- Maritime Soziologie
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Die Maritime Soziologie (von lat. mare „Meer“) ist eine Spezialisierung innerhalb der Soziologie. Sie befasst sich mit sozialen Prozessen rund um die Schifffahrt in Küstenmeeren und auf hoher See sowie mit deren Bezügen zu seegestützten politischen, wirtschaftlichen, militärischen, beruflichen, kulturellen, brauchtumsmäßigen und religiösen Institutionen.
Inhaltsverzeichnis
Zur Thematik
Der Themenreichtum der Maritimen Soziologie nähert sie der allgemeinen soziologischen Theorie an. Da es in dieser jedoch bislang nahezu ausschließlich um festlandbezogene Fragestellungen geht, ist die Maritime Soziologie als eine Spezielle Soziologie einzustufen.
Diesbezügliche Forschungen wurden zunächst weit zerstreut erarbeitet und publiziert, wie zum Beispiel:
- Ferdinand Tönnies über die soziale Lage von Hafenarbeitern und Seeleuten[1] in Seehäfen[2]
- Bronislaw Malinowski über das religiöse und fernhändlerische melanesische Kula[3]
- Franz Borkenau über die Mentalitätsänderungen in der Völkerwanderung bei denjenigen Völkerschaften der Kelten (Iren) und Germanen (Normannen, Wikinger), die das Festland verließen, da sich auf seegehenden Schiffen die Führungsverantwortung änderte und zuspitzte.[4]
Derzeit ist die Maritime Soziologie in Mitteleuropa an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und an der Universität Szczecin (Stettin) (Polen) vertreten. Ihre Materien erscheinen auch in den Lehrplänen der nautischen Fach- und Fachhochschulen, wo sie meist als Problemstellungen der Fachausbildung und der Führung von Schiffsmannschaften behandelt werden.
In vielen anderen Ländern, wie zum Beispiel USA, Kanada und Spanien ist sie Bestandteil von Spezialisierungen oder hat auch eigene Studiengänge, so an der East Carolina University (USA), der University of South Alabama (USA), der Memorial University of Newfoundland (Kanada) und der Universitat Politècnica de Catalunya (Spanien).
Gesellschaftsprägungen
Ganze Kulturen weisen Eigentümlichkeiten auf, die ihre hohe Angewiesenheit auf die Herausforderung durch das Meer und seine Chancen und Gefahren widerspiegeln.
Dies gilt schon seit der Steinzeit (Seefischerei als Hauptnahrungsquelle von Insel- und Küstenbewohnern – siehe auch: Køkkenmøddinger).
Es wird deutlich in den Thalassokratien des Altertums (z. B. Karthago, Athen), in Sonderentwicklungen des Mittelalters (z. B. in Polynesien, auf Island), im auf die Seemacht gestützten Kolonialismus der frühen Neuzeit (z. B. Venedig, Portugal, die Niederlande) bis hin zum Kampf um die weltweite Seeherrschaft ab dem 18. Jahrhundert bis heute (zunächst Großbritannien, dann die USA).
Die sozialen Auswirkungen reichen vom alltäglichen sozialen Handeln (vgl. Seemannssprache, Vereinbarkeit von Familie und Beruf) und von den ‚seemännischen Tugenden‘ (vgl. Mut) bis in die Religion (vgl. die Kulte von Meeresgottheiten, etwa Poseidon) und in besondere ‚Aberglaubens‘-Formen (am bekanntesten wohl der Klabautermann).
Heutige Fragestellungen
Heutige Fragestellungen der Maritimen Soziologie beziehen sich auf Bereiche, bei denen die soziologische Feldforschung bislang nahezu ausschließlich auf festländische Untersuchungsgegenstände ausgerichtet war, so dass ihre Ergebnisse bei maritimen Problemlagen zu viele Fragen offen lassen. Sie beziehen sich demgemäß:
- auf Schiffsbesatzungen als „totale Institutionen“, auf Heuerkämpfe (vgl. Abb. rechts),
- auf Reedereien, Werften, seegehende Fabriken, ‚Weiße Industrie‘ (Seebäder, Kreuzfahrten), Seebestattungswesen, Entsorgung auf See,
- auf das Seenotrettungswesen (vgl. auch Triage),
- auf den organisierten Überflutungsschutz an Land (vgl. Deichbau),
- auf Seerechtsprechung, Seeämter, Schifffahrts- und Strompolizei,
- auf kulturelle Auswirkungen der Seefahrt auf Wissenschaften und Künste (vgl. z. B. Schiffbau, Marinemalerei).
Siehe auch
- Soziologie
- Allgemein
- Christliche Seefahrt, Meuterei, Schanghaien, Kielholen, Schiffstaufe, Äquatortaufe
- Schiffsbesatzung; Matrose, Segelmacher, Maat, Steuermann; Kapitän, Admiral
- Kykladenkultur, Wikinger, Piraterie, Seemacht, Seeherrschaft, Navalismus
- Seeversicherung, Bodmerei
- Wellenreiten, Admiral’s Cup, Einhandsegler
- Warft, Matrosenanzug
- Odyssee, Argonautensage, Shanty, Seefahrt ist not, Das Totenschiff, Seemannsgarn
- Marinemalerei, Kapitänsbild (siehe Abb. rechts)
- Hamburger Ebb’ und Flut, Der Fliegende Holländer, La Paloma
Literatur
- Norbert Elias: The Genesis of the Naval Profession. University College Dublin Press, Dublin 2007, ISBN 978-1-904558-80-4
- Ralf Lisch: Totale Institution Schiff, Berlin: Duncker und Humblot, 1976, ISBN 3-428-03664-6
- Bronislaw Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. 2., unveränd. Aufl. Klotz, Eschborn bei Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-88074-450-5. (dt. Übers.; Neuausg. der 1922 erschienenen Erstausg.)
- Peter Munch: Sociology of Tristan da Cunha. Results of the Norwegian Scientific Expedition to Tristan da Cunha 1937-1938. Norske videnskaps-akademi, Dybwad, Oslo 1945.
- Klaus R. Schroeter: Entstehung einer Gesellschaft. Fehde und Bündnis bei den Wikingern. Reimer, Berlin 1994, Schriften zur Kultursoziologie Nr. 15, ISBN 3-496-02543-3. (zgl. Phil. Diss, Univ. Kiel 1993)
- Heide Gerstenberger, Ulrich Welke (Hrsg.): Das Handwerk der Seefahrt im Zeitalter der Industrialisierung. Hrsg. Temmen, Bremen 1995, ISBN 3-86108-252-7. (Fachaufsätze) (Die Beiträge wurden auf einer Konferenz vorgetragen und diskutiert, die vom 5.-8. Mai 1994 in der Universität Bremen durchgeführt wurde.)
- C. Bailey, S. Jentofy, P. R. Sinclair (Hrsg.): Aquaculture Development: Social Dimensions of an Emerging Industry. Westview Press, Boulder CO 1996. (engl.)
- Ulrich Welke: Der Kapitän. Die Erfindung einer Herrschaftsform. 1. Aufl., Westfälisches Dampfboot, Münster 1997, ISBN 3-89691-416-2. (zgl. Diss., Univ. Bremen 1996)
- Lars Clausen: Schwachstellenanalyse aus Anlass der Havarie der Pallas: Bericht der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein am 4. Mai 1999 erstattet. Hrsg.: Bundesverwaltungsamt – Zentralstelle für Zivilschutz, Bonn 2003, Serie: Zivilschutz-Forschung, N.F., Bd. 53; ISSN 0343-5164.
- Heide Gerstenberger, Ulrich Welke: Arbeit auf See. Zur Ökonomie und Ethnologie der Globalisierung. 1. Aufl., Westfälisches Dampfboot, Münster 2004, ISBN 3-89691-575-4. (Medienkombination: mit DVD)
- Nicole Gerarda Power: What Do They Call a Fisherman? Men, Gender, and Restructuring in the Newfoundland Fishery. Hrsg. Institute of Social and Economic Research St. John’s, Iser Books, St. John’s (Neufundland/Kanada) 2006, Schriftenreihe: Social and economic studies Nr. 69, ISBN 1-894725-02-6. (engl.)
Einzelnachweise
- ↑ Ferdinand Tönnies: Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg vor dem Strike 1896/97. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. 1897, Jg. 10, H. 2, S. 173–238. Vgl. Abb.
- ↑ Ferdinand Tönnies: Die Ostseehäfen Flensburg, Kiel, Lübeck. In: Die Lage der in der Seefahrt beschäftigten Arbeiter. Duncker & Humblot, Leipzig 1903, S. 509–614.
- ↑ Bronislaw Malinowski, Argonauts of the Western Pacific, 1922
- ↑ Franz Borkenau: Ende und Anfang. Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes. Stuttgart 1984.
Kategorien:- Spezielle Soziologie
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