen den erlebten körperlichen Beschwerden und den objektiven Befunden bilden ein wichtiges Thema in der Psychologie des Krankheitsverhaltens.
Die meisten dieser Antwortverzerrungen und Beurteilerfehler sind schon in den 1950er Jahren bei Lee J. Cronbach[1] und Joy P. Guilford[2] zu finden, u.a. die Ja-sage-Tendenz (Akquieszenz) und die Tendenz zur unentschiedenen Mitte oder zu den Enden einer Skala (Extrema).
Typische Antworttendenzen
- Akquieszenz (engl. aquiescence tendency, Ja-Sage-Tendenz) ist die Neigung einiger Menschen, Fragen – weitgehend unabhängig vom Inhalt – eher mit "ja", "stimmt" bzw. "richtig" zu beantworten. Die Ja-Sage-Tendenz kann als angepasstes Verhalten, z.B. bei autoritären Persönlichkeiten und ängstlichen und konservativ eingestellten Menschen auftreten.
- Konsistenzeffekt (engl. consistency bias) ergibt sich aus der Tendenz, ähnlich klingende Aussagen stimmig zu beantworten, so dass sie inhaltlich zueinander passen, auch wenn das nicht so einheitlich zutrifft.
- Retrospektionseffekt (engl. recall bias, retrospection effect) bedeutet, dass Erlebnisse und Ereignisse im Rückblick, am nächsten Tag oder nach einigen Wochen, positiver oder negativer bewertet werden, z.B. die erlebten Schmerzen in der Erinnerung intensiver als in den aktuell erhobenen Einschätzungen (negativer Retrospektionseffekt).
- Rezenzeffekt (engl. recency effect) besagt, dass später eingehende Informationen einen größeren Einfluss auf die Erinnerungsleistung einer Person ausüben als früher eingehende Informationen. Das Kurzzeitgedächtnis gibt den zuletzt wahrgenommenen Informationen ein stärkeres Gewicht (siehe Primacy-Recency-Effekt).
- Rückschaufehler (engl. hindsight bias) beschreibt unzutreffende Erinnerungen, wenn Menschen, nachdem sie den tatsächlichen Ausgang eines Ereignisses erfahren haben, sich systematisch falsch an ihre früheren eigenen Vorhersagen erinnern.
- Soziale Erwünschtheit (engl. social-desirability) ist eine Verzerrung der Antworten, indem sie nicht nach der persönlich zutreffenden Einstellung erfolgen, sondern nach sozialen Normen bzw. nach dem, was nach Auffassung der Befragten erwünscht ist und erwartet wird. Die Tendenz zur sozialen Erwünschtheit wird meist als eine verbreitete, mehr oder minder unabsichtliche Neigung zu einer positiven Selbstdarstellung angesehen. Darüber hinaus kann es, z.B. in Bewerbungs- und Prüfungs-Situationen, ein starkes Interesse geben, unzutreffend zu antworten bis zur absichtlichen Täuschung und Fälschung.
- Tendenz zur Mitte (engl. error of central tendency) ist die Tendenz, bei mehrstufigen Skalen (z. B. Likert-Skalen) eher die mittleren Skalenpunkte auszuwählen, und entsprechend gibt es die
- Tendenz zu extremen Antwortkategorien.
Einflüsse der Formulierung und Gestaltung
Die Antworten können durch die Formulierung der Fragen und (bei Fragebogen auch der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten), durch die Verständlichkeit der Fragen und der Anleitung sowie durch den Ablauf der Untersuchung beeinflusst werden. Dazu gehören unnötige Fremdwörter und missverständliche Formulierungen oder der Reihenfolge-Effekt (auch: Positionseffekt), wobei eine vorher gestellte Frage beeinflusst, wie die folgende Frage inhaltlich aufgefasst und bewertet wird. Wer einen Fragebogen entwickelt, sollte sich auf die entsprechenden Lehrbücher stützen und den Entwurf vor der Anwendung sorgfältig vorprüfen (siehe Fragebogen, Fragetechnik)
Einflüsse der Untersucher und der Untersuchungssituation Viele der zuvor genannten Effekte auf der Seite der Befragten (Untersuchten) haben Entsprechungen auf der Seite der Untersucher (Interviewer), u.a. Beobachtungs- und Beurteilungsfehler als Halo-Effekt. Wenn der Untersucher selbst bestimmte Erwartungen erkennen lässt, entsteht ein Versuchsleitereffekt (auch: Rosenthal-Effekt, Pygmalion-Effekt, Rosenhan-Experiment[3] oder Versuchsleiter-Artefakt). Der Hawthorne-Effekt beschreibt, dass bereits die Teilnahme an einer Untersuchung besondere Erwartungen auslösen kann, die zur Verzerrung der Ergebnisse führen.
Kritik
Begrifflich werden verschiedene Antworttendenzen unterschieden, doch sind diese empirisch-methodisch kaum voneinander abzugrenzen. Sie sind häufig untereinander verknüpft und werden von dem individuellen kognitiver Stil, semantischen und sprachlichen Schwierigkeiten, den Reihenfolgeeffekten usw. beeinflusst. Außerdem sind viele dieser Tendenzen wie die Ja-Sage-Tendenz, die Neigung zu sozialer Erwünschtheit oder die Neigung zu extremen oder zu mittleren Antwortkategorien typische Merkmale bestimmter Persönlichkeitseigenschaften.
In der Testmethodik war zeitweilig die Meinung verbreitet, dass diese Effekte kontrolliert oder ausgeglichen werden: durch Paare gegensätzlich gepolter Fragen (was sprachlich oft kompliziert ist), durch die Vorgabe zweistufiger Antwortmöglichkeiten (nur „ja“ oder „nein“), durch Kontrollfragen oder durch eine sog. Lügenskala, die Widersprüche und wahrscheinlich unzutreffende Antworten erfassen sollte. Der Versuch, bewusste und unbewusste Anteile zu trennen[4], oder der Wunsch nach einer testmethodischen Isolierung und statistischen Korrektur überfordern die Fragebogenmethodik grundsätzlich. Zu klären, wie eine Person „eigentlich“ sei, erinnert an eine frühere und überholte Auffassung von einer unveränderlichen Persönlichkeit und entspricht nicht dem Verständnis von Persönlichkeitseigenschaften mit zeit- und situationsabhängiger Variabilität. Insbesondere die Untersuchung der Sozialen Erwünschtheit erfordert eine interaktionistische Sichtweise (im Sinne der Interaktion), die einen Zusammenhang herstellt: zwischen Testsituation, Testmotivation, Persönlichkeitseigenschaften, stilistischen Merkmalen, verbaler Intelligenz, persönlichen Erwartungen und Motiven, Anpassungsbereitschaft, Nutzenabwägungen, Furcht vor Nachteilen oder Furcht vor Entdeckung sowie den individuellen und den allgemeinen Wertdispositionen wie Ehrlichkeit und Offenheit. Außerdem wird es ein breites Meinungsspektrum geben, welche Antworten in einer bestimmten Situation oder Aufgabe erwünscht sind oder nicht.
Die Selbstdarstellung ist ein integraler Bestandteil der geäußerten Selbstbeurteilungen. Wer Selbstbeurteilungen in der psychologischen Diagnostik verwendet, muss auch die strukturelle Subjektivität dieser Selbstberichte hinnehmen. Einzelne Facetten der Selbstdarstellung innerhalb der Selbstbeurteilung eines Menschen abgrenzen zu wollen, scheint nur interpretativ möglich zu sein, sofern nicht objektive Lebenslaufdaten oder Verhaltensbeobachtungen einbezogen werden können. In der sozialpsychologischen Einstellungsforschung berichtete Objektivierungsversuche durch Methoden der Psychophysiologie und das Bogus-Pipeline-Technik mit der Täuschung über einen angeblichen Lügendetektor sind aus unterschiedlichen berufsethischen oder methodischen Gründen ungeeignet. [5]
Die Richtlinien zur Qualitätssicherung in der Psychologischen Diagnostik verlangen, dass die Ergebnisse der Untersuchung so wenig wie möglich durch den Kandidaten selbst verfälscht werden können. Bisher gibt es jedoch für die Auswertung von Fragebogenmethoden und Interviews keine Regeln oder Konventionen, wie dies zuverlässig erkannt oder verhindert werden soll.
Einzelnachweise
- ↑ Lee J. Cronbach: Essentials of psychological testing. 3rd. ed. Harper and Row, New York 1970.
- ↑ Joy P. Guilford: Personality. McGraw Hill, New York 1959.
- ↑ Ian Needham: Pflegeplanung in der Psychiatrie. Recom, 3. Auflage 1996, Seite 73. ISBN 978-3-89752-034-9
- ↑ Del Paulhus: Social desirable responding: The evolution of a construct. In H. I. Braun, D. N. Jackson, D. E. Wiley (Eds.). The role of constructs in psychological and educational measurement. Erlbaum, Mahwah, NJ. 2002, ISBN 0-8058-3798-1, S. 49-69.
- ↑ siehe Mummendey, 1995
Literatur
- Manfred Amelang, Lothar Schmidt-Atzert: Psychologische Diagnostik und Intervention. 4. Auflage. Springer, Berlin 2006, ISBN 978-3-540-28507-6.
- Jens B. Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit. 5. Auflage. Springer, Berlin 2007, ISBN 978-3-540-71684-6.
- Peter Atteslander, Hans-Ulrich Kneubühler: Verzerrungen im Interview: zu einer Fehlertheorie der Befragung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1975, ISBN 3-531-11315-1.
- Jürgen Bortz und Nicola Döring: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler. 4. Auflage. Springer, Heidelberg 2006, ISBN 3-540-33305-3.
- Andreas Diekmann: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendung. 20. Aufl. Rowohlt, Reinbek 2009, ISBN 978-3-499-55678-4.
- Franz Lösel: Persönlichkeitsdaten (Tests). In S. Jäger & F. Petermann (Hrsg.). Psychologische Diagnostik. 4. Aufl. Beltz, Psychologie-Verlags-Union, Weinheim 1999, ISBN 3-621-27459-6, S. 362-380.
- Helfried Moosbrugger, Augustin Kelava (Hrsg.): Testtheorie und Fragebogenkonstruktion. Springer, Heidelberg 2007. ISBN 3-540-71634-3.
- Hans D. Mummendey: Psychologie der Selbstdarstellung. 2. Auflage. Hogrefe, Göttingen 1995, ISBN 3-8017-0709-1.
- Hans D. Mummendey, Ina Grau: Die Fragebogen-Methode. 5. Aufl. Hogrefe, Göttingen 2008, ISBN 978-3-8017-1948-7.
- Rüdiger F. Pohl (Ed.): Cognitive illusions. A handbook on fallacies and biases in thinking, judgment and memory. Psychology Press, New York 2004, ISBN 1-84169-351-0.
- Rainer Schnell, Paul B. Hill, Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung. 8. Aufl. Oldenbourg, München, Wien 2008, ISBN 978-3-486-58708-1.
- Norbert Schwarz, Seymour Sudman (Eds.): Context effects in social and psychological research. Springer, New York 1992. ISBN 0-387-97705-8.
Siehe auch
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