Venezianische Epigramme

Venezianische Epigramme
Goethe

Venezianische Epigramme sind Sinngedichte von Johann Wolfgang von Goethe. Im Frühjahr 1790 in Venedig nach dem Vorbild des Martial niedergeschrieben, kommentiert der Autor darin verdrossen bis bissig europäische Zustände und Zeitgeschichte. Goethe publiziert die Mehrzahl jener Bonmots und Spottgedichte anonym und „entschärft“ in Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1796.

Inhaltsverzeichnis


Venedig

Der überwiegend brummige, unfreundliche Ton der Epigramme wird von Goethe in seinem Brief, den er am 10. Juni 1796 aus Weimar an Schiller schreibt, mit Haß motiviert. Goethe weilte ein Jahr zuvor wider Willen in dem italienischen Stein- und Wasserneste. Die Abneigung geht aus dem Brief vom 15. April 1790 aus Venedig an Herder hervor. Seine Herzogin will kommen. Er kann nicht weg.

Stichwörter

Zahlen zwischen 1 und 103 verweisen auf das betreffende Epigramm.

Buch

59 „Seid doch nicht so frech, Epigramme!“ Warum nicht? Wir sind nur
Überschriften: die Welt hat die Kapitel des Buchs.

Alle, die über Gott und die Welt schreiben, sind nach Goethe weiter nichts als Tintenkleckser, und ihr Buchwissen hat nicht immer Bezug zur Wirklichkeit. Das Geschreibsel dringt nicht besonders tief in die wirkliche Welt vor.

Christentum

52 Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre!
Kennt er nur einmal die Welt, wird der Betrogne der Schelm.

Goethe führt diesen blasphemischen Frontalangriff im Musen-Almanach anonym.

Dichter

29 Vieles hab ich versucht: gezeichnet, in Kupfer gestochen,
Öl gemalt, in Ton hab ich auch manches gedruckt,
Unbeständig jedoch, und nichts gelernt noch geleistet;
Nur ein einzig Talent bracht ich der Meisterschaft nah:
Deutsch zu schreiben! Und so verderb ich unglücklicher Dichter
In dem schlechtesten Stoff leider nun Leben und Kunst.

Goethe malt übertrieben schwarz, wenn er sich einen stümpernden Dichter schimpft. Er ist doch unserer Größten einer.

Elitisierung

15 …Werke des Geists und der Kunst sind für den Pöbel nicht da.

Bedeutende Entwicklungen werden nach Goethes Überzeugung von auserwählten Menschen getragen.

Farbenlehre

78 Weiß hat Newton gemacht aus allen Farben. Gar manches
Hat er euch weisgemacht, das ihr ein Säkulum glaubt.

Der Naturforscher Goethe kann nicht an das Newtonsche Superpositionsprinzip, nach dem alle Regenbogenfarben superponiert, das weiße Sonnenlicht ergeben, glauben.

Französische Revolution

50 Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider:
Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich.
Willst du viele befrein, so wag es, vielen zu dienen.
Wie gefährlich das sei, willst du es wissen? Versuch’s!

Goethe war kein Liberaler. Er war das Gegenteil.

Fürstenlob

34b Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine;
Kurz und schmal ist sein Land, mäßig nur, was er vermag…

Goethe muss seinen Mäcen auch einmal loben.

Fürstenschelte

56 Fürsten prägen so oft auf kaum versilbertes Kupfer
Ihr bedeutendes Bild: lange betriegt sich das Volk…

Goethe hat vor keinem Respekt – weder vor Gott noch vorm Fürsten.

Geheimnis, Gott, Mensch

65 Ist denn so groß das Geheimnis, was Gott und der Mensch und die Welt sei?
Nein! Doch niemand hörts gerne: da bleibt es geheim.

Die Welt, darin der Mensch und der von ihm erfundene Gott sind nach Goethe nichts Besonderes. Dabei möchte er es bewenden lassen.

Heimweh

103 Und so tändelt ich mir, von allen Freunden geschieden,
In der Neptunischen Stadt Tage wie Stunden hinweg.
Alles, was ich erfuhr, ich würzt es mit süßer Erinnrung,
Würzt es mit Hoffnung: sie sind lieblichste Würzen der Welt.

Goethe schätzt, was er in Weimar zurückgelassen hat. Er freut sich wehmütig auf die Heimkehr.

Memento

53 Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögens bedenken!
Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr!
Große gingen zugrunde; doch wer beschützte die Menge
Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.

Als erklärter Gegner der Französischen Revolution malt Goethe den Deutschen das Schreckgespenst des Umsturzes hin.

Mensch, Hund

73 Wundern kann es mich nicht, daß Menschen die Hunde so lieben;
Denn ein erbärmlicher Schuft ist, wie der Mensch, so der Hund.

Goethe wurde vom Menschen arg enttäuscht.

Naturforscher

77 „Mit Botanik gibst du dich ab? mit Optik? Was tust du?
Ist es nicht schönrer Gewinn, rühren ein zärtliches Herz?“
Ach, die zärtlichen Herzen! ein Pfuscher vermag sie zu rühren.
Sei es mein einziges Glück, dich zu berühren, Natur!

Es ist immer wieder die Frage: Womit vergeudet der Mann in den besten Jahren seine überschüssigen Kräfte? Goethe möchte um das schöne Geschlecht einen Bogen machen. Er forscht lieber.

Paul Veronese (*1528; †1588): Das Gastmahl im Hause des Levi

Pflastermüdigkeit

36 Müde war ich geworden, nur immer Gemälde zu sehen,
Herrliche Schätze der Kunst, wie sie Venedig bewahrt.
Denn auch dieser Genuß verlangt Erholung und Muße;
Nach lebendigem Reiz suchte mein schmachtender Blick.
Gauklerin, da ersah ich in dir zu den Bübchen das Urbild,
Wie sie Johannes Bellin reizend mit Flügeln gemalt,
Wie sie Paul Veronese mit Bechern dem Bräutigam sendet,…

Die venezianische Gauklerin Bettine erscheint dem Leser als zweite Mignon.

Schattenseiten

Francesco Guardi (*1712; † um 1793): Die Ausfahrt des Bucentaur zum Lido
24 Sankt Johannes im Kot heißt jene Kirche: Venedig
Nenn ich mit doppeltem Recht heute Sankt Markus im Kot.

Wie sich die Zustände ändern! Im 21. Jahrhundert ist mittlerweile selbst Goethes Deutschland kotbedeckt.

Sprache

76 Was mit mir das Schicksal gewollt? Es wäre verwegen,
Das zu fragen; denn meist will es mit vielen nicht viel.
Einen Dichter zu bilden, die Absicht wär ihm gelungen,
Hätte die Sprache sich nicht unüberwindlich gezeigt.

Goethe tut eine Binsenwahrheit kund, hinter die jeder Skribent selber kommt: Die Sprache ist stärker als er.

Widerwille

66 Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
Duld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider,
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und †.

Goethe, der direkte Nachfahre der Aufklärer Diderot und Voltaire, bekennt seinen Atheismus.

Zucht

4 …Leben und Weben ist hier, aber nicht Ordnung und Zucht…

Goethe kann Unordnung nicht leiden.

Rezeption

  • Goethes Italiensehnsucht ist anno 1790 verflogen, muss Friedenthal konstatieren.
  • Boyle gibt einen umfassenden Themenüberblick und streift priapische Epigramme Goethes.
  • Wilpert stuft die Venetianischen Epigramme als inhomogenes Nebenwerk ein, das nicht nur günstig und wohlwollend aufgenommen wurde.
  • Conrady geht auf Goethes Beobachtung der venezianischen Gauklerin Bettine (Epigramme 36 bis 47) und auf Goethes Lobdichtung ein.

Briefe

„Hier schick’ ich ein Blatt Epigramme, die von meinem Dasein zeugen mögen; übrigens hab’ ich nicht viel zu sagen. Ich studire die venetianische Malerschule von vorne herein fleißig durch und habe daran viele Freude; auch präsentiren sich mir allerlei Resultate und Bemerkungen, wo nicht ganz neue, doch von neuen Seiten. Ich bitte Euch, die Freunde vielmals zu grüßen und die Epigramme ihnen mitzutheilen. Dem Herzog hab’ ich eins besonders geschickt; das laßt Euch auch zeigen. Der Herzogin ist den 10. dieses von Neapel hinweg, und will zu Ende des Monats hier sein. Ich werde bis zu dieser Zeit meiner Erlösung aus diesem Stein- und Wasserneste noch mancherlei Unterhaltung finden. Indessen verlang’ ich sehr nach Hause. Noch hab’ ich keine Briefe weder von Euch noch von sonst jemand.“

– Brief Goethes vom 15. April 1790 aus Venedig an Herder

„Hier sende ich einige Epigramme, sie neigen sich mehr nach der Martialischen als nach der bessern griechischen Manier.“

– Brief Goethes vom 21. Oktober 1790 aus Venedig an Christian Gottfried Körner

„Hier folgen die versprochenen Epigramme, es sind doch dreyßig an der Zahl! leider ist auch hier der Haß doppelt so stark als die Liebe.“

– Brief Goethes vom 10. Juni 1796 aus Weimar an Schiller

Literatur

Quelle
  • Johann Wolfgang von Goethe: Poetische Werke, Band 1. S. 181–198. Phaidon Verlag Essen 1999, ISBN 3-89350-448-6
Sekundärliteratur

Geordnet nach dem Erscheinungsjahr

  • Richard Friedenthal: Goethe – sein Leben und seine Zeit. S. 348–350. R. Piper Verlag München 1963
  • Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. 1: 1749–1790. S. 760–766. München 1995, ISBN 3-406-39801-4
  • Gero von Wilpert: Goethe-Lexikon. S. 1108–1109. Stuttgart 1998, ISBN 3-520-40701-9
  • Karl Otto Conrady: Goethe – Leben und Werk. S. 523–525, 542–546. Düsseldorf und Zürich 1999, ISBN 3-538-06638-8

Weblinks


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