Reizdarmsyndrom

Reizdarmsyndrom
Klassifikation nach ICD-10
K58.- Reizdarmsyndrom
Colon irritabile
Irritables Kolon
Reizkolon
K58.0 Reizdarmsyndrom mit Diarrhoe
K58.9 Reizdarmsyndrom ohne Diarrhoe

Reizdarmsyndrom o. n. A.

ICD-10 online (WHO-Version 2011)

In der Medizin (Gastroenterologie) bezeichnet der Begriff Reizdarmsyndrom (RDS) eine Gruppe funktioneller Darmerkrankungen, die eine hohe Prävalenz (Krankheitshäufigkeit in der Bevölkerung) haben und bis zu 50 % der Besuche beim Spezialisten ausmachen. Das Reizdarmsyndrom kann Symptome aller möglichen Darmerkrankungen nachahmen, ist jedoch, wenn diese Erkrankungen ausgeschlossen sind, ungefährlich. Synonyme Begriffe sind Irritables Darmsyndrom (IDS) bzw. Irritable Bowel Syndrome (IBS), Reizkolon, Colon irritabile und „nervöser Darm“.

Inhaltsverzeichnis

Symptomatik

Symptome des Reizdarmsyndroms sind Schmerzen oder Unwohlsein im Bauchraum zusammen mit einer Veränderung in den Stuhlgewohnheiten unter Ausschluss einer strukturellen oder biochemischen Ursache. Eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit des Darmes gegenüber mechanischen Reizen ist ein sehr sensitives, weniger spezifisches Zeichen des Reizdarmsyndroms. Je nach Charakter der Schmerzen und der Stuhlgewohnheiten spricht man auch vom spastischen Kolon. Das Reizdarmsyndrom kann in verschiedene Untergruppen klassifiziert werden, dazu gehören Diarrhoe-prädominantes (Durchfall), Obstipations-prädominantes (Verstopfung) Reizdarmsyndrom und Reizdarmsyndrom mit wechselnden Stuhlgewohnheiten. Typisch ist die Überlappung mit chronischen Beckenschmerzen (ursächlich ist dafür wahrscheinlich die Fehldiagnose durch den Gynäkologen), mit Fibromyalgie (chronische Schmerzen, geistige und körperliche Erschöpfung) und psychischen Erkrankungen.

Diagnose

Nach den Rom-II-Konsensus-Kriterien der American Gastroenterological Association und anderen medizinischen Gesellschaften kann ein Reizdarmsyndrom diagnostiziert werden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

innerhalb der letzten 12 Monate mindestens 12 Wochen, die nicht in Folge sein müssen, abdominelle Schmerzen oder Unwohlsein mit zwei der drei Eigenschaften:

  • 1. Linderung durch Stuhlgang
  • 2. Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlhäufigkeit
  • 3. Beginn der Schmerzen verbunden mit einer Veränderung der Stuhlkonsistenz

Nebenkriterien, die die Diagnose unterstützen, aber für sich keine Diagnose erlauben, sind:

  • abnormale Stuhlhäufigkeit (z. B. mehr als 3 Stühle pro Tag oder weniger als 3 Stühle pro Woche)
  • abnormale Stuhlkonsistenz
  • abnormales Absetzen von Stuhl (z. B. starkes Pressen, imperativer Stuhldrang, Gefühl der unvollständigen Entleerung)
  • schleimiger Stuhl
  • Blähungen und Gefühl des Aufgeblähtseins

Die Diagnose setzt voraus, dass keine strukturelle oder biochemische Veränderung die Symptome erklären kann. Das muss ausgeschlossen werden durch:


Eine Reizschwellenbestimmung durch Barostat wird als diagnostischer Test diskutiert. Sensitivität und Spezifität sind jedoch noch nicht gut genug, um es als klinische Methode anwenden zu können.

Ebenfalls diskutiert und erprobt wird die Nahrungsmittelprovokation bei gleichzeitiger Diät nach Ausschluss einer pathologisch-klinischen Diagnose allergologischer und gastroerenterologischer Untersuchungen, basierend eher auf der Annahme, dass psychische Intoleranzen die Folge langanhaltender Erschöpfungszustände als Folge einer unentdeckten Nahrungsmittelunverträglichkeit sein können.

Pathophysiologie

Die Ätiologie (Ursache) des Reizdarmsyndromes ist weitgehend unklar. Veränderungen der Motilität, Immunreaktionen und psychische Faktoren sind vorgeschlagen worden. Einzig konsistenter Befund bei vielen Patienten sind erniedrigte Schmerzschwellen (Hyperalgesie) im Kolon. Bis zu 50 % der Frauen mit Reizdarmsyndrom berichten eine Missbrauchsgeschichte.

Etwa 25 % der Reizdärme entstehen nach einer Gastroenteritis (z. T. nach dem Einsatz von Antibiotika). In diesen Fällen werden eine verlängerte Immunreaktion oder neuroplastische Vorgänge auf Ebene des Rückenmarks als ursächlich diskutiert, allerdings basieren diese Annahmen bisher nur auf Tiermodellen.

Das Reizdarmsyndrom wird von vielen als ein Konglomerat von Störungen mit ähnlicher Symptomatik, aber unterschiedlicher Ätiologie angesehen. Wie bei vielen anderen Krankheiten wird über Ursachen spekuliert, unter anderem von Seiten der alternativen Medizin.

Nach neueren Erkenntnissen sollen die enterochromaffinen Zellen des Verdauungstrakts Aromastoffe in der Nahrung detektieren und so die Verdauung steuern.[1] Somit könnten Aromastoffe für Reizdarmprobleme mitverantwortlich sein.

Behandlung

Bei günstiger Symptomatik kann die Behandlung auf eine Diätberatung beschränkt bleiben. Bei verstopfungs-prädominanten RDS können Abführmittel eingenommen werden, bei diarrhoe-prädominantem Reizdarmsyndrom dagegen die Abfuhr hemmende Wirkstoffe. Die Wirksamkeit verschiedener anderer Ansätze, wie Pfefferminzöl, Ballaststoffe oder krampflösende Medikamente belegt eine neue Meta-Untersuchung bekannter Studien.[2]

Als empfehlenswert haben sich wasserlösliche Ballaststoffe wie z. B. Flohsamenschalen herausgestellt. Auch pflanzliche Wirkstoffe wie Pfefferminzöl oder hochkonzentrierter Extrakt aus Melissenblättern haben sich bei Reizdarm bewährt. Es sind die darin auf den Darm beruhigend wirkenden ätherischen Öle, ebenso wie Alkaloide aus Nachtschattengewächsen (Wirkstoff: Butylscopolamin).[2]

Neuere Präparate wie Alosetron und Tegaserod, die zurzeit (August 2011) in Deutschland noch nicht zugelassen sind, werden von der Pharmaindustrie heftig beworben, ihr Nutzen im klinischen Alltag muss sich jedoch erst zeigen. Der Hersteller Novartis hat in den USA den Verkauf des Medikamentes Zelnorm® (Wirkstoff: Tegaserod) gestoppt, das seit Juli 2002 zur Behandlung des Reizdarmsyndroms (Colon irritabile) zugelassen war. Grund ist eine aktuelle Auswertung von Studienergebnissen, die ein erhöhtes Risiko von kardiovaskulären (Herz-Kreislauf) Komplikationen gegenüber einem Placebo ergab.

Psychotherapie ist eine Behandlungsform für das Reizdarmsyndrom bei den Patienten, bei denen eine psychische Komorbidität besteht. Funktionelle Darmkrankheiten gehören zu den psychosomatischen Krankheiten und hängen von daher meist mit psychischen Prozessen zusammen. Trotzdem sind viele Patienten nicht bereit, eine solche Therapie zu beginnen. Es gibt unterschiedliche Psychotherapie-Formen, wobei die Wirkung oft unabhängig von der Therapieform ist (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Hypnose, Gesprächstherapie, Gruppentherapie). Auch der Gebrauch von Antidepressiva ist eine Möglichkeit, z. B. Amitriptylin in niedriger Dosierung. Sie unterdrücken die Schmerzen und wirken sich bei manchen Patienten positiv auf die Darmmotilität aus.

Epidemiologie

Die Punktprävalenz in westlichen Ländern beträgt ca. 10–20 % bei einer wesentlich höheren Lebenszeitprävalenz. Die Prävalenz in Indien, Japan und der Volksrepublik China ist ähnlich. In Thailand und dem ländlichen Südafrika ist das Reizdarmsyndrom weniger häufig. In westlichen Ländern (aber z. B. nicht in Indien oder Sri Lanka) haben Frauen ein höheres Risiko, am Reizdarmsyndrom zu erkranken, als Männer.

Die meisten Personen mit Reizdarmsyndrom suchen keine medizinische Hilfe auf. Es lässt sich bisher nicht vorhersagen, welche der Erkrankten Hilfe aufsuchen werden.

Prognose

Das Reizdarmsyndrom ist weder mit der Entwicklung ernsthafter Darmerkrankungen verbunden noch mit einer eingeschränkten Lebenserwartung vergesellschaftet. Dennoch kann die Lebensqualität im Einzelfall stark eingeschränkt sein u. a. durch die ständigen Schmerzen, unangenehme Stuhlgewohnheiten, Krankschreibungen und durch die Entwicklung sozialer Phobien.

Siehe auch

Referenz

  • Thompson WG, Longstreth GL, Drossman DA et al. (2000). Functional Bowel Disorders. In: Drossman DA, Corazziari E, Talley NJ et al. (eds.), Rome II: The Functional Gastrointestinal Disorders. Diagnosis, Pathophysiology and Treatment. A Multinational Consensus. Lawrence, KS: Allen Press.

Quellen

  1. Nase im Darm. Meldung bei Scienceticker.info vom 12. Juni 2007
  2. a b Ford AC et. al. Effect of fibre, antispasmodics, and peppermint oil in the treatment of irritable bowel syndrome: systematic review and meta-analysis. BMJ 2008;337:a2313 PMID 19008265

Weblinks

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